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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Andrej Wolos

in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 16:40
von Martinus • 3.195 Beiträge
Andrej Wolos, 1955 in Dushanbe, Hauptstadt Tadschikistans, geboren, erhielt für seinen Roman „Churramobod“ 1998 den russischen Anti-Booker-Preis. Der Autor ist Träger des russischen Staatspreises.

Im März diesen Jahres erschien

"Der Animator"

in deutscher Übersetzung. In futuristisch-grotesker Manier wird von einer modernen Beerdigungsdienstleistung erzählt, in der man als Animator, wenn man gut ist, offenbar viel Geld verdienen kann. Sergej Alexandrowitsch Barmin ist der größte Künstler unter den „Animatoren“. Richtig gehört, das ist Kunst.

Zitat von
Die Kunst des Animators besteht darin...das Potential der Noolumineszenz mit maximalem Effekt zu nutzen.


hm...was für ein Wort, ist aber einfach:

Zitat von
Heute...hat die Wissenschaft noch keine Antwort darauf, warum die Intensität der Noolumineszenz oder, wie man auch sagen könnte, des Krupizyn-Kraft-Leuchtens nicht nur von rein physikalischen Seite des Prozesses abhängt, sondern auch von der Persönlichkeit des daran beteiligten Animators...


Durch einen Einsatz von großer Einfühlung in die Seele des Toten bringt der Animator diese zum Leuchten. Zur Vorbereitung seiner Tätigkeit braucht er einen Informanten, der aus dem Leben des Verstorbenen erzählen kann. Auf diese Weise kann der Animator Gefühle des/der Toten nachemfinden und die Seele der Leiche zum Leuchten bringen. Das Licht wird in einem Kraftkolben gebündelt und gilt als Beweis für die Unsterblichkeit der Seele.

Der Kolben:

Zitat von
Er sieht aus wie ein siebenkantiger Bleistift von ungefähr vierzig Zentimeter Länge, besteht aus fliederfarbenen Titanglas, und seine Enden stecken zwischen den vergoldeten Wandplatten des Stromempfängers.


Wenn so ein Kolben auf dem Grabstein leuchtet, macht es sich gut. Barmin ist ein besonders begabter Animator, darum leuchten die Kolben von seinen Toten besonders hell.

Zitat von
...wenn es um die Verlängerung des menschlichen Lebens ginge oder um die tatsächliche Wiedererweckung von Toten, dann würde ich nachts nicht mehr schlafen, sondern nur noch Lichter in Kraft-Kolben entzünden. Aber leider, leider ist die Flamme nichts als ein Mittel zur Befriedigung der Eitelkeit: Der Kunde möchte, dass sein Kolben heller glüht als der seines Nachbarn, wärend der Animator (er hat natürlich noch andere Motive für seine Tätigkeit, aber das ist eins der wichtigsten) beweisen möchte, dass er seine Sache besser versteht als andere.


Und der beste Animator ist Barmin, bekannt wie ein Popstar.

Es wird dem (leicht)gläubigen Volk eine Unsterblichkeit der Seele vorgegaukelt. Diese Beerdigungsmaschinerie, so lässt sich doch hier schon vermuten, dient dem Zweck, dass damit nur Geld verdient wird, dass Volk sein Geld für etwas hergibt, was nichts taugt. Ein genialer Betrug. Mit religiösem Klimbim lassen sich Menschen leicht manipulieren. Uns wird in der Werbung und sonstwo auch alles mögliche versprochen. Schade um den, der alles glaubt.

Das als Einstieg.

Liebe Grüße
Martinus



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 16.08.2007 10:45 | nach oben springen

#2

RE: Andrej Wolos

in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 17:23
von larifant
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Diese Art von makaberer Groteske erinnert auf den ersten Blick an Sorokin (besonders: Ljod) oder an Kys von Tolstaja.
Oder denke ich das nur, weil es sich um zeitgenössische russische Literatur handelt?

Gruß,
L.

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#3

RE: Andrej Wolos

in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 17:23
von Taxine
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Danke, lieber Martinus, für den ersten Einblick.

Mal davon abgesehen, dass Sorokin in meinen Augen eher klobig schreibt, sehe ich die Ähnlichkeit zwischen "Ljod" und "Der Animator" durch diesen Ausschnitt von Martinus:

In Antwort auf:
Das Licht wird in einem Kraftkolben gebündelt und gilt als Beweis für die Unsterblichkeit der Seele.




Bei Sorokin ist es der Eis-Hammer, der die reine Seele "erlöst".
Ich finde aber diese Groteske von Wolos von der Idee besser.

Grüße
Taxine
zuletzt bearbeitet 15.08.2007 17:24 | nach oben springen

#4

RE: Andrej Wolos

in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 17:43
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo larifant,

Wegen den Themen der Esoterik und des Terrorismus verweist die SZ auf zeitgenössische Literatur in Russland. Andere spannen einen größeren Bogen von Gogol über Bulgakov.

Ja, Bulgakov wohl in der Hinsicht, da es bei Wolos u.a. um Bewusstseinskontrolle geht.

Die Wirkung der Sprache finde ich bei Bulgakov allerdings viel intensiver, bei Wolos geht alles viel leichter dahin, auch wenn eine Bombe im Bus explodiert.

Auf das Thema des Terrorismus im Roman komme ich morgen zu sprechen.

Liebe Grüße
Martinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#5

RE: Andrej Wolos

in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 21:26
von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo,

Natürlich verbirgt sich hinter diesem Roman ein wenig russische Vergangenheit und Gegenwart. So ist die umschriebene Beerdigungsindustrie ein späterer Ausläufer einer Forderung des russischen Philosophen Nikolaj Fjodorowitsch Fjodorow (1829-1903) nach der „Auferweckung der Toten.“. Einiges aus Fjodorows Lehre floss in „Die Brüder Karamasow“ ein.

Andrej Wolos fasst einen Teil der Lehre des Philosophen wie folgt zusammen:

Zitat von
Er lehnte den Tod ab, da er ihn für einen Fehler der Natur hielt. Für einen Fehler, weil seiner christlichen Überzeugung nach uns alle ohnedies die ontologische Auferstehung erwartet, die dem Jüngsten Gericht vorangeht. Was für einen Sinn hat also dieser örtlich und zeitlich begrenzte Tod? fragte der Philosoph. Die reinste Narretei! Solange die ontologische Auferweckung noch nicht stattgefunden hat, befassen wir uns doch mit der tellurischen, mit der Auferweckung von Menschenhand! Es sei unmoralisch, sagte Fjodorow, dass die Kinder sich des Lebens freuten, während ihre Väter Todesqualen erlitten und stumm im Grabe lägen. Sie müssten wiedererweckt werden, wiederholte er immer, und er betonte, dass diese Aufgabe die technischen Möglichkeiten der Menschheit nicht überschreite...


Diese Theorie lies Fjodorow auch außerplanetarisch Angedeihen, die Erde könne durch den Weltraum ziehen und die menschliche Zivilisation auf andere Gestirne ausbreiten. Diese Theorie nennt man „Kosmismus“ und hat sich übrigens in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in Russland wieder ausgebreitet. Deswegen also greift Wolos diese Theorie wieder auf.

Andrej Wolos geht auch auf die aktuelle Problematik des Terrorismus ein:

Zitat von
Wichtig ist, dass man so einen, wenn er was plant, schon im voraus einkassieren muss. Er denkt erst daran, einen Bombe zu legen, und man schnappt ihn sich. Dann hört all das auf. Und da gibt’s gar nichts zu diskutieren. Wir sind doch Animatoren, Serjoga! Komm, sag: Hast du schon mal versucht, in einen lebenden Menschen reinzugehen?


Jetzt bin ich aber gespannt, wie das funktionieren soll. Barmin glaubt gar nicht an das, was er tut, und dann soll er im Auftrag des staatliche Geheimdienstes in das Bewusstsein von potentiellen Terroristen eingehen, um Anschläge zu verhindern. Ich könnte mir vorstellen, dass der Autor über die Hilflosigkeit des Staates gegenüber den Terrorismus erzählen will. Nur eine Theorie von mir, man sehen.

Zum Aufbau des Romans möchte ich noch folgendes sagen:

Die Kapitel wechseln sich in Form einer Ich-Erzählung ( das lit. Ich ist Barmin) mit der Anamnese von Verstorbenen ab, die Barmin dann „animiert“. So erfahren wir den Werdegang eines Jungen, der mit 17 Jahren zu einem Selbstmordattentäter wird. In diesem Kapiel können wir einen Unterschied zu Sorokin sehen. Wolos skizziert den Anschlag mit wenigsten Worten, sogar ohne Lokalkolorit. Sorokin wäre hier warscheinlich viel brutaler. Wolos erzählt nur bis zum Knall, nicht über die Auswirkungen des Anschlages.

Ich bin am überlegen, ob Wolos manchmal nicht zu distanziert erzählt. Aber dann gibt es doch wieder Stellen, die sehr intensiv geschildert werden wie z.B. bei Fjodorow; sehr schöne tiefsinnige Passagen auch, wenn Barmin an seine ehemalige Freundin denkt.

Liebe Grüße
Martinus



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zuletzt bearbeitet 16.08.2007 10:48 | nach oben springen

#6

RE: Andrej Wolos

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2007 00:22
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge
Das Thema "Tod" scheint uns zu verfolgen.
Ich finde den Zusammenhang mit dem Philosophen Fjodorow interessant.
Viel erfährt man ja im Internet nicht über ihn, mal davon abgesehen, dass man über unzählige Fjodorow stolpert. Scheint ein Name wie Müller oder Maier zu sein.

Wie dick ist das Buch eigentlich, Martinus?

Liebe Grüße
Taxine



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 16.08.2007 12:27 | nach oben springen

#7

RE: Andrej Wolos

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2007 11:49
von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo Taxine,

Das Buch hat 285 Seiten, ich werde es wohl morgen abschließen.

Nikolaj Fedorovic Fedorov taucht in verschiedenen Schreibweisen auf, darum auf Anhieb nicht immer gleich zu finden. Der bolschewikische Kult der Einbalsamierung Lenins liegt der Philosophie Fedorovs zugrunde. Nach der Theorie des Philosophen könnte man aus Atomen Lenins den Diktator wieder zum Leben erwecken. Wie schaurig .

Liebe Grüße
Martinus



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 16.08.2007 11:52 | nach oben springen

#8

RE: Andrej Wolos

in Die schöne Welt der Bücher 17.08.2007 16:28
von Martinus • 3.195 Beiträge

Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich darauf gekommen bin, dass Wolos mit der fiktiven Volksgruppe der „Katschiren“ die Tschetschenen meint. Im Grunde genommen ist es ein Roman über Russlands (Putins) Problem mit den Islamisten in Tschetschenien. Barmin wird als Animator immer mehr in diese Verwicklungen hineingezogen. Das erhöht natürlich die Spannung in den letzten Kapiteln.

Aus der Islamistenschule:

Zitat von
Nur eine Sekunde – er hat noch nicht begriffen, dass der Stahl, das Blei, nehmen wir an, die Detonation des Plastiksprengstoffs ihn von der Schwere seines Erdendaseins befreit hat, und schon schwelgen die nackten Füße des Tapferen im herrlichen Gras an den Zauberquellen, und fügsame vollbrüstige Schöne eilen herbei, um das Blut und den Staub der Schlacht von ihnen abe zuwaschen.


Sehr positiv für den Roman empfinde ich die Selbstreflexionen Barmins, der sich nichts vormachen will. Selbst als Animator ist er genügend selbstkritisch, was seine Tätigkeit betrifft. Durch diese Einstellung gewinnt er Sympathien. Der Geheimdienst, der Staat, erliegt aber dem Wahn, mit willigen Animatoren ein geeignetes Mittel zur Terroristenbekämpfung zu haben.

Über Fjodorow heißt es:

Zitat von
Sein zorniger Aufschrei hätte die Menschheit dazu bringen müssen, sich zu besinnen, die Dinge beim Namen zu nennen, endlich zu erkennen, was wertvoll ist auf dieser Welt und was bloß Schall und Rauch.



Liebe Grüße
Martinus




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