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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2007 00:09
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge
Mich zieht's wieder zu den Russen, doch bevor ich mich mal wieder in Dostojewskis Kosmos stürze, versuche ich mich an ein bisschen Moderne.
Juri Andruchowytsch - ein Name der klingt. Der Roman: Zwölf Ringe.

Zum Autor. Er ist 1960 in Iwano-Frankiwsk geboren, inmitten der Westukraine, und lebt dort auch.
Er studierte Journalistik und begann zunächst als Lyriker. 1985 wird er Mitbegründer des legendären literarischen Trios Bu-Ba-Bu (Burlesk-Balagan-Buffonada). Hierbei handelt es sich darum, die Poesie der Bubabisten live in szenischen Lesungen und lyrisch-musikalischen Performances zu präsentieren. Er hat schöne Essays draußen, zusammengefasst in "Das letzte Territorium", und unter "Mein Europa" (Ergebnis einer gemeinsamen Reise durch den unbekannten europäischen Osten), alles sehr lesenswert, mit schönen Humor. Sein Roman "Moscoviada" werde ich mir nach den "Zwölf Ringen" zur Gemüte führen, denn er soll noch ein Stück besser sein. Aber zunächst zu diesem Roman:
Der Inhalt zusammengefasst:
Zitat von
Karl-Joseph Zumbrunnen, österreichischer Fotograf mit galizischen Wurzeln, reist in den neunziger Jahren immer wieder durch die Ukraine. Die Geburtswehen eines neuen Staates, die Ungleichzeitigkeit von brutal geschmackloser Kommerzialisierung, rückwärtsgewandter Huzulenfoklore, Resowjetisierung und Habsburg-Nostalgie faszinieren ihn. Das Chaos der postsozialistischen Übergangszeit scheint ihm unendlich reizvoller als das langweilige Leben im Westen – vor allem, seit er sich in Roma Woronytsch verliebt hat, seine Dolmetscherin.
Er begleitet sie auf einem abenteuerlichen Ausflug in die Karpaten. Was sich in der Bergeinsamkeit, im »Wirtshaus auf dem Mond«, einem ehemaligen Observatorium und späteren Sporthotel, abspielt, wo zwischen Videofilmern, Stripteasetänzerinnen, Bodyguards und Intellektuellen der verfemte Dichter der ukrainischen Moderne, Bohdan-Ihor Antonytsch, höchstselbst umgeht; wie Zumbrunnen am Ende zu Tode kommt und seinen wunderbar lyrischen Nachtflug über Mitteleuropa antritt – all das erzählt Andruchowytsch so mitreißend, mit so viel Intelligenz und Ironie, daß wir erst spät erkennen, warum dieser postmoderne Heimatroman aus der Ukraine in Wirklichkeit von uns und dem Westen handelt.


(Suhrkamp)

Es handelt sich um eine wunderbare Groteske. Alleine die ersten Seiten trieben mich schon in viele Lachanfälle. Dazu gleich.

Als einleitenden Satz verkündet Zumbrunnen in seinen Briefen:
Zitat von
Alles, was wir uns wünschen, vorstellen und erhoffen, trifft auch unausweichlich ein. Aber immer zu spät und nie so, wie wir es erwartet haben. Wenn es uns schließlich begegnet, erkennen wir es nicht einmal. Deshalb fürchten wir uns meist vor der Zukunft, vor Reisen, Kindern, vor Veränderungen.


In Antwort auf:
Der Abschied von der Jugend ist gar nicht so tragisch, wenn direkt darauf die Reife beginnt.

Sehr amüsant, als Zumbrunnen bei einem Vertreter um eine Ausstellung bittet, der ihm weismachen will, dass sein Volk „fast 10000 Jahre alt ist, dass die Ukrainer mit den kosmischen Kräften des guten in direkter Verbindung stehen und nach Schädelform und Augenbrauenwölbung fast der typisch arischen Spezies zugehören“.
In Antwort auf:
Ich war gezwungen, seinen chaotischen Vortrag mit ein paar unbequemen Fragen zu unterbrechen, auf die er nur blöde blinzelte.
Ich fragte zum Beispiel: Gut, wenn Sie tatsächlich über eine so alte und mächtige Kultur verfügen, warum dann dieser Gestank auf Ihren öffentlichen Toiletten?
Warum ähneln die Städte faulenden Abfallgruben? Warum stirbt die Altstadt, Viertel um Viertel, warum brechen die Balkone von den Fassaden, warum haben die Hofeingänge kein Licht, und warum tritt man dauernd auf zerbrochenes Glas? Wer ist schuld daran – die Russen? Die Polen? Andere zersetzende Elemente? Gut, mit Städten sind Sie überordert, aber was ist mit der Natur? Warum kippen Ihre Bauernrüpel – diese, wie Sie sagen, Träger einer zehntausendjährigen zivilisatorischen Tradition – all ihren Schweiß einfach in die Flüsse, und warum stößt an, wenn man durch Ihre Berge wandert, fünfmal häufiger auf Eisenschrott als auf Heilpflanzen?


Der Ausgang nach solch gewagter Befragung ist vorhersehbar:
In Antwort auf:
Es führt eben zu höchst unerfreulichen Resultaten, wenn man eine derart staatstragende, wie zum Hohn den Archivtiefen eines vulgarisierten 19. Jahrhunderts lebendig entrissene Person mit der hiesigen Wirklichkeit konfrontiert.


Auch der reumütige Umschwung seiner Ausführungen ein paar Monate später ist wunderbar und voller Wahrheit, denn ich habe es in diesen Regionen und fast überall in Russland, wo ich gewesen bin, selbst so erlebt:
In Antwort auf:
mir das Recht gegeben, sie zu belehren und mit dem Finger auf all die Schlaglöcher und Goldzähne zu zeigen? Sie leben so, wie es ihnen gefällt, denn sie sind bei sich daheim, und ich habe schon deshalb unrecht, weil ich ein Fremder bin. Und das Großartigste, was man ihnen keinesfalls nehmen kann, ist ihre schnapsselige Warmherzigkeit. Dank einer höheren Vorsehung sind sie überhaupt unendlich viel menschlicher als wir. Unter Menschlichkeit verstehe ich die Gabe, sich unvermittelt zu öffnen und selbst im Fremden den Nächsten zu erkennen.


Hier gilt dann:
In Antwort auf:
Wenn man es ablehnt, ihr Mahl zu teilen, ist es, als nähme man ihnen das Recht auf gegenseitiges Verständnis.


Und auch wieder ein bisschen philosophisch:
In Antwort auf:
Das Geheimnis der Welt besteht einfach in unserer Unfähigkeit, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Dabei existiert in Wirklichkeit nur eine einzige Ordnung.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 20.08.2007 17:30 | nach oben springen

#2

RE: Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2007 00:09
von Ferro
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Wertet Taxinchen,

bei Andruchowytsch kann ich nur eines sagen: Oahhh hmhmhm hm hm yeah!

Was in etwa heißt: Langanhaltendes Stöhnen im Genuss!

Habe seine Romane sehr genossen. Später dann mehr, wenn du ein bisschen hineingefunden hast.

Mit Grüßen
der Ferro
zuletzt bearbeitet 16.08.2007 00:11 | nach oben springen

#3

RE: Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2007 00:10
von Jo
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Hallo.

Ja, lustig schreibt er. Aber "Zwölf Ringe" war mir teilweise zu wirr. Das wirkte auf mich, als wollte der Autor vor den Augen des Lesers sein "Schreibkonzept" aufbauen. Dieses Kreieren der Helden.

Trotzdem bin ich nicht abgeneigt, auch "Moscoviada" von ihm zu lesen.

Es grüßt
Jo
zuletzt bearbeitet 16.08.2007 00:11 | nach oben springen

#4

RE: Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2007 00:12
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge
Och, am Anfang ist es etwas verwirrend, aber, als Andruchowytsch dann mit Artur Pepa loslegt und seinen Schreibblockaden, seiner zukünftigen Impotenz aufgrund fehlender Erregung durch seine Ehefrau ("Kann man denn eine Frau vögeln, die eine volljährige Tochter hat?" ), da war ich ein bisschen an Herzog von Bellow erinnert, nur schreibt Andruchowytsch viel lustiger.

Die Geschichte wechselt hier aus der Perspektive von Zumbrunnen zu den Helden, die hier tatsächlich erst einmal Stück für Stück in Worten aufgebaut, "erschaffen" werden. Dann konzentriert sich der Autor auf Artur Pepa, wobei das Kapitel sich auch um dessen Gedanken um den Tod und die "Kunst zu Schreiben" drehen:
(Bekanntlich sind Gedanken an den Tod unmissverständliche Symptome einer Lebenskrise.)

In Antwort auf:
Das Bewusstsein, dass man ständig etwas von dir erwartet, dieser liebend-ungeduldige, permanente Druck von außen zwingt dich zur Eile, zwingt dich dazu, dich selbst zu verlieren.



In Antwort auf:
Schreibschwäche zeugt meist von einer Verwüstung der Gefühlswelt, und der Tod dringt immer dort ein, wo es an Liebe mangelt.


Dann auch der Lyrikband, den er herausgebracht hat (ein Buch von zwei), das ihn sofort auf die Liste "der potentiell von Repressionen bedrohten Schriftsteller" bringt, weil darin unter anderem folgende Dichter (ausgedacht von ihm selbst) auftreten:
Einer, der eine Art surrealistische poésie en prose schreibt, ein anderer, der gereimte obszöne Couplets an der Grenze von Soft- und Hardcore-Pornographie verfasst, oder ein Neo-Narodnik, wie auch ein Massenmörder, der seine Zeilen den jeweiligen Opfer widmet.
An Ideen mangelt es dem Herrn offenbar nicht.

Jegliche Versuche, sich einem ausführlichen Roman zu widmen, scheitern schon vorher an den hohen Ansprüchen des Literaten (was ihn sehr sympathisch macht )
Hier gilt das, was sein alter Gymnasialprofessor verkündete:
In Antwort auf:
... das wahre Wissen besitzt nicht derjenige, der von etwas weiß, sondern derjenige, der etwas weiß.

Und, sobald Artur Pepa merkt, dass seine Idee Ähnlichkeiten mit anderen Romanen entwickelt, nicht im Inhalt, sondern vielleicht von der Form oder durch einen "magischen Realismus" eines Márquez, kann in seinen Augen das Buch niemals "das Buch" werden. Ein Perfektionist eben, der selbst in Gedanken seinem Hang zu phonetischen Spielereien nachgibt.
In Antwort auf:
Denn selbst wenn er mit seinen Gedankenströmen und Monologen allein war, hörte Artur Pepa nicht auf, professioneller Literat zu sein.


Natürlich besteht zwischen allen Gestalten ein Zusammenhang, und Zumbrunnen wird sich, wie man erwarten darf, in die Frau von Pepa verlieben. Aber, noch ist alles offen.
Zunächst ergießt sich Pepa weiterhin in Gedanken, wie das richtige Buch aussehen müsste, was er daran fühlen, riechen, schmecken, erleben müsste (unter anderem müsste er, so heißt es, auch Frau werden, um eine Vergewaltigung zu erfahren, oder zum Beispiel die Syphilis am eigenen Leib spüren), um es überhaupt schreiben zu können. Nachdem er (zuvor seitenlang) alle Gerüche, Gewalttätigkeiten, "Ornamente" aufgezählt hat, erkennt er:
In Antwort auf:
... in Wirklichkeit sollte sein Roman sehr fragmentarisch werden, ungefähr hundert maschinengeschriebene Seiten, und nichts von dem Genannten sollte darin auftauchen, nur das Wissen darum musste präsent sein - anders konnte man so einen Roman einfach nicht schreiben.

und
In Antwort auf:
Als er sich dessen bewusst wurde, schreckte Artur vor dem Gedanken zurück, irgendwelche Notizbücher und Diktaphone zu kaufen, alte Bücher, Militärkarten, Digitalkameras, auf endlose Expeditionen zu gehen und vielleicht nicht zurückzukehren, das Gesammelte zu systematisieren und zu klassifizieren, es ganz in sich aufzunehmen, ein Teil der Sammlung zu werden, in ihr zu vergehen, mit einem Wort: Flaubert zu sein. Aber er wollte nicht Flaubert sein, und deshalb wurde sein Roman nicht geschrieben.


Noch besser ist seine Ausrede, warum das Buch noch nicht geschrieben ist:
In Antwort auf:
Er zögerte den Moment der Materialisierung bewusst hinaus, indem er sich einbildete, dies werde sein letzter Roman sein, sozusagen die Erfüllung seiner hiesigen Bestimmung, und dass, wenn er erst geschrieben wäre, der Weg zum Tod von oben freigemacht würde.


Hier also treffen sie alle zusammen, alle auf Einladung, alle im gleichen Gasthaus.

In Antwort auf:
Mein Freund, gegürtet einsam von der Nacht
verwoben ins Geheimnis unsrer Welt,
komm mit am Abend dieser Frühlingspracht
ins Wirtshaus auf dem Mond - Schnaps ist bestellt!



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 16.08.2007 00:13 | nach oben springen

#5

RE: Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2007 00:12
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge

Dieses letzte Zitat stammt vom Dichter Antonytsch. Andruchowytsch wurde vorgeworfen, dass er ihm einfach eine fiktive Biografie angedichtet und aus dem schüchternen Bücherwurm einen exzessiven Bohemien kreiert hat. Was davon nun wahr ist oder nicht, sollte den Leser eigentlich nicht interessieren, denn Andruchowytsch öffnet hier zwei verschiedene Blicke auf den einstigen Dichter, die

In Antwort auf:
den Eindruck nicht erwehren, dass von zwei verschiedenen Menschen die Rede ist, die in ihrem wirklichen Leben so weit voneinander entfernt sind, dass sich ihre Umlaufbahnen auch zufällig kaum je schneiden würden.

Er zeigt einmal den Blick eines guten Bekannten, mit dem Antonytsch oft unterwegs war, bei dem er als Frauenheld, Verschwender, stets einfallsreich, witzig und eher als Gelegenheitsdichter gezeichnet wird, der ab und zu in bester Laune mal ein Poem schmetterte, während der andere Biograf aus ihm einen langweiligen, verschlossenen, zu keinem Gesrpäch fähigen, aber konzentriert arbeitenden Dichter macht. Auch behauptet Andruchowytsch, dass die "despote Tante", bei der Antonytsch gewohnt haben soll, eigentlich seine alternde Geliebte war. Hm...
Wenn ich mir die wenigen biografischen Daten zu Antonytsch ansehe, dann findet man nicht viel Lyrik und Literatur von ihm, gewiss aber bleibt, dass er die "Drei Ringe" geschrieben hat, aus denen Andruchowytsch wohl seinen Titel gewonnen hat. Antonytsch selbst war lange verboten, bis er schließlich in den Sechzigern mit seiner philosophisch-religiöse, mit Komik, folkloristischen und heidnischen Symbolik angereichterten Lyrik großen Einfluss auf die zeitgenössische, ukrainische Literatur ausübte. Anontytsch starb an einer simplen Blinddarmentzündung im Alter von 28 Jahren.
Andruchowytsch macht daraus einen Selbstmordversuch, den er mit seiner heimlichen Geliebten unternimmt, um der Qual der Ehe zu entgehen, und der von den "Theaterschaffenden" verschleiert und als Blinddarmentzündung ausgelegt wurde, um die Schande kleiner zu halten.




Art & Vibration
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#6

RE: Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 18.08.2007 15:52
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge
Von dem langen Blick auf Antonytsch schwenkt Andruchowytsch wieder zu der geladenen Meute. Sie sitzen um einen Tisch und frühstücken, während Artur Pepa bereits betrunken ist, und seine Frau Pani Roma für Zumbrunnen übersetzt.
Dabei ist der Antonytsch-Experte, der am laufenden Band spricht (und das nicht schlecht):
Zitat von
Noch für unsere Großeltern war ein „Haus“, ein „Brunnen“, ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel unendlich mehr, unendlich vertrauter. Fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere, gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen … Die belebten, erlittenen Dinge, unsere Gefährten, geraten in Vergessenheit und können durch nichts ersetzt werden.

oder
In Antwort auf:
Damit ein Kunstwerk unsterblich wird, muss es die Grenzen des Menschlichen transzendieren.


Danach wird die Stimmung freuchtfröhlich.
Artur Pepa schlägt eine Wette vor, dass er eine Flasche Schnaps in einem Zug austrinken kann, während Zumbrunnen nur immer wieder die berechtigte Frage stellt: "Wozu?"
Artur Pepa hat sicherlich einen Hintergedanken, denn er ist geübt im Trinken. Er möchte einfach berauscht sein und zusätzlich noch eine weitere Flasche Schnaps bekommen. Das ist der Gewinn für den Sieger.
Nach allem Hin und Her, nach dem kurzen Eingreifen von Pani Roma, die ihren schon angetrunkenen Mann bremsen will, was ihr jedoch nicht gelingt, gewinnt dieser, was den armen Zumbrunnen nun zwingt, 13 Kilometer in völligem Rausch (denn er hat das volle Glas Schnaps wenigstens zu Dreiviertel bewältigt) zu laufen, um die Wette einzulösen.
Andruchowytsch versteht es, diesen ganzen "Nebel" ins Wort zu fassen, die langsamen Bewegungen Zumbrunnen gegenüber dem rasenden Geschwätz der anderen darzustellen. Der gute Mann versteht sowieso nur Bruchstücke, und durch den Rausch fasst er Wörter auf und kann sie nicht zusammenfügen.
So entsteht in seinem Kopf eine Stadt mit Namen "13 Kilometer", worauf er sich in Schritten erklärt, dass so eine Stadt existieren könnte, dass es so einen Ort auf der Welt geben müsste, während der begeisterte Pepa ihm ja nur die Kilometer zum Schnapsladen genannt hat.
Sehr lustig zu lesen.

Zumbrunnen und Pani Roma, Pepas Frau, hatten wohl schon früher das Vergnügen, und Zumbrunnen hat schon etliche Versuche unternommen, Pani Roma von diesem trunkenen Kerl zu befreien, sie mitzunehmen, doch sie hat bisher immer abgewehrt. Sie nennt ihren Mann in Gedanken nur "Blödmann".

Amüsant zu lesen, wie Artur Pepa (wahrscheinlich im Traum) in das Schlachtengetümmel einer Feier gerät, wo die zahnlosen Weibsbilder ihre viel zu männlichen Tänze aufführen, und er, Artur Pepa, mittendrin steht. Hier werden die Huzulen ein bisschen näher beschrieben. Die Rede ist von Tänzern, die "sieben, acht, ja zwölf Stunden am Stück tanzen", wobei Artur Pepa nur denkt, dass sind
In Antwort auf:
...diejenigen, die nicht Blut, sondern Feuer in sich hatten, die mit den Ruten aus Stahl, aber davon konnte hier ja wohl keine Rede sein.


Die alten Weiber bedrängen ihn immer mehr, umtanzen und begrabschen ihn, wobei Pepa darauf verfällt
In Antwort auf:
sich wie ein Korkenzieher zu drehen, um sich der Umarmung seiner Partnerin zu entziehen und unbemerkt zu entschlüpfen.

Kein Wunder, wenn die zahnlose Meute lüsternd nach dem jungen Burschen greift (denn gegen die ist er allemale jung) und ihm ins Ohr flüstert:
Zitat von
Hast geschmissn dein G'hirn in Brunn, oder verkauft im Basar, dass 'd Witwe di hat behexn könn? Wo hat nur geschlafn dein Verstand, Goldbub, dass 'd zwanzick Jahr Lehrgeld musst zahln?

und
Zitat von
Nix sag mehr, Arturtschyk-Bürschle, nur dass d'heut Nacht bleibst bei uns, Jüngele, süß Liebe machn, bis morn küssn...

Da schüttelt es den trunken Pepa, wo er bei aller Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht nun von diesen Damen umgeben ist.


Dann gibt es noch Magierski, der hier einen Werbespot drehen will. Er hat sich zwei hübsche Mädchen mitgebracht, die auf die Namen Lili und Marlen hören.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 18.08.2007 18:36 | nach oben springen

#7

RE: Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 19.08.2007 17:37
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge

Andruchowytsch ins Wort zu fassen, das "erlebte Lesen" wiederzugeben, gestaltet sich schwierig. Ob nun Pepas verwirrte Träume oder überhaupt den Humor zwischen in Zeilen.

Darum kann ich immer nur Gedanken und Bilder festhalten. Zum Beispiel:

Zitat von Andruchowytsch

Wir sind es gewohnt, dass der Körper eines Menschen seinem individuellen Gestaltungswillen gehorcht. Er bewegt sich im Raum, gestikuliert, schützt sich vor Stößen, hält seine eigenen, vom Bewusstsein vorgegebenen Koordinaten ein. Wir gehen davon aus, dass es sich um ein unteilbares Ganzes handelt, das spricht und lacht, sich an seinesgleichen wendet, Blicke erwidert, sich im Spiegel betrachtet. Diese bewegliche körperliche Hülle ist für uns so wichtig, dass sie alle anderen Interpretationen und Bedeutungen mit einschließt – ja, wir sind vor allem Körper, und deshalb entzieht uns jede Abweichung von der Norm den Boden für Gemeinsamkeiten mit dem Rest der Welt. Ein toter menschlicher Körper, das ist absolute Abweichung.


Der Tod:
Zitat von Andruchowytsch
Gut, nennen wir es Schlaf, aber einen ewigen. Obwohl dann die Metapher, die doch durch den Vergleich mit dem Normalen beruhigen sollte, eine noch schrecklichere Bedeutung bekommt, denn es gibt nichts Unmenschlicheres, nichts Schrecklicheres als die Ewigkeit. Daher sollte man den Tod nichts mit dem Schlaf vergleichen. Höchstens umgekehrt.


Nachdem Zumbrunnen spurlos verschwunden ist, man verzweifelt nach ihm sucht, findet Magierski ihn schließlich im Fluß, wo
Zitat von Andruchowytsch
... sein Haar in der Strömung trieb wie die Wassergewächse Tarkowskijs.

Das kommt unerwartet.
Tarkowskijs Algen, die im Wasser in völliger Schönheit mit der Strömung hin und her fließen, sind mir besonders aus "Solaris" in Erinnerung.
Hier im ersten Film zu sehen.




Art & Vibration
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#8

RE: Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 20.08.2007 17:15
von Taxine • Admin | 6.671 Beiträge
Zitat von Andruchowytsch
Das menschliche Leben insgesamt ist eine schändlich traurige Angelegenheit. Mancher würde sagen, es dauert zu lange, oder es handelt sich in Wirklichkeit um verschiedene, an einer Kette aufgereihte Leben, von denen das nächste immer noch sinnloser und nichtiger erscheint als das vorausgegangene.



Alles gerät in ein Chaos und ordnet sich wieder, gewinnt Zusammenhang. Am Ende dann schaltet sich der Autor selbst ein, ist Schöpfer und Teufel, wird zur Deus ex machina und räumt die Szenerie auf.
Zumbrunnen erkennt aus neuer Sicht im Flug über die Welt, dass hauptsächlich Leere zwischen den Dingen liegt. Wenigstens finden Pani Roma und Artur Pepa wieder zusammen, und zwar in einem Chrysler Imperial. Wie in vielen Sätzen ist das eine Andeutung Andruchowytsch auf etwas anderes. Es handelt sich um eine Meta-Metapher von Bu-Ba-Bu, wobei das riesige Automobil als Vorbote der nahen "amerikanischen Zukunft" gilt. (Auch wird Antonytsch in diesem Zusammenhang zitiert:

Wie Sternenstücke die zerschellt sind, schlafen auf dem Friedhof der Maschinen tote Autos (...)

und

Der Schlaf der Leichen aus Metall wird oft gestört von Menschen, den Schakalen,
sie präsentieren Waren auf dem Markt - Bedürfnis, Streben und Begierde,
die toten Rümpfe werden in der dunkelblauen Nacht zum Sündenlager
und böse Sterne gießen Qualen aus auf Narren, Schlampfen, die da ortlos lieben.
)

In einem anderen Roman Andruchowytschs ("Rekreationen") fährt z. B. der Abgesandte der Hölle selbst einen Chrysler.

Und, was ist Zumbrunnen jetzt?
Zitat von
In Wirklichkeit hatte er seine ganze Anthropomorphizität dort zurückgelassen, auf den zusammengeschobenen Schreibtischen, im Gebäude der ehemaligen Folterkammer, später Hauptwache, irgendwo in den östlichen Karpaten. In Wirklichkeit war er ein Wölkchen, eine Träne im Ozean, nur eine Träne, ein Pünktchen, ein Elementarteilchen des Mondlichts.
In Wirklichkeit war er alles.

Und wo er alle Eitelkeit ablegt, wo sein Körper eine Handvoll Asche wird - Staub, der ihn nichts mehr angeht - darf er die "leuchtenden Stufen" erklimmen, die
Zitat von
... was für eine Überraschung! - nach oben führten.

Im Rückblick auf das ganze Durcheinander ist nichts und alles wahr oder wirklich gewesen, je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet. Träume gehen in die Realität über, die Realität ist nur Schein, der Tod kein Hindernis, die Grenzen des Metaphysischen werden einfach überschritten. Der Leser fügt seinen Teil an Verständnis hinzu, daraus entwickelt sich das ganze Buch. Was irritierend bleibt, sind die Sprünge mal in die Protagonisten, mal im Blick von außen, mal aus der Sicht des Autors, mal aus dem Blick anderer Protagonisten. Damit geht die Möglichkeit verloren, sich ganz und gar auf den Protagonisten einzulassen, sich völlig in ihn hineinzufühlen. Aber, sicher war das auch nicht die Absicht des Schriftstellers.
Im Grunde hat er einen Roman geschaffen, der voll von Realität, Fiktion, Poesie, Traum, Phantasie, parallele Welten, ja, einer seltsamen Vielstimmigkeit ist. Man fällt von der Briefkorrespondenz Zumbrunnens auf den Schreiber Pepa, der das eine Buch schreiben wird, in die Unzufriedenheit der Liebe, in die Vergangenheit eines Dichters und landet auf dem "Mond". Wenn das kein Stoff zum Nachdenken ist.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 20.08.2007 17:57 | nach oben springen

#9

RE: Juri Andruchowytsch

in Die schöne Welt der Bücher 25.09.2007 00:54
von Bernd Schweinfurth
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Ein Beitrag für Juri Andruchowytsch für seinen Gastvortrag auf der NGO-Tagung vom 28.09.-02.10.2007 in Kiew

Wir schämen uns für Deutschland
Menschenunwürdiges Verhalten in der Deutschen Botschaft in Kiew bei der Visavergabe

„Vergiss-mein-nicht - Hilfe für Kinder und Jugendliche e.V.“ ist ein humanitäres Hilfswerk. Die Geschäftsstelle befindet sich in Mühltal bei Darmstadt. Das von mehreren Mitarbeitern der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau -EKHN ins Leben gerufene Hilfsprojekt eröffnet noch in diesem Jahr nach einer zweijährigen Bauphase ein Kinder- und Jugendhaus in der west-ukrainischen Stadt Ivanychi. Das Haus soll Heimat für sozial benachteiligte Kindern und Jugend-lichen sein, die keine rosigen Zukunftsaussichten haben.

Viele kirchliche Jugendgruppen in den unterschiedlichsten Regionen Deutschlands beteiligen sich inzwischen an diesem Projekt. Regelmäßig werden Hilfsgütertransporte zu einem Kinderheim und zu einem Krankenhaus durchgeführt. In Zusammenarbeit mit Jugendverbänden aus Landes- und Freikirchen werden bilaterale Begegnungen zwischen deutschen und ukrainischen Jugendlichen organisiert. Langfristig möchten die Initiatoren auch Arbeitsplätze schaffen und ein Ausbildungs-zentrum aufbauen, um der Abwanderung und Flucht von Jugendlichen ins Ausland wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten zu begegnen. Alle Mitarbeiter/innen sind ausschließlich ehren-amtlich bei „Vergiss-mein-nicht“ in ihrer Freizeit aktiv - viele davon sind Schüler. Mit ihrem Engagement möchten die Helfer zur Völkerverständigung beitragen, Vorurteile zwischen Ost und West abbauen und Heranwachsende unterstützen, die nicht das Glück hatten in einem behüteten Elternhaus aufzuwachsen.

Die Mitarbeiter/innen von „Vergiss-mein-nicht“ mussten nun feststellen, dass ausgerechnet die Deutsche Botschaft in Kiew das Haupthindernis ist für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des deutsch-ukrainischen Kinder und Jugendprojektes. Trumpfkarte der Deutschen Botschaft ist dabei das „Visa“. Einer ukrainischen Familie mit zwei kleinen Kindern , die sich für „Vergiss-mein-nicht“ sozial in Ivanychi engagiert, wurden überraschend die Visa verweigert. „Vergiss-mein-nicht“ hatte die Familie für ihre aufopferungsvollen sozialen Verdienste zu einem Sommerurlaub nach Deutschland eingeladen. Die Deutschen Botschaft in Kiew verweigerte die Visa mit der atemberaubenden Begründung, es bestehe Gefahr, die Familie könne illegal in Deutschland untertauchen und nicht mehr zurückkehren. Das sich der Vorsitzende des Hilfswerks, Bernd Schweinfurth persönlich für die Familie verbürgte und auch darauf hinwies, dass er doch auch mit seinem Ehrenwort als stellvertetender Präses eines Evangelischen Dekanats für die Angelegenheit gerade stehe, war der Deutschen Botschaft keiner Aufmerksamkeit wert. Ahnunglos lies man stattdessen die Familie 500 km nach Kiew anreisen, um dann die fadenscheinige Absage zu verkündigen. Dass der Familienvater, beruflich in der Ukraine ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, für eine deutsche Firma mit Weltruf, Produkte als Generalvertreter in der Ukraine vertreibt, die Ehefrau als Dolmetscherin arbeitet und die Familie gerade ein gekauftes Haus in Ivanychi zu einem Gewerbezentrum umbaut, war für das Botschaftspersonal kein Grund von den Verdächtigungen abzusehen.

Das ganze ist leider kein Einzelfall. Immer mehr Hilfswerke, Geschäftsleute und kirchliche Organisationen machen auf die zweifelhaften Praktiken bei der Visavergabe in der Deutschen Botschaft in Kiew aufmerksam. Das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland gerät immer mehr in Misskredit.

Ukrainer, die beabsichtigen zu einer Geschäftsreise oder zum Urlaub nach Deutschland zu reisen, müssen sich vor Visaerteilung einem scharfen Verhör den Botschaftsangestellten unterziehen. Ukrainer berichten, dass sie sich bei einem solchen Verhör mit Prostituierten und Kriminellen auf eine Stufe gestellt fühlen.

Mit dieser Praxis wird in der Deutschen Botschaft auch noch kräftig Geld verdient. Allein für die Erhaltung eines Termins in der Visastelle wurden der Familie 10,00 EUR in Rechnung gestellt, die eigentliche Visabeantragung kostete dann 140,00 EUR. Das entspricht in etwa dem durchschnittlichen Monatslohn eines ukrainischen Arbeiters. Selbstverständlich werden bei Nichterteilung der Visa die einbehaltenen Gebühren nicht zurückerstattet. Ein Vorgang, den „Vergiss-mein-nicht“ für sehr bedenklich hält.

Die Mutter der beiden Kinder, der das Hilfswerk viel zu verdanken hat und die sich selbstlos für die Arbeit vor Ort in der Ukraine einsetzt, war in Tränen aufgelöst. Als Mitarbeiter von Vergiss-mein-nicht schämen wir uns für die Vorgehensweise der Deutschen Botschaft. Wir bedauern es, wie unter der Führung von Botschafter Reinhard Schäfers unschuldige ukrainische Staatsbürger, in diesem Fall eine Familie, die sich für soziale Belange einsetzt, diskreditiert und bei der Visavergabe mit Kriminellen auf eine Stufe gestellt wird. Ein solches Verhalten ist anmaßend und zu verurteilen.

Ein Blick auf die Geschichte lehrt uns, dass die Beziehungen zur Ukraine von besonderer Bedeutung für unser Land sind. Die derzeitige Praxis der Visavergabe schürt Vorurteile, diskriminiert ukrainische Staatsbürger und behindert die Förderung deutsch-ukrainischer Begegnungen.


gez. Bernd Schweinfurth
Vorsitzender Vergiss-mein-nicht

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