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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Isaak Babel

in Die schöne Welt der Bücher 29.11.2009 11:42
von LX.C • 2.821 Beiträge

Die Reiterarmee

Das postrevolutionäre Russland hatte an allen Fronten zu kämpfen. Mit Beendigung des Ersten Weltkrieges kehrte lange kein Frieden ein. Der Kampf ging im Inneren weiter. Im Bürgerkrieg musste man sich gegen die Weißgardisten, Truppen aus dem ehemals zaristischen, bürgerlichen Lagern behaupten, die sich dem Kommunismus verweigerten, hinzu kam der Polnisch-Sowjetische Krieg 1920. Polen, erst seit 1919 wieder als selbstständig anerkannt, hatte Angst vor einem Übergriff der kommunistischen Revolution und wollte seine Ostgrenzen erweitern und befestigen, für ein starkes Groß-Polen. Russland hatte ähnliche Motive, auch hier galt es, das junge kommunistische Land so groß und stark wie möglich zu machen. Die Ukraine, Kiew und Lemberg, wichtige Knotenpunkte gen Westen, wollte man sein Eigen wissen, auch Litauen und die Universitätsstadt Vilnius (Wilna). Bis Warschau war die Rote Armee vorgedrungen, als die Polen in einem Befreiungsschlag, auch „Wunder von Warschau“ genannt, die russischen Truppen weit gen Osten zurückdrängten. Eine dieser russischen Truppen war Budënnyjs Reiterarmee.
Isaak Babel (1894-1940) diente in ihr, als Kämpfer, Schreiber und Korrespondent Kirill V. Ljutov. Seine Kurzgeschichten aus „Die Reiterarmee“ (1926, erste Texte 1923) wurden gut siebzig Jahre lang angezweifelt. Ist das überhaupt wichtig, könnte man sich fragen? Literatur erhebt keinen Anspruch auf die Wirklichkeit, bestenfalls auf Wahrhaftigkeit.

Doch was ist das Wissen um eine Wirklichkeit angesichts Babels dramatischer Schriften wert? Das Polenbild beispielsweise, das dem Leser vermittelt wird, das erst spät in einem Akt der Menschlichkeit revidiert wird, wäre unter Umständen einer gewöhnlichen Fiktionalität scharf zu verurteilen. Es kann nur als Wahrhaftig anerkannt werden, wenn man sich vor Augen führt, dass Babels Wirklichkeit der Kriegsalltag war, aus dem heraus er die Geschichten der Erstausgabe zu Papier gebracht hatte. Sie sind direkt im Kriegsgeschehen entstanden, zwischen Kampf, Verwundung, Hunger, Verwüstung und Tod. Der Pole als Kriegsgegner, als brutaler, grausamer, gnadenloser Feind der Bolschewiken, ihm kann der Erzähler zunächst nur Verachtung entgegenbringen. Noch deutlicher machen das die klischeehaften, propagandistischen Beiträge des Korrespondenten, die der Neuübersetzung beigefügt sind. Vielleicht hätte man auf diese verzichten sollen. Andererseits zeigen sie dem Leser die Grenze zwischen Propaganda und Literatur deutlich auf. Die eine soll den Hass gegen den Feind schüren und die Rote Armee moralisch stärken, die andere den Widerwillen gegen den Krieg selbst. Die Propaganda zeichnet sich durch eine wirkungsmächtige, zielgerichtete Alltagssprache, die Prosa auch in den schrecklichsten Szenen durch das Merkmal der Verfremdung zu einem stilistisch fein gewobenen Textgewebe aus, welches Gefühle im Leser auslöst, die den Zielen der Propaganda vollkommen diametral sind und die man sich im Kriegsalltag überhaupt nicht erlauben dürfte.
Denn die Brutalität kennt keine Grenzen, gegen den Feind nicht, gegen die Bevölkerung nicht, die Schwächsten, Frauen und Alte nicht; selbst innerhalb der eigenen Truppe macht die Verrohung keinen Halt. Ihr entgegenwirken zu wollen, muss Ljutov feststellen, ist lebensgefährlich. So ist es kein Wunder, dass, mehr noch als der Feind, die eigenen Kameraden im Fokus des Erzählers stehen.

Schauen wir exemplarisch auf die Geschichte Afonjka Bidas.
Die erstmals zurückgedrängten russischen Truppen der Reiterarmee stehen vor dem Städtchen Leszniów. Zur Unterstützung ist ihnen eine Truppe Infanterie zugeteilt, die über Nacht wahllos aus dem russischen Bauernvolk zusammengestellt wurde. Für sie reichen die Gewehre nicht, eins für drei Kämpfer, und in die Gewehre passen die Patronen nicht. Ein sicheres Todesurteil, angesichts solch desolater Zustände nach zehrenden Kriegsjahren, für die dennoch motivierte Bauerninfanterie. Die von der Frontlinie zurückkehrende Reiterarmee wird von den Bauern enthusiastisch erwartet. Doch diese stürzt sich unter der Führung des Zugführers Afonjka Bida „Fertigmachen zum Gefecht!“ im Galopp auf die ungläubigen Infanteristen, jagt sie über die Felder, fängt sie, peitscht sie aus.
„Was soll der Unsinn?“, ruft Ljutov dem Zugführer zu. „Nur so, zum Spaß“, antwortet der, „Nur so, zum Spaß! – […] auf den ohnmächtigen Burschen eindreschend.“ (114)
Bis eine MG-Kugel, der sich nach wie vor im Vormarsch befindenden polnischen Truppen, den Hals des Zugführers Pferdes durchschlägt. Plötzlich versinkt Afonjka Bida im Tränenmeer.

„Leb wohl, Stephan, - wiederholte er, lauter, holte tief Luft, kiekste, wie eine gefangene Maus, und heulte los. Sein aus der Tiefe brodelndes Geheul drang bis an unser Ohr, und wir sahen Afonjka sich rasch und immer wieder verbeugen, wie eine Besessene in der Kirche.“ (Afonjka Bida, S. 116)

Wie eine Maus, wie eine Besessene, teilt uns der Erzähler mit, was den Akt der Trauer um das Pferd verweiblicht und den Zugführer verweichlicht. Männer weinen nicht, Soldaten schon gar nicht.
Afonjka Bida verschwindet, tage-, wochenlang. Überall wo seine Kameraden auftauchen, finden sie eine Blutspur vor, die Afonjkas Handschrift trägt. Er macht in seinem Rachewahn weder vor versprengten polnischen Soldaten, noch vor der Bevölkerung halt, brandschatzt, mordet, raubt, bis er eines Tages wieder im Regiment auftaucht und sich mit einem neuen prächtigen Schimmel, wieder ganz Mann, in seiner Kavallerieeinheit einreiht. Schon „am anderen Morgen ließ es Bida sich wohlsein. Er zertrümmerte in der Kirche den Sarkophag des heiligen Valentin“ (120)
Wer da noch Mensch, wer Tier, man weiß es nicht. In einer anderen Geschichte gibt Afonjka einem Kameraden den Gnadenschuss.

Ein Gewissen scheint nur einer zu haben, der Erzähler Ljutov. Und so wirkt der, manchmal passiv, manchmal aktiv und immer von einer latenten Hilflosigkeit begleitet, wie ein ständiger Gegenpart zu einer Welt aus Skrupellosigkeit und Unmoral.
Einen ähnlichen Eindruck muss Babel Anfang der 30er Jahre bei Elias Canetti hinterlassen haben, der den Autor als Pendant zu einer dekadenten Berliner Künstlerszene beschreibt.

„Er war sehr neugierig, er wollte alles in Berlin sehen, aber ‚alles’ waren für ihn die Leute, und zwar Leute jeder Art, nicht die, die in den Künstler- und Nobel-Lokalen verkehrten. Am liebsten ging er zu Aschinger, da standen wir dann nebeneinander und aßen sehr langsam eine Erbsensuppe. Mit seinen kugelrunden Augen hinter den sehr dicken Brillengläsern sah er sich die Leute um uns an, jeden einzelnen, alle, und hatte nie von ihnen genug.“ (Canetti, Elias: Isaak Babel, in: Russen in Berlin, Reclam, Leipzig 1991, S. 441.)

Was machen nun die Kriegsgeschichten dieses zurückhaltenden und leidenschaftlichen Beobachters literarisch so wert- und wirkungsvoll? Zweierlei rückt besonders in den Fokus. Babals Literarizität. Bei aller Brutalität, bei aller Morbidität, muss man seine Sprache sogar als schön bezeichnen dürfen, denn sie beschert [in der Übersetzung von Peter Urban] allerhöchsten Lesegenuss. Dies kann sich auch zum Manko verkehren, wenn man dem Werk, wie in der Vergangenheit oftmals geschehen, aufgrund seiner poetisch ausgeformten Bilder Kriegsromantik unterstellen will. Vergessen wird bei solchen Vorwürfen die Gewalt, mit der die exakt gesetzten Worte Babels, nichts wird dem Geisteszufall überlassen, auf den Leser wirken können.
Ein Zweites sind die Gegensätze, von denen die Geschichten konzeptionell leben. Scheinen sie manchmal noch so plakativ, wirken sie aufgrund des Erstgenannten nie billig oder primitiv. Dieser Dualismus ist es vielmehr, der die Erregung von Schauder nie abstumpfen lässt und durch Verhinderung einer dauerhaften Überreizung den Leser von Geschichte zu Geschichte treibt.
Durch wiederkehrende Schauplätze und Protagonisten verschmelzen diese zu einem anachronistischen, aber logischen Gesamtkonzept. Man kann Babel nur dankbar sein, dass er die episodenhaften Begegnungen nicht in eine Ordnung überführt, mit Überflüssigem beladen und zu einem Roman ausgearbeitet, sondern sie in ihrer stimmigen Zerrissenheit belassen hat. Die Form der Kurzgeschichte ist hier eindeutig die authentischere.
Peter Urban hebt in seinem Nachwort von 1994 Gorki als Förderer und die Stilschule Tschechows als prägend hervor - Abwesenheit langer Wortergüsse, Objektivität, Wahrhaftigkeit in der Beschreibung, äußerste Kürze, Kühnheit und Originalität sowie Meidung des Klischees.

„Was Babels Texte von den Erzählungen und Kurzgeschichten Čechovs unterscheidet, ist zum einen ihre expressive Bildsprache, ist zum anderen ihre kunstvolle Komposition. Wurden Čechovs Erzählungen in ihrer Gesamtheit eine Enzyklopädie des russischen Lebens des fin de siècle genannt, verglichen mit einem vielstimmigen Chor, der, ein Ganzes aufgrund wiederkehrender Themen, Grundtöne und Farben, sinnvoll nur nach Entstehungsdaten geordnet werden könne, so bilden die Texte der Reiterarmee – gleichfalls ein vielstimmiger Chor – in ihrer Anordnung ein fest in sich geschlossenes Ganzes mit einer bis ins Detail aufeinander abgestimmten Struktur, einem musikalisch ausgewogenen Rhythmus – ein Stück, das, in der Musik, am ehesten der Fuge vergleichbar wäre.“ (Nachwort, S. 307)

Auf die Neuübersetzung von Peter Urban sollte man auch zurückgreifen, da die Rezeptionsgeschichte Babels Reiterarmee von Zensur und Verfremdung bestimmt ist. Nicht nur des Bildes wegen, das der Kommunismus als menschenwürdigstes System nach außen tragen sollte, sondern auch Budënnyjs wegen, der ein treuer Begleiter Stalins wurde und blieb.
Beachtet man dies, lässt man sich auf ein großes Leseerlebnis ein, das bestimmt ist von Freude am Discours und Schauder an der Histoire. Lassen wir in diesem Fall dem Erzähler das letzte Wort: „Die Chronik der alltäglichen Greueltaten bedrückt mich unermüdlich, wie ein Herzfehler.“ (54)


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 06.12.2009 11:35 | nach oben springen

#2

RE: Isaak Babel

in Die schöne Welt der Bücher 19.01.2010 19:31
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Danke, LX.C, sehe ich jetzt erst.

Du führst folgendes Zitat an:

Zitat
„Was Babels Texte von den Erzählungen und Kurzgeschichten Čechovs unterscheidet, ist zum einen ihre expressive Bildsprache, ist zum anderen ihre kunstvolle Komposition. Wurden Čechovs Erzählungen in ihrer Gesamtheit eine Enzyklopädie des russischen Lebens des fin de siècle genannt, verglichen mit einem vielstimmigen Chor, der, ein Ganzes aufgrund wiederkehrender Themen, Grundtöne und Farben, sinnvoll nur nach Entstehungsdaten geordnet werden könne, so bilden die Texte der Reiterarmee – gleichfalls ein vielstimmiger Chor – in ihrer Anordnung ein fest in sich geschlossenes Ganzes mit einer bis ins Detail aufeinander abgestimmten Struktur, einem musikalisch ausgewogenen Rhythmus – ein Stück, das, in der Musik, am ehesten der Fuge vergleichbar wäre.“ (Nachwort, S. 307)



Alles stimmt, aber es trifft diese zaubervolle Sprache Babels immer noch nicht.
Man bezeichnete Babel oft als russichen Kafka. Nun gut, diese Vergleiche wird es immer geben, ob zum Nutzen oder Frommen des betroffenen, oder betreffenen Autors, wer weiß das schon zu sagen.

Ausdeuten kann man Babel wohl nicht, auch nicht aus seinen wohl noch weniger bekannten Erzählungen heraus. Deshalb kann, darf und sollte man Babel für sich selbst immer wieder neu entdecken, abseits des pedantischen und oft so abstrakten Rezensentengestöhns.
Diese stille, oft demutsvolle Prosa Babels ist, wie schon angedeutet, eine Sprache der Musik nachgebildet, sie ist niemals Technik, sie ist immer Seele. Auch die Seele des Juden, der reflektiert, oft genug im Angesicht des und trotz alledem immer noch seines - Ichbinderichbin.
Die Trivialität des Kriegsalltags, oft sehr grausam, oft bitter und ungeschminkt, wird hier zum reinen Kontext der Mythe, wird träumender Realismus, wird auch Aufschrei, unhörbar und niemals mehr zu überhören, für das unendliche Leid aller Kreatur.
Wer dieses Buch noch nicht las, den sollte es nicht in Ruhe lassen, bis er es las. Und wer es las, den wird es dann keine Ruhe lassen.

Geht hin, gehet also hin, kauft es, leset es!

Grüße,
Peter

zuletzt bearbeitet 19.01.2010 19:32 | nach oben springen

#3

RE: Isaak Babel

in Die schöne Welt der Bücher 19.01.2010 20:27
von LX.C • 2.821 Beiträge

Ich danke dir, für die Aufmerksamkeit, die Ergänzung und die Aufforderung. Denn so ist es, dieses Werk sollte man gelesen haben.


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[i]Poka![/i]

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