background-repeat

Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Writing under constraint

in Das "andere" Buch 13.05.2009 19:06
von Taxine • Admin | 6.714 Beiträge

Raymond Roussels
"Locus Solus"


Ganz im Gegenteil zu Robbe-Grillet, der Roussels Schreibstil als verschlossene Schublade beschreibt, zu der Roussel uns einen Schlüssel überreicht, bis wir sie öffnen können, sie allerdings leer vorfinden, sehe ich in diesem Stil keine leere Schublade, sondern wir entdecken in der Schublade die Notwendigkeit, sie öffnen zu müssen. Wir stoßen nicht auf Leere, sondern werden durch die Beschreibung seines Bildes in einer abstrakten Darstellung wieder auf das Bild zurückgeführt.
Ein Rätsel, das Roussel für uns auflöst, es damit aus dem Absurden in die Deutlichkeit bringt, erweckt nicht Leere, sondern führt uns durch die vielen Beschreibungen an den Ausgangspunkt zurück. Es ist ein sehr einfallsreicher Kreislauf. Natürlich gibt es bei Roussel keinen Hintergrund, keinen versteckten Sinn, darum mögen die Schubladen leer „wirken“.

Raymond Roussel macht in seinen „Locus Solus“ folgendes:
Er kreiert den Ort des Geschehens mit dem Namen, der gleichzeitig Titel des Buches ist. Hier tut sich ein riesiger Hof mit Kuriositäten auf, durch die Canterel – der Meister und Erfinder – neugierige Menschen führt.
Roussel malt dann jeweils eine Idee gleich einem Bild, auf dem verschiedene Dinge abgebildet sind. Dann beschreibt er das Bild, macht aus der Idee noch einmal die Idee der Umstände, indem er zum Beispiel ein Mosaik nicht nur Mosaik sein lässt, sondern es aus Zähnen zusammensetzt, die verschiedene Farbabstufungen (Nikotin usw.) haben. Daraus ergibt sich ein Motiv, dass durch eine kuriose Maschine zusammengefügt wird. Beide werden detailiert beschrieben.
Manchmal ist sein Bild eine ausgeklügelte Erfindung, ein bewegliches Bild mit interessanten Mechanismen, die natürlich nicht aus einfachen Mitteln und Material gefertigt sind, sondern in ihrer Wirkung dann mit außergewöhnlichen Zusammenfügungen verschiedener Substanzen und Berechnungen (zum Beispiel, dass das Wetter für die Funktion der Maschine eine Rolle spielt).
Roussel beschreibt also das Außen, das Bild und das Motiv, geht dann in das Motiv und erzählt die Geschichte zu dem Bild, erzählt, was passiert ist, um zu so einem Bild zu geraten.
Er malt ein Bild und berichtet dann den Hintergrund, kehrt dann aus der Erzählung zurück und beschreibt den „Mechanismus des Bildes“ in seiner außergewöhnlichen Zusammensetzung vieler Umstände, die zu einer bestimmten Bewegung im Bild (Behälter) führen.
Diese Form der Schreiberei durchzieht das ganze Buch. Dadurch wird es aber nicht langweilig, weil die Geschichten und Ideen zu den einzelnen Kuriositäten und Bildern spannend sind und sich genau in die Form des gezeigten Bildes fügen.
Im Grund führt er wie sein Protagonist den Leser an verschiedenen „Erfindungen“ vorbei, beschreibt sie detailliert und erfindet zu jedem Detail eine dazu passende Geschichte.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 13.05.2009 20:49 | nach oben springen

#2

RE: Writing under constraint

in Das "andere" Buch 13.05.2009 20:50
von Salin • 521 Beiträge
Auch wenn ihn schon jeder kennt:

Andreas Maier
"Wäldchestag"

Ein ganzer Roman im Konjunktiv.
zuletzt bearbeitet 13.05.2009 21:13 | nach oben springen

#3

RE: Writing under constraint

in Das "andere" Buch 13.05.2009 22:24
von larifant • 270 Beiträge

Eine weniger drückende constraint hat die Kurzgeschichtensammlung "The dodecahedron" von dem Kanadier Paul Glennon.
Erinnerung an die Schule: ein Dodekaheder ist ein regelmäßiger Körper, der aus zwölf gleich großen Fünfecken zusammengesetzt ist.
Jedes Fünfeck entspricht einer Geschichte. Jeweils zwei Fünfecke haben eine Kante gemeinsam, die entsprechenden Geschichten verweisen aufeinander bzw. teilen ein Motiv. Jede Geschichte enthält also fünf Referenzen auf andere Geschichten.
Weiterhin berühren sich jeweils drei Fünfecke in einem Punkt. Den Punkte entsprechen inhaltlichen Wiederholungen, wobei in jeder der drei Geschichten eine andere Perspektive auf das Wiederholte eingenommen wird.
Es gibt also keine übergeordnete Rahmengeschichte, sondern die Geschichten enthalten sich gewissermaßen gegenseitig und setzen sich gegenseitig in ein anderes Licht.

Gruß,
L.

nach oben springen

#4

RE: Writing under constraint

in Das "andere" Buch 14.05.2009 07:43
von Salin • 521 Beiträge
In der englischsprachigen Wikipedia gibt es unter "Constrained writing" eine Übersicht mit nicht wenigen Beispielen und einigen Links.
zuletzt bearbeitet 14.05.2009 07:44 | nach oben springen

#5

RE: Writing under constraint

in Das "andere" Buch 14.05.2009 18:53
von Taxine • Admin | 6.714 Beiträge

Hat jemand schon einmal etwas von Harry Mathews gehört? Scheint auch zu experimentieren. Werde etwas von ihm lesen und dann mehr dazu sagen können.




Art & Vibration
nach oben springen

#6

RE: Writing under constraint

in Das "andere" Buch 20.06.2025 21:14
von Taxine • Admin | 6.714 Beiträge

Ein schönes Buch für diese Kategorie:

David Markson
"Wittgensteins Mätresse"


"Die Menschen sind so notwendig wahnsinnig, dass nicht wahnsinnig zu sein zu einer anderen Form des Wahnsinns zählen würde..."

"Welche Schostakowitsch-Symphonie ist es denn, in der man praktisch die Panzer vom Fließband kommen hören kann?"

Wie William Gaddis hatte sich auch Markson gegen Ende seines Lebens mit dem experimentellen Schreiben (der School of difficult writing) beschäftigt, und das gar nicht einmal so schlecht. Er war eine bekannte Persönlichkeit in Greenwich Village, wurde aber größtenteils nur von Kreativen gelesen. So verwundert es auch nicht, dass das Nachwort der deutschen Ausgabe enthusiastische Interpretationen von Jelinek und Foster-Wallace enthält.

Das Buch ist wirklich gelungen, ist sowohl dramatisch als auch humorvoll. Hier schreibt eine Frau, genauer eine zerstreute Künstlerin, alles auf, was ihr so durch den Kopf geht. Gleichzeitig erzählt sie in ihrer eigenen Art von sich, von ihrem Leben und Überlebenskampf, vom dem Verlust ihres Kindes und ihrem Wahnsinn, eingefasst in kunstvolle Übertreibungen. Mit Kunst und griechischer Mythologie kennt sich Markson überhaupt hervorragend aus und flicht diese Dinge gekonnt ein, was das Lesen gerade für Kulturinteressierte zum Genuss macht. Es geht um die Begegnung mit sich selbst und die Frage, was bleibt, wenn nichts mehr existiert als der eigene Schatten. Das Buch ist eigenwillig geschrieben, ein Mix aus Zwiegespräch, Erinnerung und Verdrängung, beleuchtet durch die charmante Verwirrung der Erzählerin, die man schnell ins Herz schließt. Nach einigen Belanglosigkeiten trumpft diese dann immer wieder mit interessanten Fakten auf, z. B. solche:

Zitat
"Wie im Fall Guy de Maupassants, der jeden Tag im Eiffelturm seinen Mittagstisch einnahm. Nun, eben aus dem Grund, dass das der einzige Ort in Paris war, von dem aus er ihn nicht anschauen musste."



Besser wurde Maupassants Charakter wohl noch nie ins Wort gefasst. Oder humorvoll über Wittgenstein:

Zitat
"Das Instrument, das Ludwig Wittgenstein zu spielen pflegte, war eine Klarinette, nebenbei bemerkt. Die er aus irgendeinem merkwürdigen Grund in einem alten Socken herumtrug anstatt in einem Kasten. So dass jemand, der ihn die Straße hinuntergehen sah, gedacht haben könnte, da geht diese Person und trägt einen alten Socken. Und nicht die geringste Ahnung hat, dass Mozart da herauskommen könnte."



Die Erwähnung, dass das Wasser aus den Flüssen (selbst der Themse oder Donau) wieder trinkbar ist, und dass sie in etlichen Museen übernachtet hat, deutet schon darauf hin, was passiert ist. Deshalb hinterlässt sie Nachrichten, Botschaften, die am Anfang sinnlos erscheinen, am Ende dann Sinn ergeben. Der dystopische Effekt ist hier allerdings eher Nebensache, auch wenn das Erzählte darauf aufbaut oder sich der Zustand der Protagonistin dadurch erklärt.

Diese faszinierende und auf den ersten Blick naiv wirkende Sinnsuche entpuppt sich als philosophische Hinterfragung, denn nicht umsonst wird Bezug auf Wittgenstein genommen, ebenso auf Nietzsche, Heidegger und andere. Markson war sehr belesen, was man auch spürt, besonders in den funkelnden Details. Nach seinem Tod hat er seine ganze Bibliothek einer Buchhandlung vermacht, dem New Yorker Strand Bookstore, den er selbst häufig aufsuchte. Die deutsche Übersetzung nimmt dem Buch leider einiges an Suggestionskraft, daher empfiehlt sich die englische Ausgabe. William Gaddis tritt übrigens auch auf, der im Vergleich zu Markson deutlich schwerer zu lesen ist. Weitere experimentelle Bücher von letzterem sind "This Is Not a Novel", "Vanishing Point" und "The Last Novel", die es momentan nur in englischer Ausgabe gibt. Mittleres wird meine nächste Lektüre sein. Schön fand ich auch diesen Satz, fasst er doch hervorragend zusammen, was die Sowjetunion dem einstigen Russland genommen hat:

"Beim Anblick eines Wegweisers, auf dem Stalingrad steht, was hätte sich Anna Karenina dabei wohl gedacht?"

Ja, das ist eine verdammt gute Frage, bei all den tobenden Kriegen und Menschenverschleiß, auch in heutigen Zeiten, als ob ein einzelnes Leben keinen Wert mehr hat.


(Alle Zitate stammen aus der Ausgabe: David Markson "Wittgensteins Mätresse", Berlin Verlag)




Art & Vibration
nach oben springen


Besucher
0 Mitglieder und 13 Gäste sind Online

Forum Statistiken
Das Forum hat 1123 Themen und 24690 Beiträge.

Xobor Einfach ein eigenes Forum erstellen | ©Xobor.de
Datenschutz