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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Stanislaw Lem

in Die schöne Welt der Bücher 03.09.2007 22:29
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Über sich selbst sagt er:
"Man weiß ja, Lem hat die Enzyklopädie mit Löffeln gefressen, man braucht ihn nur zu schütteln, und es stiebt von Logarithmen und Formeln..."

Und genau das finde ich in seinen Büchern immer wieder. Taucht man in sie hinein, muss man tatsächlich einen Schalter umlegen, von einer Auffassungsgabe in eine konzentrierte kippen.

Zitat von Lem in einem Interview
... ich hatte immer das Bewußtsein, daß man nur über das schreiben und reden darf, was von der menschlichen Vorstellungskraft verstanden werden kann. Es wäre ganz leicht, etwas total Unverständliches zu schreiben.


1921 in Lemberg geboren, im März 2006 (wir erinnern uns alle) in Krakau gestorben, kann man ihn schon als Philosophen bezeichnen. Seine Werke reihen sich zwar in der Science Fiction Abteilung ein, doch entdeckt man immer wieder ein enormes Wissen und die Tiefe des Denkens, einen Schriftsteller eben, der nicht eben mal lediglich eine Geschichte erzählen will. Hier halten sich Mensch und Wissenschaft die Balance, und seine Ideen hauen mich persönlich immer wieder auf das Neue um.
Eines meiner Lieblingsbücher ist "Der futurologische Kongreß", aber auch "Also sprach Golem". Auf diese Werke werde ich noch eingehen, aber im Moment lese ich gerade "Die Stimme des Herrn", darum nun ein kurzer Überblick:

Es geht um einen Wissenschaftler, der sich entschließt, trotz der vielen Pseudoberichte einen eigenen Bericht zu verfassen, der das damalige Projekt beschreibt, das sich damit befasste zu klären, ob der entdeckte pulsierende Neutrinostrahl nun ein rein physikalisches Phänomen oder gar eine interstellare Botschaft einer höheren Zivilisation aus dem All sei. Dieser Strahl wird von den verschiedenen Forschern ganz einfach "Die Stimme des Herrn" genannt. Von vorneherein erfährt man, dass das Projekt gescheitert ist, was es auch so schwierig macht, davon zu berichten, da das Ganze ja nicht von Erfolg gekrönt und somit für alle erfassbar als Bedingung in die Weltgeschichte eingegangen ist. Es bleibt somit immer etwas nicht Beweisbares.

Für viele Berichte, die sich mit dem Thema befassten, gilt folgendes:
Zitat von
Es kommt mitunter vor, (…) dass eine sich zwar der Wahrheit nähernde, doch billige Vereinfachung gerade soviel taugt, wie eine Lüge.


Der Ich-Erzähler stellt so schön fest:
Zitat von
Worüber verfügen wir? Über ein Rätsel und einen Dschungel an Vermutungen. Aus dem Rätsel brachen wir bruchstückchenweise Tatsachen heraus, doch als es nicht mehr wurden, als sie sich nicht zu einem festen Massiv ausbauen ließen, das imstande gewesen wäre, unsere Vermutungen zu korrigieren, begannen letztere allmählich die Oberhand zu gewinnen, und am Ende irrten wir in einem Walde von Vermutungen umher, die ihrerseits auf Vermutungen basierten. Unsere Konstruktionen wurden immer luftiger und kühner, waren immer weiter entfernt vom Hinterland des Wissens, das wir besaßen – wir waren bereits, es umzustoßen, die allerheiligsten Gesetze der Physik und der Astronomie über den Haufen zu werfen, nur um in den Besitz des Geheimnisses zu gelangen.


Und alles darüber hinaus, zeigt:
Zitat von
… die Informationstechniken haben bisher einzig dazu geführt, dass man am deutlichsten den vernimmt, der am lautesten brüllt, und brülle er auch noch so falsch?


Die ersten Kapitel sind eine herrliche Auseinandersetzung von Mensch und Sein.
Über das Genie sagt der Ich-Erzähler:
Zitat von
Genialität, das ist nie aufhörendes Zweifeln – vor allem anderen.
Jeder einzelne von den Großen hat sich jedoch dem Druck der Allgemeinheit gebeugt, hat die ihm zu Lebzeiten errichteten Denkmäler nicht zertrümmert und damit sich selbst nicht in Zweifel gezogen.



Die Phantasie und ihr Zusammenbruch:
Zitat von
Das Kind ist von vielen virtuellen Welten umgeben, der Pascalsche Kosmos, dieser im uhrwerkartigen Gang erstarrte, mäßig bewegliche Leichnam, ist ihm völlig fremd. Die versteinerte Ordnung der Reife zerstört später jenen ursprünglichen Reichtum.


Und über uns selbst? Was erfahren wir da?
Zitat von
Wenn wir nichts so wenig kennen wie uns selbst, dann wohl deshalb, weil wir immer wieder nach Wissen darüber verlangen, was den Menschen geformt hat, das es in Gestalt von Information nicht gibt, und wir, ohne uns darüber klar zu werden, von vornherein ausschließen, dass eine Verquickung von x-beliebigen Zufällen und allertiefster Notwenigkeit denkbar wäre.


Bald mehr dazu, denn noch ist alles unklar und schwammig.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 10.09.2007 13:11 | nach oben springen

#2

RE: Stanislaw Lem

in Die schöne Welt der Bücher 03.09.2007 22:57
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von Taxine
ob der entdeckte pulsierende Neutrinostrahl nun ein rein physikalisches Phänomen oder gar eine interstellare Botschaft einer höheren Zivilisation aus dem All sei.


Das erinnert mich schwach an eine Geschichte um den Pilot Pirx. Er sieht auf dem Bildschirm einen weißen Fleck und glaubt, es handele sich um ein unbekanntes Flugobjekt, dabei war es ein Computerfehler. Tolle Idee. Habe ich mal so gerne gelesen, diese Geschichten.

Liebe Grüße
Martinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#3

RE: Stanislaw Lem

in Die schöne Welt der Bücher 04.09.2007 23:16
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
"Die Stimme des Herrn" wirkt auf mich ähnlich wie "Also sprach Golem", komplexer, themenbezogener, dabei weniger Geschichte, als wissenschaftliche Auseinandersetzung. Man liest sozusagen mit zusammengezogenem Kopf.

Dann will ich mal etwas zusammenfassen.
Das Übersetzen einer Botschaft gestaltet sich schwierig, weil jede Sprache an ihrem „Boden“ haftet. Wenn nun verschiedene Zivilisationen aus verschiedenen Welten aufeinander treffen, so kann ein gegenseitiges Verständnis nur in der Mathematik (die reine Sprache) ermöglicht werden. Die Mathematik kann aber lediglich aussagen, dass dort jemand ist, dort existiert, nicht wie er ist, noch was er zu sagen hat.
Wenn man bedenkt, wie viele verschiedene Bedeutungen und Deutungen alleine eine Sache, gar ein Wort hat, dann wird das Übersetzen einer völlig fremden Sprache, die aus völlig anderen, unbekannten Gegebenheiten entstanden ist, ein Ding der Unmöglichkeit.
Und dann kommt auch noch heraus, dass die Botschaft scheinbar kein Anfang und kein Ende hat, man kann sie also an beliebiger Stelle anfangen zu lesen. Das macht die Orientierung schwer. Zudem scheint die Nachricht für einen Empfänger zu sein, der fortgeschrittener ist, als der Mensch.

So stellt sich nach einigen langen Berechnungen heraus, dass es sich um eine in sich geschlossene Botschaft handelt, einen „Kreisprozess“, den man im naturwissenschaftlichen Bereich allgemein „Leben“ nennt. Die Botschaft ist also lebendig, und die Physiker und Chemiker gewinnen aus der Formel eine halbflüssige Substanz, die sich verändert und dem Anschein nach wie ein Perpetuum mobile verhält, später dann in nächster Erkenntnis aus einer Kernreaktion des „kalten Typs“ seine Energie gewinnt und nicht abgibt, sondern für den Eigenverbrauch verwendet.
Man muss sich hier auch wieder vor Augen führen, dass dieses Plasma, diese gewonnene Substanz nur das ist, was aus der Formel übersetzt, das heißt erfasst werden konnte. Die Meinungen teilen sich hier. Die einen Forscher rechnen damit, dass, wenn man die Botschaft ganz entschlüsseln könnte, ein lebendiges Wesen entstehen würde, das von einem einzigen Absender per Neutrinostrahlung zu den irdischen Empfängern „herübertelegrafiert“ worden wäre. Andere denken, es handelt sich nicht um einen ausgereiften Organismus, als vielmehr um eine Art Keimzelle, ein Ei, das sich erst entwickeln würde. Die nächsten Forscher vertreten eine radikal abweichende Auffassung, dass hier kein Code für eine Person, sondern für ein Werkzeug gesandt wurde. Wiederum andere ahnen hier ein überreichtes „Hirn“, ein technologisches Geschenk. Durch diese Theorien entstehen natürlich auch solche Ängste, dass das fertige "Etwas" entweder bösartig oder freundlich gesinnt sein könnte.
Der Ich-Erzähler, der Mathematiker, dagegen glaubt, dass es sich mit dem Code verhält, als ob man inmitten von Neandertalern eine Bibliothek errichten würde, warum der Mensch mit diesem Code auch nichts Sinnvolles anzufangen wüsste. Durch diese Ansicht nennt man ihn bald den Nihilisten.
Schließlich entdecken die Forscher, dass auch die Form der Übertragung seinen Inhalt birgt, dass der Neutrinostrahl „lebensfreundlich“ ist, also in geringen Mengen schon immer auf die Erde strahlte, und einen Schutz, einen unsichtbaren Panzer bei Lebewesen und Teilchen bewirkte.
Zitat von
Das Sternensignal schuf nicht selbst Leben, sondern es unterstützte es nur, in seiner allerfrühesten, allerelementarsten Phase, weil es den Zerfall dessen, was sich einmal verbunden hatte, erschwerte.

Nun gilt es herauszufinden, ob zwischen der schleimigen Substanz und der mit Sympathie für das Leben behafteten Strahlung ein Zusammenhang besteht.

Ich muss mir Lem immer ein bisschen übersetzen. Es ist eine Reise durch alle möglichen naturwissenschaftlichen Denkgebiete, regt den Geist an, führt mich dabei in aufschlussreiche „Schwingungen“.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 04.09.2007 23:33 | nach oben springen

#4

RE: Stanislaw Lem

in Die schöne Welt der Bücher 09.09.2007 18:12
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Nun weiß ich auch, warum es „Die Stimme des Herrn“ heißt, weil alles letztendlich eine metaphysische Deutung bleibt, nichts, was sich über diese Dimensionen an Zeit für den Menschen erfassen lässt. Ob nun Nabelschnur, Botschaft oder Übertragung einer längst zerstörten Zivilisation, ob ein unwillkürlicher Test (wie der Atomtest der Menschen) oder sogar ein Ausscheidungsprozess, alles bleibt offen und im „Angesicht des Betrachters“.

Plausibel erscheint, dass der Neutrinostrahl nur die Verbindung zwischen den verschiedenen Universen ist, welche sich regelmäßig in der Wiederholung ausdehnen, umstülpen, einen Riss entstehen lassen, durch den dann besagter Strahl dringt. Der Strahl erschafft wiederum neues Leben, weil es den Kern des Immer-Da-Seins trägt, in seinem Inneren jene Moleküle der ewigen Erschaffung speichert und bewahrt. Der Strahl ist das Echo aller Welten. Durch das Umstülpen des Universums entsteht eine Antiwelt, bis diese sich zusammenzieht. Aber unter jeder Veränderung bleibt ein Bild zurück, eine Art „Nabelschnur“, in der sich noch ein Restchen nichterloschener Materie herumtreibt, die Glutreste des sterbenden Alls, es ist der Spalt zwischen den Räumen.

Trotzdem beharrt der Erzähler auf der Theorie der "guten Absicht", für die der Mensch in seinem Chaos einfach noch nicht bereit ist, glaubt an eine mächtige Botschaft, die in sich auch eine Art "Kindersicherung" enthält, falls sie auf Kreaturen trifft, die noch von ihrem Zorn geleitet werden, und so, auf der Suche nach einer möglichen Waffe, den Code unvollständig zusammensetzen und damit nicht brauchbar, nur als kleine Ahnung erfahren.
Zitat von
Die Absender hatten bestimmt nicht beabsichtigt, uns eine Büchse der Pandora zu schicken, aber wir hatten wie die Einbrecher ihre Schlösser beschädigt, hatten dem erbeuteten Inhalt all das aufgeprägt, was das Eigennützige, das Räuberische der irdischen Wissenschaft ausmachte, denn die Atomphysik hatte ja auch (…) gerade dort Erfolg gehabt, wo sich die Chance bot, die destruktivste Art von Energie zu gewinnen.
Deshalb hinkte die Kernenergiegewinnung immer noch hinter der Produktion von Bomben hinterher…


Und leider gilt:
Zitat von
Denn zerstören sei ganz einfach in jedem objektiven Sinne leichter – nach der Regel der geringsten Wirkung zum Beispiel, als etwas schaffen, denn die Destruktion stimme in ihrem Gradienten mit der Hauptrichtung der im ganzen Kosmos ablaufenden Prozesse überein, die Schöpfung hingegen müsse immer gegen den Strom schwimmen.

Und daran haftet der Mensch nun einmal, an seiner eigenen "Bequemlichkeit".

Wunderbare Studie, wunderbares Buch. Hat mir sehr gut gefallen!!!



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 10.09.2007 13:28 | nach oben springen


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