HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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"Das Buch von Blanche und Marie"
Als Ausgangspunkt für den Roman, in dem es über die Natur der Liebe geht, wählt Per Olov Enquist drei historische Figuren. Es geht um Blanche Wittman, die als Sechzehnjährige als Hysteriepatientin in die Pariser Nervenklinik „Hôpital Salpêtrière“, kam, und wie Henry F. Ellenberger in „Die Entdeckung des Unbewussten“ mitteilt, „rasch eine der berühmtesten Versuchspersonen Charcots wurde und den Spitznamen >la reine des hystériques< bekam.“ Jean Martin Charcot (1825-1893), der durch seine Forschungen die Entwicklung der Neurologie nachhaltig beeinflusst hat, z.B. die Multiple Sklerose gegenüber anderen neurologischen Krankheiten abgrenzte, forschte auch nach einer organischen Ursache für Hysterie. Im Roman wird erzählt, Charcot zeige Blanche eine Ovariumpresse aus Leder, die am Unterleib von Frauen angebracht werde. Durch anziehen von zwei Schrauben werde das Lederkissen die Gebärmutter der Frau zusammendrücken, „gegen das hysteroide Zentrum gepreßt, um die Anfälle zu stoppen.“
Legendär und umstritten sind Charcots öffentliche Experimente mit Hysteriepatientinnen. Frauen waren hier mehr oder weniger Versuchspersonen, die auch noch öffentlich zur Schau gestellt wurden. Im Roman heißt es:
Zitat von Per Olov Enquist
Das Gerücht von diesen Experimenten hatte sich unter den Intelektuellen in Paris verbreitet, und das Gerücht hatte besagt – dies war im Herbst 1886 – das jetzt Experimente durchgeführt würden, die zeigten, daß die Frau >gewissermaßen als eine Maschine zu betrachten sei, daß bestimmte Empfindungen durch maschinelle Einwirkungen hervorgerufen werden konnten, so daß man durch Druck auf bestimmte, sinnreich erdachte Punkte einen Gefühlsausbruch provozieren konnte.Und diese Gefühle konnten nicht nur herbeigerufen, sie konnten auch zurückgerufen werden, so daß die hysterischen und konvulsivischen Anfälle auf diese Weise bewiesen, daß die Frau, gerade durch ihre Flucht in die Hysterie und durch ihren wissenschaftlich kontrollierten Rückzug aus derselben, verstanden werden konnte, daß die Zeichen abgelesen und kontrolliert werden konnten<
Allerdings besagte, nach Enquist, dieses Gerücht nicht alles. Charcot ging es letzten Dinges schließlich um das Innere des Menschen, welches aufgesucht werden könne. Mir kommt das allerdings etwas konfus vor. Was meint er denn, mit dem Inneren des Menschen? Vielleicht geht es hier schon um die Natur der Liebe. Denn, so erzählt Enquist, der schwedische Schriftsteller August Strindberg sei bei einem Experiment anwesend gewesen, der sich mit der Natur der Frau und der Liebe beschäftigt habe. Mit der Natur der Liebe beschäftigt sich auch Blanche Wittman in ihrem (von P.O: Enquist ausgedachten) Fragebuch, welches sie nach dem Tod von Charcot begonnen hatte und dieses fiktionale Buch das Zentrum des Romans bildet.
Fiktional ist auch Blanches Begegnung mit der zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867 - 1934), die mit mit ihrem Ehemann Pierre die chemischen Elemente Polonium und Radium entdeckte. Blanche habe, so Enquist, in Marie Curies Labor gearbeit. Henry W. Ellenberger sschreibt, Blanche habe in der Salpêtrière in einem radiologischen Labor gearbeitet, sei deswegen „eins der ersten Opfer des Radiologenkrebses“ gewesen.
Zitat von Henry F. Ellenberger
Ihre letzten Jahre waren ein Leidensweg, den sie hinter sich brachte, ohne das geringste hysterische Symptom zu zeigen. Sie mußte eine Amputation nach der anderen über sich ergehen lassen und starb als eine Märtyrerin der Wissenschaft.
Ob Blanche Wittman sich ihre Erkrankung im Laboratorium des Krankenhauses oder fiktional in Marie Curies Laboratorium lässt Enquist offen.
Blanche Wittman will in ihrem Fragebuch, die Natur der Liebe ergründen und erzählt von ihrer (fiktiven) Liebe zu Charcot, die sich nur in ihrem Kopf abspielt, und von den Lieben der Marie Curie. Von ihrem Mann Pierre, der bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist und ihrer Liebesaffäre zu Paul Langevin, die ihr fast ihr gesellschaftliches Ansehen gekostet hat. Sie wurde sogar gebeten, den Nobelpreis von 1911 nicht anzunehmen. Im Roman sollen wohl die verschiedenen Dimensionen und Auswirkungen der Liebe abgetastet werden, die in Verderben und Tod führen kann.
Zitat von Per Olov Enquist
Teilt man sein Dunkel mit dem, den man liebt, entsteht manchmal ein Licht, das so stark ist, das es tötet. Du solltest es wissen, Marie. Du hast ja dieses tödliche blaue Licht gesehen.
Diese Verknüpfung zwischen dem Licht des Radiums und tödlichen Auswirkungen der Liebe, hat mir schon gefallen. Natürlich hinterfragt Marie, ob das dann wirklich Liebe sei.
Die Aussagen über die Liebe bleiben in diesem Roman recht fragmenthaft. Der Roman reift nicht zu tieferen Dimensionen der Liebe hin. So fragmenthaft der Roman erzählt wird, so wird die Natur der Liebe nur bedeutungslos angeschnippelt. Zu tiefen sinnhaften Aussagen kommt der Roman nicht. Die Liebe bleibt amputiert und verletzbar, wie Blanches Torso. Interessant ist in erster Linie die historische Einbettung.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Per Olov Enquist
in Die schöne Welt der Bücher 27.11.2009 13:46von Martinus • 3.195 Beiträge
"Ein anderes Leben" (Autobiografie)
„Ein anderes Leben“ ist die Autobiografie des schwedischen Schriftstellers und Dramatikers Per Olov Enquist. Von Enquist kannte ich bisher nur „Der fünfte Winter des Magnetiseurs“ und „Das Buch von Blanche und Marie“, und ich vermute, zufällig gerade auf die Romane gestoßen zu sein, die wohl nicht zu seinen besten gehören. Enquists Autobiografie veranlasst mich zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Autor, denn in „Ein anderes Leben“ habe ich literarische Glanzstücke gefunden. Die Kapitel über seinen Alkoholismus, der ganze Teil über seine Kindheit ist große Literatur, gerade hier wird, als ob es ein Roman wäre, mit literarischen Mitteln gearbeitet. Es ist bemerkenswert, dass man am Buch äußerlich nicht ausmachen kann, dass es sich um eine Autobiografie handelt. Vielleicht hat der Autor darauf keinen besonderen Wert gelegt.
„Ein anderes Leben“ - das ist das Leben nach dem Alkoholismus, als er wieder Romane schrieb, begonnen mit „Kapitän Nemos Bibliothek“. Er stand am Rande totaler Selbstvernichtung, und glaubte nicht mehr, schreiben zu können, erzählt von Jean Sibelius, er habe seine achte Symphonie komponieren wollen, setzte sich an den Komponistentisch, wo ihm dann die Sehnsucht nach einer Branntweinflasche überkam.
Die Entscheidung des Autors, seine Autobiografie aus der Perspektive der dritten Person zu erzählen, hat sich bewährt, denn dieser Blickwinkel gewährt dem Autor einen Blick von außen auf sich selbst, und der Leser gerät niemals in den Verdacht, hier möchte sich jemand auf den Präsentierteller hieven. Die Gefahr banaler Schreiber besteht ja darin, sich autobiografisch in ihrem Leid zu suhlen, hier ein „weh“ und dort ein „ach“. Per Olov Enquist, der sich hier als vorzüglicher Schriftsteller erweist, ist über solche Banalitäten erhaben. Seine Offenheit und Ehrlichkeit, die er in seinem Werk ausbreitet ist bewundernswert, das betrifft natürlich auch die Kapitel über seine Sucht. Trotzdem, nie hatte ich das Gefühl, dem Herrn Enquist zu intim auf die Füße getreten zu sein. Das ist das Wunder der „Er“- Perspektive und die Größe des Autors.
Zitat von Per Olov Enquist
Riecht es nicht nach Formalin in der Anlage? Man bewahrt die Leichen der Selbstmörder bestimmt im Kühlraum auf. Seine Aufnahmepromille werden ihm mitgeteilt, aber gegen seine Gewohnheit vergisst er sie und will nicht noch einmal fragen.
Obwohl Per Olov Enquist natürlich weiß, dass die Ursache seiner Sucht irgendwo in der Vergangenheit liegen muss, begibt er sich nicht auf Ursachenforschung. Er weiß nicht, woher seine Sucht kommt, lässt aber die Vokabel „Alkohol“ durch das Buch gleiten. Natürlich stutzte ich, als ich Per Olov Enquists Reaktion auf die überschwengliche Rezension zu "Der Sekundant" von Olaf Lagercrantz las, der geschrieben hat, Enquist sei in seinem siebenundreißigsten Lebensjahr zur Meisterschaft gelangt. Enquists Reaktion:
Zitat von Per Olov Enquist
Das genau ist es. Siebenundreißig Jahre und auf dem Höhepunkt seiner Karriere, und was soll jetzt kommen? Leere?
Anfang der 60er Jahre infolge von Magnecylmissbrauch Operation wegen eines Magengeschwürs und zur Enthaltsamkeit gezwungen. Mehrere Jahre kein Tropfen. Damals fiel ihm das leicht. Per Olov Enquist, 1934 im Dorf Hjoggböhle, „zwanzig Kilometer von der Küste und tausend Kilometer nördlich von Stockholm, tief im Wald gelegen“, geboren, aufgezogen von einer christlich sektiererischen Mutter, Bigotterie - es muss gesündigt werden, um regelmäßig beichten zu können - , sein Vater starb, da war er ein halbes Jahr alt. Seine Großmutter sprach im Sterbebett zu Per Olov:
Zitat von Per Olov Enquist
Herzlieb Per-Ola, jetzt sterb ich und du darfst keine Dummheiten machen oder in' Alk'hol g'raten wie e Papa.
1990 beginnt sein anderes Leben. Ein Jahr zuvor ist er in Prag und legt in dieser Autobiografie sein persönliches Zeugnis vom neunten November ab. Am 04. Mai 2001 wurde „Der Besuch des Leibarztes“ im Literarischen Quartett besprochen. Damals trat Per Olov Enquist in mein Bewusstsein ein.
Liebe Grüße
mArtinus
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