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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Friedrich Fiedler

in Blicke auf Menschen 14.05.2024 23:00
von Taxine • Admin | 6.689 Beiträge

Friedrich Fiedler
"Aus der Literatenwelt - Charakterzüge und Urteile"

Fiedler wurde als Kind von Wolgadeutschen in St. Petersburg geboren und hat früh seine Liebe zur russischen Literatur entdeckt. Er studierte dort Literaturwissenschaften und übertrug unzählige Werke ins Deutsche, hier vor allem die russischen Dichter. Genauso hat er seine Übersetzungen auch an Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann, Paul Heyse, Hermann Bahr oder Sacher-Masoch geschickt, um wiederum engeren Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Besonders bekannt ist er durch das Fiedler-Museum in St. Petersburg geworden, das seine private Wohnung war. Nicht nur hatte er vier Zimmer voller deckenhoher Regale und Bücher, auch war er ein leidenschaftlicher Sammler und trug Autogramme, Fotos, Originalmanuskripte, Briefe, Portraits und unzählige Kuriositäten zusammen:

"Eine eigene Abteilung des Museums bestand aus sogenannten »Schriftstellerreliquien«. Da gab es z.B. die Pfeife, aus der Puschkin geraucht hatte, das Stehpult Tschernyschewskijs, die Geldbörse Tschechows, die Schreibfedern Gorkijs und Leonid Andrejews, die Totenmaske Nietzsches und vieles andere mehr. Fiedler sammelte daneben auch so kuriose »Andenken« wie für Jubiläen angefertigte Konfektschachteln, Flaschenetiketten mit Abbildungen von Schriftstellern, Erdklumpen von Dichtergräbern oder Splitter von deren Kreuzen sowie auch die (...) Papirossy, die der eine oder andere Literat geraucht hatte. " (Vorwort)

Sein Tagebuch lag lange unentdeckt im Archiv des Puschkinhauses und berichtet von den vielen Begegnungen mit Schriftstellern, darunter Tschechow, Dostojewski, Leonid Andrejew, Sologub, Mereschkowski, Sinaida Hippius, Gorkij und viele andere (sowohl in Russland als auch in Deutschland). Wie er zu seiner eindrucksvollen Sammlung gekommen ist, erklärt u. a. der Journalist Edgar Mesching, der Fiedler besucht hatte:

»Nächst dieser Hauptsammlung beherbergt das Museum noch eine eigenartige Bibliothek, die aus den Dedikationsexemplaren besteht. Fiedler begeht nämlich alljährlich sein Geburtstagsfest mit einem Abendessen, zu dem sich das ganze literarische Petersburg einzustellen pflegt. Und es ist seit Jahren Tradition geworden, daß jeder Gast dem liebenswürdigen Herrn des Hauses als Geburtstagsgeschenk seine im Laufe des Jahres veröffentlichten Bücher überreicht. So hat sich mit der Zeit diese merkwürdige Bibliothek gebildet«.

Dazu hat er, wie man in seinen Tagebüchern erfährt, bei jedem seiner Besuche um einen Eintrag in sein Album gebeten, von denen sich dann einige angesammelt haben. Im Vorwort heißt es weiter:

"Sowie er ein Buch geschenkt bekam, bat er den Autor gewöhnlich darum, die seiner Ansicht nach gelungensten Stellen hervorzuheben. Viele Bücher versah er auch selbst mit Anmerkungen, Repliken oder sonstigen Kommentaren."

Diese einzigartige Sammlung ging in den Wirren der Revolutionszeiten bedauerlicherweise verloren. Der Millionär Burzew kaufte sie für viel Geld nach dem Tod Fiedlers dessen Tochter ab, verlor dann aber sein Haus samt Bücher und Sammlung an die Bolschewiki. Das einzige, was geblieben ist, sind Fiedlers Aufzeichnungen, und auch diese erinnern an den kuriosen Geschmack des Sammlers. Es ist ein merkwürdiges und originelles Dokument, so ganz anders als die bekannten Tagebücher von Schriftstellern, mit eigenem Gesicht, einen ganz eigenen Stil und Charakter. Durch die vielen Begegnungen zeigt es oft die persönlichen Sorgen der von ihm verehrten Menschen, ihre Ansichten und Äußerungen über Literatur oder über wen sie alles lästern. Es enthält Informationen, die man aus keiner anderen Quelle erfahren kann, beispielsweise was die Dichter trugen, wie viele Gläser sie kippten, wie ihr Arbeitszimmer aussah und welche Neigungen sie hatten.

Tschechow hat Fiedler als ein "unverlöschliches Gotteslämpchen vor dem Bilde der russischen Literatur" bezeichnet. Seine Aufzeichnungen umfassen die Jahre 1888 bis 1917, mit vielen Rückblicken auf davor liegende Zeiten, die er aus anderen Tagebüchern zitiert und die authentisch die Eigenheiten der Schriftsteller einfangen, denen er begegnet. Den einzigen Schriftsteller, den Fiedler zu seinem Bedauern nie persönlich kennenlernte, war Tolstoi.

Hier einige Auszüge:

Zitat
Heute Abend war ich in der Totenkammer des Hospitals des »Roten Kreuzes«. Garschin liegt in süßem Schlummer und scheint ein mildes Traumbild zu sehen; seine Züge sind wie verklärt; keine Spur des Wahnsinns und der Leiden im Gesicht. Nie küß’ ich Tote; ihn jedoch küßte ich auf die Stirn (soweit ich mich entsinnen kann, eine Leiche mit den Lippen berührt zu haben, ist es die zweite: die erste war vor sieben Jahren - Dostojewksij).

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Ein Herr Christianowitsch erzählte folgendes: "Ich hatte einen Hund, der so jung war, daß er noch keine Zähne besaß. Pissemskij war eben aus dem Auslande zurückgekehrt und besuchte mich. Das Hündchen bellte ihn an, er sprang entsetzt auf den Diwan und rief atemlos: Diese verfluchten Hunde! ... Wie sicher hab’ ich mich in Deutschland gefühlt! ... Dort laufen sie alle mit Maulkörben herum ... In Rußland aber sind die Maulkörbe nur für Schriftsteller bestimmt!"



Gleicher erzählt ihm auch folgendes:

Zitat
"Mit Gontscharow ist eine Unterhaltung unmöglich; entweder klagt er über seine Krankheit oder spricht von seinen Romanen. Dostojewskij predigte stets Toleranz und war der untoleranteste und neidischste Mensch von der Welt, der keine anderen Götter neben sich duldete. [...] »Niemand ist auf seinen Mitmenschen neidischer als der russische Schriftsteller!"
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Unter den Anwesenden erregte das größte Interesse Tschechow, der Vielgefeierte. Sein ganzes Wesen atmet Einfachheit und Natürlichkeit, doch auch sanft-ruhige Selbstbewußtheit. Ich fragte ihn, warum er nur immer Einakter schreibe: »Weil die größeren Dramen zu viel Zeit und Arbeit erfordern und eine sehr undankbare Sache sind. Den Erfolg eines Stückes beeinflußt oft sogar das Wetter: ist es kalt und feucht, so hustet das Publikum oben und unten - und das ist für die Schauspieler unerträglich« ... Petersburg liebt er weit mehr als Moskau, will aber doch nicht hierher übersiedeln, »um nicht aufzuhören, es zu lieben«.



Usw. usf. Tatsächlich könnte man sich hier blöde zitieren. Ich bin froh, dass ich durch Zufall auf dieses Buch gestoßen bin, ein faszinierendes Zeitdokument, mit sehr persönlichen Begegnungen, durch die man viel mehr über die echten Charaktere vieler bekannter Größen erfährt als in herkömmlichen Biografien und ebenso viel über den schönen Humor des Verfassers.

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(Alle Zitate stammen aus: Friedrich Fiedler "Aus der Literatenwelt", Wallstein Verlag)




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