HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Tezer Özlü
"Suche nach den Spuren eines Selbstmords"
"Ich wusste nicht, dass wachsen, alt werden bedeutet, sterben sehen."
Für dieses Buch gerate ich einmal wieder ins Schwärmen. Empfohlen hat es Özdamar in ihrer wunderbaren Autobiografie "Ein von Schatten begrenzter Raum" und dabei keinesfalls übertrieben. (Sie hat auch das Nachwort verfasst.) Das Werk gewinnt seine Spannung durch die melancholische Stimmung der Erzählerin und ihre Reise zu den Städten und Gräbern der von ihr verehrten Schriftsteller, hier vor allem Prag und Kafka, Triest und Svevo und zum Schluss Turin, wo sich Pavese im Zimmer 305 des Hotels Roma mit 22 Schlaftabletten das Leben nahm, liegend im Anzug auf dem Bett, die Schuhe ausgezogen. - "Ich verzeihe allen und bitte alle um Verzeihung." - Özlü findet im Hotel einen renovierten Raum vor, der ein zweites Zimmer offenbart, in dem noch der alte Schrank, ein Nachtisch und das Bett stehen. Es wirkt auf sie wie ein Grab, wie auch Turin ähnliche Gefühle bei ihr auslöst. "Die Stadt Turin ist das irdische Jenseits."
Immer mehr wird ihre Reise eine Art Liebesdienst an Pavese, um ihn nachträglich zu beschützen, ihm, den Einsamen, ein Denkmal zu setzen, wo ihr einer der Verleger bei Einaudi, den sie nicht umsonst Geschäftsmann nennt, hinwirft, Pavese wäre nun einmal kein Dante gewesen, weshalb sein Arbeitszimmer auch nicht erhalten blieb.
"Niemand kann ahnen", sagt Özlü, "dass ich in seinem gelungenen Selbstmord meinen nicht gelungenen erkenne". Und "Die Kluft zwischen den Toten und den Lebendigen ist eine der größten Tragödien, die man fast nicht überwinden kann."
So ist es, denn all die, die längst nicht mehr sind, wie auch immer sie aus dem Leben geschieden sind, haben uns etwas von sich selbst hinterlassen, etwas Persönliches, das über das Eigene hinauswächst und uns hilft, das Leben zu verstehen. Und wo schon der normale Tod tragisch ist, bleibt der Selbstmord ein besonderes Drama, gerade, wenn es für Menschen zur Lösung wurde, die mit dem Schreiben über das Leben reflektierten und am Ende doch keinen anderen Ausweg mehr akzeptierten.
Özlüs Reise führt in jene Städte, die Teil des jeweiligen Lebens und Todes der genannten Schriftsteller wurden, sie führt aber auch in die Tiefen der eigenen Abgründe. Teilweise sind ihre Beobachtungen so wunderbar, dass man sie ans Herz drücken möchte, z. B. als sie, die alleine reist und viele, zumeist jüngere Männer trifft und mit ihnen die Nacht verbringt, vor einem Alten, der dasselbe von ihr will, flieht. Sie erkennt: "In seinen Augen war die Einsamkeit schon zur Krankheit geworden."
Oft spricht sie von sich als alte Frau, räumt aber auch ein, sich alterslos zu fühlen. Ich war erstaunt, als ich erfuhr, dass sie auf dieser Reise gerade einmal 39 Jahre alt war. Nur vier Jahre später, 1986, starb sie an Brustkrebs. Ihr Wesen schien mir sehr auf den Tod fixiert, auf das Unerträgliche des Leidens in der Welt. Das Buch ist eine fesselnde Lektüre, vor allem für Literaturliebhaber, die jene drei Schriftsteller ebenfalls verehren.
(Alle Zitate stammen aus der Ausgabe: Tezer Özlü "Suche nach den Spuren eines Selbstmordes", Suhrkamp Verlag)

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