HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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"Das obzöne Werk", das sind Kurzgeschichten, Einblicke in wunderliche Situationen. Zwerge beim Geschlechtsakt, sexuelle Besessenheit, "Selbstverschleuderung". Doch dieses Obzöne, Pornographische bleibt nur Oberfläche. Ähnlich wie bei Genet schimmert durch alles Beschriebene die Metapher und Reflexion Batailles durch, diese Angst und Trostlosigkeit, die Absurdität von Moral und Sitte.
Auf der Buchrückseite heißt es:
Zitat
Bataille fasst die Wahrheit der Erotik tragisch: Im bewussten Gegensatz sowohl zur gesellschaftlichen Verdammung wie zur hygienischen Sterilisierung der Sexualität identifiziert er sie mit dem Schrecken, dem Entsetzen, dem Tod.
Die erotische Erfahrung ist für ihn eine zweifache: die des Tabus und die seiner Überschreitung; erst die Überschreitung, die das Tabu zur Voraussetzung hat, ermöglicht den Personen Batailles - Sartre nannte ihn einen "neuen Mystiker" - auch die Transzendierung des Ich. Die Ekstase, das buchstäbliche Außer-sich-Sein, das die Mystik in religiöser Versenkung fand, suchen sie im körperlichen Exzess und in körperlicher Entäußerung. Auf allen Ebenen übrigens: kopulierend und defäkierend scheiden sie in geradezu mythischem Umfang aus, ent-äußern sich bis zur Selbstauflösung.
Die obsessionelle Besudelung steht für eine Kategorie, der auch der Philosoph, Ökonom und Anthropologe Bataille verpflichtet ist: die Verschwendung.
Bataille schreibt selbst in diesem Buch:
Zitat von Bataille
Schreiben heißt, das Glück suchen.
Das Glück belebt die kleinsten Teile des Universums: das Funkeln der Sterne ist seine Kraft, eine Feldblume sein Zauberspruch.
Die Wärme des Lebens hatte mich verlassen, mein Verlangen war ohne Ziel: meine feindseligen, schmerzenden Finger woben noch immer am Gewebe des Glücks.
Als ich das Glück mit einer so unglückseligen Angst erfüllte, meinte ich, ihm den fehlenden Faden zu bringen.
Glücklich hatte ich verspielt, war ein Objekt des Glücks. Es war die Sonne in den weiten Nebeln meines Unglücks.
Ich hatte es verloren, doch da ich die Geheimnisse der Wörter kannte, unterhielt ich zwischen ihm und mir das Band der Schrift.
Der Zipfel des Glücks ist von der Traurigkeit dieses Buches verschleiert. Ohne es wäre er unerreichbar.
Die Szenen sind teilweise kalt, düster und trostlos. Die Traurigkeit schimmert zwischen aller "Obszönität" wie ein Wegweiser.
Viel wichtiger finde ich neben dem "obszönen Werk" Batailles "Einsatz" für Nietzsche.
Er schloß sich 1935 der antifaschistischen Intellektuellen-Gruppe "Contre-Attaque" an und ist (sozusagen) der Gründervater des französischen Linksnietzscheanismus.
Zitat von Gerhard Hanloser
Ein Hauptargument von Bataille, dass sich Nietzsche jeder Vereinnahmung durch die Faschisten versperren würde, ist, dass Nietzsche ein Philosoph der Zukunft sei, nicht der Vergangenheit.
und
Zitat von Gerhard Hanloser
Bataille strebte so mit Hilfe von Nietzsche die Ablehnung instrumenteller Verhältnisse und der Frage der Zwecke, die auch und gerade im Kommunismus groß geschrieben wurden, an. Souveränität ist für Bataille das Leben für den Augenblick jenseits des Nutzwerts. Für Bataille liegt im Kommunismus eine radikale Vernachlässigung dieses souveränen Teils des Menschen vor.
Bataille zieht gerade Nietzsches Kritik des dienenden Arbeitens heran. Wo sich die meisten Menschen in die Arbeit und den Dienst flüchten, hat sich Nietzsche dem verweigert.
heißt es bei Gerhard Hanloser in seiner Schrift: "Anfang und Ende des nietzscheanischen Linksradikalismus"
Doch, zurück zum Werk, zum obzönen, darin besonders hervorstechend die Geschichten "Madame Edwarda" und "Die Geschichte des Auges".
Bei "Madame Edwarda" heißt es im Anfangszitat:
Zitat von Bataille
Meine Angst ist endlich absolut
und souverän.
Meine tote Souveränität liegt
auf der Strasse.
Ungreifbar - um sie herum
das Schweigen des Grabes -
geduckt in Erwartung
des Furchbaren
und doch lacht ihre Traurigkeit
über alles.
Die Sprache bei Bataille ist herrlich:
Zitat von Bataille
In Madame Edwarda hatte die Trauer - eine Trauer ohne Schmerz und ohne Träne - ein leeres Schweigen vorüberziehen lassen.
Zitat von Bataille
Die Lust Edwardas - Quelle lebendiger Wasser, die sie durchfloß und ihr das Herz zerriß - dehnte sich auf ungewöhnliche Weise: der Fluß der Wollust hörte nicht auf, ihr Dasein zu verherrlichen, ihre Nacktheit nackter zu machen, ihre Schamlosigkeit schändlicher. Der Leib und das Gesicht in Ekstase, einem unsagbaren Gurren hingegeben, lächelte sie in ihrer Sanftheit ein zerbrochenes Lachen: sie sah mich in der Tiefe meiner Dürre; und ich spürte, wie der Sturm ihrer Freude sich vom Grund meiner Traurigkeit befreite. Meine Angst widersetzte sich der Lust, die ich hätte haben wollen: die schmerzhafte Lust Edwardas gab mir das verzehrende Gefühl eines Wunders.
Zitat von Bataille
Mein Leben hat nur unter der Voraussetzung Sinn, dass ich es verfehle; lasst mich verrückt sein: begreife, wer kann, begreife, wer stirbt...; als existiert der Mensch nicht wissend, warum, und zitternd vor Kälte...; die Unendlichkeit, die Nacht umschließen ihn, und er ist eigens da, um ..."nicht zu wissen".
In der "Geschichte des Auges" geht es schon radikaler zu, genauer: da kreischt die Blasphemie im Gewaltakt.
Um es einmal etwas anzudeuten:
Zitat von Bataille
Wir ließen das Aas fallen. Krachend schlug es auf die Fliesen. Wir waren beseelt von einer klaren Entschlossenheit, zu der sich Erregung gesellte. Der Priester erschlaffte. Die Zähne auf die Steine gepreßt, lag er am Boden, geschlagen von der Schmach. Seine Hoden waren leer, und sein Verbrechen begann ihn zu zersetzen.
Zitat von Bataille
Du sollst ein Märtyrer werden, aber ein fickender Märtyrer.
Art & Vibration
Als bloße Provokation kann man Batailles Werk nicht betrachten, der Hintergrund seiner Geschichten ist tiefgreifender. Überhaupt den Mut zu besitzen, bestimmte Themen anzusprechen, die sicherlich überspitzt, teilweise absurd dargestellt werden, zeigt ja schon den "Ernst" dahinter.
Zitat
Einige der unter dem Titel "Das obszöne Werk" zusammengefassten Texte wurden zunächst nur als Privatdrucke, in Auflagen von 50 bis 150 Exemplaren, unter wechselnden Pseudonymen und oftmals mit fingierten Verlagsorten und fingierten Jahresangaben veröffentlicht. In den fünfziger und sechziger Jahren erschienen sie, teils noch zu Lebzeiten des Autors, bei Jean-Jacques Pauvert in Paris. Schließlich wurden sie in die bei Gallimard erscheinende Gesamtausgabe aufgenommen.
(Bibliographische Hinweise/Das obszöne Werk)
Und hier noch die biographische Notiz:
Zitat
George Bataille wurde am 10. September 1897 als Sohn reicher Bauern in der Auvergne geboren. Im Jahre 1917, nachdem er lange Zeit den Eintritt in ein Priesterseminar erwogen hatte, entschied er sich für die École des Chartes, eine Akademie zur Ausbildung von Archivaren und Historikern. Vor Beginn seines Dienstes in der Bibliothèque Nationale in Paris arbeitete er an der École des Hautes Études Hispaniques in Madrid. Dort erlebte er am 7. Mai 1922 den für den Torero Graneros tödlich endenden Stierkampf, an den er sich 1928 bei der Niederschrift der "Geschichte des Auges" erinnert. Im Kreis der Surrealisten befreundete er sich mit Michel Leiris und dem Maler André Masson, der später für die Zeitschrift Acéphale und einige Texte Batailles Illustrationen zeichnete. Mit Leiris verband ihn ein gemeinsames Interesse für Ethnologie.
Der Beginn der dreißiger Jahre war von politischem Engagement gekenntzeichnet. 1931 bis 1934 gehörte Bataille dem Cercle Communiste Démokratique an, der La Critique Sociale herausgab. Er schrieb mehrere Aufsätze für die Zeitschrift. (...) 1933 nahm Bataille an den politischen Aktivitäten der Gruppe Masse teil. 1935/36 schloß er sich der linksintellektuellen Gruppe Contre Attaque an. (s. o.) 1934 lernte er Colette Peignot kennen, die als revolutionäre Antistalinistin aus Rußland nach Paris gekommen war. Als die Geliebte 1938 an Lungentuberkulose starb, hielt Bataille den Priester mit dem Revolver fern. (...)
1936 gründete Bataille zusammen mit Roger Caillois, Michel Leiris, Jules Monnerot die Société Secrète . 1937 folgte das Collège de Sociologie, dessen Initiatoren sich vorgenommen hatten, eine "Soziologie des Heiligen" zu entwickeln. 1936 unternahm Bataille wieder den Versuch - 1929 bis 1931 war er bereits mit der Zeitschrift Documents gescheitert -, eine Zeitschrift herauszubringen. (...)
1941 erschien "Madame Edwarda" (oben zitiert). 1942 musste Bataille den Bibliotheksdienst - er war lungenkrank geworden - verlassen. Während eines längeren Aufenthaltes in der Normandie im Dorfe Tilly hat er wahrscheinlich den Text "Der Tote" geschrieben. Seit dieser Zeit hat Bataille kontinuierlich publiziert. (...)
Er starb am 9. Juli 1962 in Paris und hat eine Fülle an Manuskripten hinterlassen, die nach und nach veröffentlicht wurden.
Und, lassen wir einfach Bataille selbst sprechen:
Zitat von Bataille
Der Autor von "Madame Edwarda" hat selbst auf den Ernst seines Buches hingewiesen. Doch angesichts der üblichen Leichtfertigkeit, mit der man Texte zu behandeln pflegt, deren Thema die Sexualität ist, scheint es mir richtig, darauf zu beharren. Nicht dass ich die Hoffnung – oder die Absicht – hätte, in dieser Hinsicht etwas zu ändern. Allerdings möchte ich den Leser meines Vorwortes bitten, einen kurzen Moment über die traditionelle Einstellung zur Lust (die im Spiel der Geschlechter ihre wildeste Intensität erreicht) und zum Schmerz (den der Tod zwar stillt, vorher aber auf das Heftigste steigert) nachzudenken. Ein ganzer Komplex von Voraussetzungen hat uns dazu geführt, dass wir uns vom Menschen (von der Menschheit) ein Bild machen, das von der äußersten Lust und vom äußersten Schmerz gleich weit entfernt ist: von jeher betrafen die meisten Verbote einerseits das Sexualleben und andererseits den Tod, so dass beide Bereiche als sakral, als der Religion zugehörig empfunden wurden. Das Schlimmste trat ein, als es dahin kam, dass man allein noch die Verbote, die mit den Umständen des Sterbens des Menschen zusammenhingen, für ernst nahm, während man jene, welche die Umstände seiner Zeugung betrafen – die ganze geschlechtliche Aktivität -, immer leichter zu nehmen begann. Ich denke nicht dran, gegen die profunde Tendenz der großen Zahl zu protestieren: sie ist Ausdruck des Schicksals, das es wollte, dass der Mensch über seine Fortpflanzungsorgane lacht. Aber dieses Lachen, das den Gegensatz von Lust und Schmerz betont (Schmerz und Tod sind ehrfurchtgebietend, während die Lust lächerlich, verächtlich ist), enthüllt auch ihre tiefe Verwandtschaft. Das Lachen ist nicht mehr ehrfurchtsvoll – es ist Zeichen des Schreckens. Das Lachen ist Ausdruck der Kompromisshaltung, die der Mensch gegenüber dem einnimmt, was ihn abstößt, wenn dieses ihm nicht mehr ernst erscheint. So bedeutet der ernst, der tragisch genommene Erotismus eine völlige Umkehr unserer Vorstellung.
Und weiter im Vorwort heißt es:
Zitat von Bataille
Ich möchte zunächst deutlich machen, wie fruchtlos jene banalen Versicherungen sind, denen zufolge das sexuelle Verbot ein Vorurteil ist, von dem es Zeit wird, sich zu befreien. Die Scham, die Schamhaftigkeit, die das starke Lustgefühl begleiten, wären danach nur Zeichen mangelnder Intelligenz. Ebenso kann man sagen, wir müssten reinen Tisch machen und zur Stufe der Tierheit zurückkehren, zum gegenseitigen Verschlingen und zur Gleichgültigkeit gegenüber Unrat und Schmutz. Als ginge nicht die gesamte Menschheit aus den großen und gewaltigen Regungen des Schreckens und der ihm folgenden Anziehung hervor, die mit Sensibilität und Intelligenz verbunden sind. Wir wollen nicht etwa versuchen, dem von der Schamlosigkeit provozierten Gelächter entgegenzutreten, aber wir möchten – zum Teil – auf eine Haltung zurückkommen, die das Lachen erst ermöglicht hat.
Ist es doch das Lachen, das eine Art entehrender Verdammung rechtfertigt. Das Gelächter führt uns auf jenen Weg, wo das Prinzip eines Verbotes, das Prinzip notwendigern, unvermeidlichen Anstand sich in verständnislose Heuchelei verwandelt, in ein Unverständnis dessen, was auf dem Spiele steht. Die vom Spott begleitete, äußerste Zügellosigkeit geht Hand in Hand mit der Weigerung, die Wahrheit der Erotik ernst – ich meine: tragisch zu nehmen.
Lässt ein bisschen erkennen, was Bataille beabsichtigt.
Harmlos ist Bataille nicht, im Gegensatz zu "Lolita" und co.
Aber, da seine Schriften eben zu seinen Lebzeiten unter Pseudonymen und ausführlich erst nach seinem Tod herausgegeben wurden, wurden sie auch nicht verboten. Ich kann mir aber vorstellen, dass so manche Empörung doch aufflammte.
Die Texte sind ein bisschen "gekürzt", sozusagen "beschnitten" worden, aber im Wesentlichen heute noch so zu erhalten, wie damals die bei Pauvert erschienenen Fassungen.
Art & Vibration
Ein weiteres kleines Werk von ihm ist:
Das Blau des Himmels
Es wäre unmöglich, dieser steigenden Flut des Mordens, die viel ätzender ist als das Leben (…), etwas anderes entgegenzustellen als Nichtigkeiten und das Klagen alter Weiber.
Im Vorwort fragt Bataille:
Wie können wir bei Büchern verweilen, zu denen der Autor nicht fühlbar gezwungen worden ist?
Dieses Prinzip, so sagt er weiter, wollte er formulieren. Das ist der Ausgangspunkt für die "ungeheuren Anomalien" des Romans (die nur in ihrem Hintergrund ungeheuerlich werden), eine Qual, die ihn verzehrte und sich darum in seinem Erzähler widerspiegelt.
Der Ich-Erzähler Henri Troppmann sucht sich eine erschütternd hässliche Frau, die ihn körperlich und geistig abstößt, um ihr von einer anderen Frau zu berichten, die er vergöttert. Diese Frau heißt Dirty, eigentlich Dorothea, eine von ihm idealisierte Göttin der Grausamkeit. Man erblickt sie, völlig betrunken, „… bis zur Unschicklichkeit dekolletiert“, kotzend und gleichzeitig in ihrer ganzen Schönheit (so der Erzähler), gemeinsam sind sie im Hotel Savoy, als ein winziger Auszug aus dem Roth’schen Roman, wo Dirty den Liftboy aufgrund seiner Hässlichkeit zu hinterfragen beginnt, ob auch er Totengräber wäre.
Der Erzähler sagt im ganz typischen Bataille-Ton:
Ich weiß.
Ich werde unter entehrenden Bedingungen sterben.
Ich weide mich heute daran, für das einzige Wesen, an das ich gebunden bin, ein Gegenstand des Schreckens und des Abscheus zu sein.
Was ich will: das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann, der darüber lacht.
Der leere Kopf, in dem „ich“ bin, ist so ängstlich, so habgierig geworden, dass nur noch der Tod ihn befriedigen kann.
Troppmann berichtet ohne Emotion von dieser ihn überwältigt zu habenden Begegnung mit Dirty.
Zitat von Bataille
Ich werde Ihnen sagen, weshalb alles schiefging: aus einem Grunde, der Ihnen gewiss unverständlich erscheinen wird. Niemals habe ich eine schönere oder aufreizendere Frau gehabt als Dirty: sie brachte mich schier um den Verstand, aber mit ihr im Bett war ich impotent…
Gleichzeitig betont er, dort wäre stets „ein Nachgeschmack der Verwesung“, ihm fehlte bei ihr wohl die notwendige Verachtung.
Während er bruchstückhaft berichtet, was geschehen ist, verfolgt er die Reaktionen der hässlichen Frau mit Namen Lazare, der er jegliche Sexualität abspricht.
Zitat von Bataille
Trotz ihres entsetzlichen Aussehens besaß Lazare in meinen Augen immer noch einen Schatten von Existenz.
Er, der verheiratet ist, sogar Kinder hat und nur zu gerne seine Frau mit anderen Frauen betrügt, zu denen auch Dirty gehört, hat eine eigenartige Methode, die Frauen, denen er begegnet, auf die Probe zu stellen. Er erzählt ihnen von einem Erlebnis mit einer alten Frau, deren Tod und Aufbahrung im Sarg ihn sexuell erregt haben soll. Je nach seinem Interesse an der Frau und ihrer Reaktion, verändert er die Tote, macht aus ihr einmal eine Fremde, ein anderes Mal sogar seine eigene Mutter. Es ist die Faszination dieser Leere, die ihn völlig einnimmt, jede Frau reagiert anders, mit jeder Reaktion versucht er die Frau und seine Gefühle zu ihr einzuordnen und damit auch sich selbst. Als er glaubt, er würde sterben, lernt er eine weitere Frau namens Xenia kennen, die ihn aus Liebe pflegt, der er keinerlei Gefühle entgegen bringt. In diesem Kreis verschiedener Frauen, bleibt er ein Mittelpunkt des Elends, von einem schrecklichen Entsetzen gepackt. Er selbst verwandelt sich in einen Toten, einen lebendigen Leichnam.
Alles war falsch, sogar mein Leiden.
Der Titel des Buches ist in diesem Zusammenhang erst einmal eigenartig, doch ein einschneidendes Erlebnis als ein Blick aus dem Fenster verändert den Erzähler:
Zitat von Bataille
… für mich war es, als ob sich eine Tintenflasche in meinem Kopf ergösse, und ich war überzeugt, noch an jenem Tage sterben zu müssen…
Der Himmel wird Anhaltspunkt, ist der offene Rahmen seines Untergangs, wird zur gläsernen Erinnerung an jene Frau, die er liebte, zu einer Kindheitserfahrung, bei der er sich mit einem Füllfederhalter Wunden zugefügt hat.
Vor seinem Fenster klatscht eine schwarze Flagge im Wind, die zum Gedenken eines Toten aufgehängt wurde, und die er für Lazare mit dem schwarzen Tischtuch von Don Juan vergleicht. Hier kündigt sich die Bereitwilligkeit zur Qual an, die den Erzähler kurz dazu nötigt, sich aufhängen zu wollen.
Da bleibt eine Sehnsucht nach dem Verderben, nach dem Tod, nach dem Leiden-Wollen. Sowohl bei Troppmann, wie auch bei den Frauen, die nicht unterschiedlicher sein können. Xenia, die Naive, Lazare, die Hässliche, die sich später als eine Revolutionärin und mutige Frau herausstellt, die Troppmann alleine aufgrund ihrer Hässlichkeit unterschätzt, und die unerreichbare, ewig angebetete Dirty, die ihn in Wien verlassen hat.
Mit allerlei Bilder und Traumvisionen fängt Bataille diesen Zustand der Trostlosigkeit ein. Einige entnimmt er Mozarts Don Giovanni.
Minerva, die Göttin der Weisheit und die Hüterin des Wissens, erscheint und verwandelt sich in die Statue des Komturs und dann in Dirty selbst, die „verrückt geworden ist und gleichzeitig gestorben“. Eine völlige Bewegungslosigkeit der Statue und gleichzeitig lebendig, wo sie auch bei Don Juan zwar als Figur auftritt, jedoch längst tot ist.
Leporello: So seht doch nur auf seine Statue.
Don Juan: Wieso?
Leporello: Es scheint, sie schaut euch an
Und ist erzürnt.
(zitiert aus "Don Giovanni")
Auch Dirty stürzt sich auf Troppmann, um ihn zu vernichten.
Der Erzähler sagt:
Zitat von Bataille
Schon ehe ich ernstlich krank wurde, bestand mein Leben ganz und gar aus einer krankhaften Halluzination. Ich war zwar wach, aber alles glitt zu rasch vor meinen Augen vorüber wie in einem bösen Traum.
Die ihm begegnenden Außen-Probleme, mit denen sich die ganze Welt befasst, und sein dem gegenübergestelltes eigenes Dahinleiden, heben die Grenzen von Sinn und Sinnlosigkeit auf. Der Untergang der Arbeiterklasse oder die Sehnsucht, nicht verrückt zu werden, Riesenmarionetten oder tiefsitzender und verfaulender Kern an Leben, als Intellektueller einschreiten oder als Verkümmernder das Hirn wegblasen zu müssen, mit allen Mitteln, die dafür notwendig sind. All das sind nur Vorgänge, die ihn belasten und gleichzeitig weit entfernt wirken. Seine Rückblicke und Erinnerungen scheinen immer dann Überhand zu nehmen, wenn eine intensive Erfahrung auf ihn zukommt.
Zitat von Bataille
Ich ahnte irgendeine Leere voraus, irgend etwas Schwarzes, Feindliches, Riesiges … aber mich selbst spürte ich nicht mehr…
Jeder Gang hinaus, jedes an einen Fremden gerichtete Wort wirkt wie der letzte Schritt, bevor das Ende kommt, welches sich immer wieder verschiebt. Die Sehnsucht verwandelt sich in Angst.
In Barcelona dann, wohin Troppmann sich begibt, um dort auch den wahren Charakter von Lazare zu entdecken, spitzt sich gerade der Generalstreik zu, der in der Bewaffnung der Arbeiter endete. Durch die Weltwirtschaftskrise 1929 verschärften sich die sozialen Konflikte und führten schließlich zum Zusammenbruch der Militärdiktatur Primo de Riveras im Januar 1930. Die folgenden Monate zogen einen Aufschwung des Klassenkampfes nach sich, der von großen Demonstrationen der Studenten und der Arbeiterklasse geprägt war. Später führten diese Unruhen in die "Spanische Revolution", die mit dem Massenaufstand der Arbeiter und Bauern gegen den blutigen Militärputsch General Francos im Jahr 1936 ihren ersten Höhepunkt erlebte.
Diesen Hintergrund bildet Troppmanns Irrfahrt. Er unternimmt gegen sein immer stärkeres Entsetzen verschiedene Hilfsmaßnahmen, fordert Xenia auf, nach Barcelona zu kommen, flüchtet vor Lazare und erhält schließlich eine Benachrichtigung, dass auch seine Angebetete – Dirty – nach Barcelona kommen möchte. Hier zerteilt sich das Bild „der Frau“ in diese drei Frauen, in Xenia, die er nicht liebt, die aber ihn liebt, mit der er hätte glücklich sein können, in Lazare, deren Kaltblütigkeit und innere Stärke ihn überrascht und ängstigt, und in Dirty, die Unerreichtbare, die er liebt, achtet, neben der er sich ganz in seinem Unglück suhlen kann, die er anbetet, weil sie hassen kann.
Sie wurde hässlich. Ich begriff, dass ich diese Heftigkeit in ihr liebte. Was ich an ihr liebte, war ihr Hass, ich liebte die unvermutete Hässlichkeit, die entsetzliche Hässlichkeit, die der Hass ihren Zügen verlieh.
Von Barcelona fährt er mit ihr nach Deutschland, im Rücken die Unruhen, er selbst als unkontrollierbares Bündel, als gefährlich scharfe Bombe, die jeden Augenblick droht, hochzugehen. Schließlich wird deutlich, dass all diese übersteigerten Empfindungen in die eigentliche Katastrophe hineinführen: in den zweiten Weltkrieg.
Zitat von Bataille
Nichts Trockeneres als diese Trommeln, nichts Ätzenderes als die Querpfeifen. Alle diese Nazikinder (einige waren blond und hatten ein Puppenkind), die in der Nacht vor dem unendlich weiten Platz im strömenden Regen für ein paar spärliche Passanten spielten, standen stocksteif da, als seien sie die Beute einer Weltuntergangsstimmung: vor ihnen schlug ihr Anführer, ein Junge von krankhafter Magerkeit mit einem bissigen Fischgesicht (ab und an drehte er sich um, um Befehle zu bellen, er röchelte) den Takt mit dem langen Stab eines Tambour-Majors. Mit obszöner Gebärde stützte er diesen Stab mit dem Degenknauf auf den Unterleib (und dann ähnelte dieser Stab dem mit Tressen und bunten Schnüren geschmückten überdimensionalen Penis eines Affen); mit dem Ruck eines kleinen schmutzigen Rohlings hob er dann den Knauf bis in Mundhöhe. Vom Bauch zum Mund und vom Mund zum Bauch, und jede ruckartige Bewegung abgehackt durch einen Trommelwirbel. Dieses Schauspiel war obszön.
Erst an dieser Stelle erkennt der Leser, worauf Bataille eigentlich hinaus will. Letztendlich steht der Gefräßigkeit eines bevorstehenden Krieges nichts mehr gegenüber, was nicht völlige Nichtigkeit wäre. Kein eigenes Leid übersteigt das kommende. Das Entsetzen hatte einen Ursprung. Auf einmal spiegelt sich der Mensch ungewollt und machtlos in einer erschreckenden Unschuld.
Ein aufwühlendes Buch.
Art & Vibration
Zitat
Doch dieses Obzöne, Pornographische bleibt nur Oberfläche. Ähnlich wie bei Genet schimmert durch alles Beschriebene die Metapher und Reflexion Batailles durch, diese Angst und Trostlosigkeit, die Absurdität von Moral und Sitte.
Der Vergleich mit dem "Findelkind" ist ein naheliegender, auch wenn Genet mitunter seine Reflexionen weniger durchschimmern als auktorial verlauten lässt.
Der Ausdruck "Oberfläche" scheint mir hier jedoch nicht so recht zu passen.
Diese "Unangemessenheit jeder Rede" (O-Ton Bataille) war, wie Derrida bemerkte, eine Frage der Souveränität, der Bewahrung des "Nicht-Sinns", jenseits aller Negativität.
"Ich kann von einer Abwesenheit des Sinns nur reden, wenn ich ihr einen Sinn gebe, den sie nicht hat", schrieb Bataille in Methode der Meditation.
In Barthes' Die Lust am Text heißt es:
Zitat
unter subtiler Subversion [verstehe ich] diejenige, die nicht direkt auf Zerstörung aus ist, dem Paradigma ausweicht und ein anderes Term sucht: ein drittes Term, das jedoch kein Term der Synthese ist, sondern ein exzentrisches, noch nicht dagewesenes Term. Ein Beispiel? Vielleicht Bataille, der das idealistische Term durch einen unerwarteten Materialismus aus dem Felde schlägt, in dem das Laster, die Devotion, das Spiel, der unmögliche Erotismus usw. Platz haben; so setzt Bataille der Schamhaftigkeit nicht die sexuelle Freiheit entgegen, sondern . . . das Lachen.
Zitat von Salin
Der Vergleich mit dem "Findelkind" ist ein naheliegender, auch wenn Genet mitunter seine Reflexionen weniger durchschimmern als auktorial verlauten lässt.
Ja, da gebe ich dir Recht. Gestern mal so vor mich hinüberlegt. Genet schreibt nicht, um auf etwas Tieferes oder Verborgenes hinzuweisen, wie es, im Gegensatz zu ihm, Bataille durchaus tut, sondern spricht poetisch mit seinem "Hintergrund" die Dinge unverblümt an.
Genet selbst dazu: „Ich habe beschlossen, der zu sein, den das Verbrechen aus mir gemacht hat!“
(Tagebuch eines Diebes)
Genet wendet die Ablehnung seiner Person gegenüber denen an, die ihn ablehnen. „Nicht ihr weigert euch, uns aufzunehmen, sondern wir lassen uns nicht herab, bei euch einzutreten.“
... also eher im Sinne Descartes, sich selbst als die Welt zu ändern.
Sartre schrieb dazu in St. Genet, ein Werk, von dem Genet gesagt hat, Sartre hätte ihn erkannt (wobei man ja hier durchaus sagen muss, dass Sartre ihn wohl besser kennt, als Genet sich selbst, weil er seine Philosophie auf seine Betrachtungen der Person anwendet, statt ihn "neutral" zu sehen.) Er sagt:
Zitat von Sartre
Indem der Unberührbare sich darauf beschränkt, stolz zu wollen, was ist, indem er seine tatsächliche Situation („Ich bin aus der Gruppe ausgeschlossen“) in einen ethischen Imperativ verwandelt („Also muss ich die Initiative zur Sezession ergreifen“), spielt er das Spiel der Privilegierten.
Ich finde, das macht Genet in seinen Zeilen wirklich. Er verschleiert nichts, hat im Schmutz und in der Not gelebt, war Dieb und Ausgestoßener, um dann eben über diesen Schmutz um ihn herum zu schreiben und diesen zur Kunst zu erheben, wobei er die Gabe besitzt, selbst Schmutz poetisch ins Bild zu setzen.
Bataille macht etwas anderes. Er benutzt Bilder und das "Außergewöhnliche", um darunter etwas zu verbergen, das viel tiefer liegt, macht das auch poetischer als z. B. de Sade. (In "Das Blau des Himmels" sagt sein Protagonist zu einer der Frauen:
Du hast sicherlich Sade gelesen, du hast Sade großartig gefunden - wie die anderen. Die aber Sade bewundern, sind Hochstapler - verstehst du? - Hochstapler...
Und einige Augenblicke später:
Warum haben sie das Sade angetan?)
Bataille will nicht für das Obszöne anerkannt sein, er nutzt das Obszöne als Magnet, negiert, kehrt die Welt um.
Was beide Schriftsteller über die Obszönitäten verbindet, ist ihr Blick auf die Grausamkeit. Das Leben ist eine Ansammlung aus Blut, Sex, Kot und Tod, Genet streut dazu seine homosexuellen Erfahrungen, Bataille konzentriert sich lieber auf die Entfremdungen, Abweichungen vom durchschnittlich Normalen. Beide haben eine eigene Art, ganz als sie selbst zu schreiben, ohne Rücksicht auf Norm und Moral.
Art & Vibration
Bataille negiert, ja, aber nicht – wie so viele – indem er von außen daherkommt und bloß die Vorzeichen ändert. Er negiert von innen heraus.
poetischer als z. B. de Sade ...
Beschrieb Sade überhaupt irgendetwas poetisch? Gerade wegen diesem "schmucklosen" Stil konnte ich nie mehr als paar Seiten lesen. Foucault nannte jene Sprache diskursiv und explizit, sicher nicht zu Unrecht.
In seiner Vorrede zur Überschreitung hatte er die beiden, Sade und Bataille, miteinander verglichen. Ein Unterschied: Die Sprache des ersteren habe kein Subjekt, während die des letzteren ein Subjekt entblöße, welches "mit ausgestreckten Armen die Sprache festzuhalten versuchte und sich, gleichsam von ihr verworfen, entkräftet auf dem Sand dessen wiederfindet, was es nicht mehr zu sagen vermag".
Zitat von Salin
Beschrieb Sade überhaupt irgendetwas poetisch? Gerade wegen diesem "schmucklosen" Stil konnte ich nie mehr als paar Seiten lesen. Foucault nannte jene Sprache diskursiv und explizit, sicher nicht zu Unrecht.
Hin und wieder hat er mal den einen oder anderen Lichtfunken, der aber weniger Poesie, als eher ein philosophischer Gedanke ist. Sade lesen, ist wirklich schwierig, aufgrund der Langweile. Hat man das Sodom hinter sich, bar jedweder Poesie, folgt irgendwie nur noch seichtes Zeug. Mir stehen allerdings auch noch etliche seiner Werke aus.
Hatte dazwischen seine Briefe gelesen, eine Biographie, dann noch einige seiner Erzählungen und verlor dann auch schnell die Lust.
"Gespräch zwischen Priester und Sterbenden" gefiel mir ganz gut. Ist aber auch nicht gerade besonders lang.
Interessant bei Sade ist lediglich der Hintergrund, das Befassen mit dem Bösen und den Neigungen.
Einer seiner Biographen, Lely, sagt z. B. über den Sado-Masochismus:
Menschen, die gar keine Spur davon aufweisen, scheinen äußerst selten zu sein; vielleicht existieren sie nicht einmal.
(Gilbert Lely - "Leben und Werk des Marquis de Sade")
Ist andererseits natürlich auch nicht mehr wirklich neu.
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