HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Die toten Seelen
„Geben Sie mir nur eine Vorstellung davon, was für eine Art Mensch er ist“ (469), könnte man durchaus als Motto Nikolai Gogols Romanwerk „Die Toten Seelen“ (1842) festhalten. Die Gesamtheit aller Charaktere und Lebensart ergibt schließlich ein Bild Russlands Anfang des 19. Jahrhunderts.
Doch jeder Roman benötigt ein Motiv, das Handlung möglich macht. Das scheint in diesem Fall fast Vorwand. Es wiederholt sich immer wieder in abgewandelter Form, um dem genannten Motto die Tür zu öffnen.
Pawel Iwanowitsch Tschitschikow war einst Beamter diverser Behörden in denen er jeweils eine betrügerische Kariere machte und daher stets, noch mit einem blauen Auge davonkommend, aus dem Dienst ausgeschlossen wurde. Tschitschikow ist ein schlauer, erfinderischer, schlüpfriger Charakter, der sich in die jeweiligen Gegebenheiten bestens einzufügen weiß. Auf sein Gegenüber kann er sich bestens einstellen und einen vortrefflichen Eindruck schinden, um das zu erreichen, was er möchte. Er wickelt die Menschen um den Finger und instrumentalisiert sie für seine Zwecke.
Aus den Betrügereien seiner Beamtenlaufbahn hat er sich trotz Beschlagnahmung seines Besitzes eine kleine Summe zurücklegen können, ein paar feine Kleider und eine kleine Kutsche. Mit seinen zwei lebendigen Leibeigenen, Kutscher und Diener, zieht er nun, dem Staatsdienst endgültig den Rücken gekehrt, über das weite russische Land, von Gutsbesitzer zu Gutsbesitzer, und versucht denen ihre toten Bauern abzukaufen, oder noch besser, sie geschenkt zu bekommen, denn geizig ist unser Tschitschikow obendrein.
Wie ist das möglich und was soll das bringen, fragt man sich. Tote Seelen sind zu jener Zeit, der Roman spielt um 1814, für die Gutsbesitzer eine finanzielle Last. Auf sie muss er so lange Abgaben zahlen, bis eine staatliche Revision ins Haus steht, bei der die Leibeigenen eines Gutes neu gezählt und registriert werden. Und das konnte im großen Russland sehr lange dauern.
So erschleicht sich Tschitschikow eine feine Liste Leibeigener, die ihn, wenn sie nur an die dreihundert Bauern erreicht hat, zu einem recht ehrbaren Mann macht. Doch welcher Betrüger betrügt schon um der Ehre willen. Auch die Kreditwürdigkeit eines Gutsbesitzers bemisst sich zu jener Zeit nach Leibeigenen. Und da liegt der Knackpunkt. Auf jeden Leibeigenen lässt sich eine Hypothek aufnehmen, und zwar bis zu 200 Rubel. Das macht auf eine geschenkt bekommene tote Seelen, die offiziell solange lebt, bis auch Tschitschikow auf seinem imaginären Gut eine Revision ins Haus stehen würde, einen Gewinn von sagenhaften hundert Prozent.
Doch nicht alle lassen sich so leicht um den Finger wickeln. Und so spricht sich nach und nach in dem kleinen Städtchen, in dem er im ersten Buch Quartier bezieht, herum, was der Fremde, der sich bereits Freunde in allen Positionen gemacht hat, für ein dubioser Zeitgenosse ist. Da eine solche Verfrorenheit, tote Seelen zu kaufen, kaum zu glauben ist, kommen noch etliche Gerüchte hinzu. Sie lassen Tschitschikow letztlich keine andere Wahl, als schleunigst aus der zunächst so gastfreundlichen Stadt zu fliehen und das Weite zu suchen.
Im zweiten Buch nehmen die Geschäfte ihren Lauf. Noch mehr als zuvor wird jedoch der Schwerpunkt aufs Land verlegt. Tschitschikow reist von Ladgut zu Landgut, von Dorf zu Dorf, gastiert hier und dort und lernt noch intensiver, und wir mit ihm, die unterschiedlichsten Charaktere kennen. Schließlich gelangt er in eine Gegend, in der auch er sich vorstellen kann, sesshaft zu werden, eine Familie zu gründen und ein beschauliches Leben als wahrhaftiger Gutsbesitzer zu führen. Ein eigentliches Ziel der ganzen Aktion wird sichtbar: „Wenn er nur erst auf diese toten Seelen eine Hypothek aufgenommen und sich ein wirklich existierendes Gut angeschafft hätte! Er sah sich bereits wirken und alles verwalten“ (446)
Er kauft sich in bester Nachbarschaft, eifrige, ehrbare Leute, die allesamt gewillt sind, dem stattlichen Herrn zu helfen, ein heruntergekommenes Landgut mit gerade mal noch an die fünfzig lebenden Bauern. Wie wir den ersten Zeilen des Romans entnehmen können, ist das so gut wie gar nichts: „Gutsbesitzer, deren Besitz an Bauern nur etwa hundert Seelen beträgt […] die man Herren zweiten Rangs nennt.“ (7) Und auch unsere Annahme scheint nichts Wert zu sein. Denn plötzlich (das unfertige zweite Buch weist Sprünge und Widersprüche auf), finden wir Tschitschikow dann doch wieder in einer Stadt verweilend in betrügerische Machenschaften verwickelt.
Er muss sich des Vorwurfs der Testamentsfälschung erwehren. Zunächst im Gefängnis festgesetzt, kann er sich einmal mehr herauswinden und flieht erneut aus der Stadt. Ob sich Tschitschikow nun doch noch zu einem guten Herrn über Land und Bauern entwickelt oder erneut etwas Betrügerisches im Sinn hat, lässt sich nicht mehr sagen, das zweite Buch, insgesamt sollten es nach Angabe des Erzählers sogar drei oder vier Bücher werden, bricht unfertig ab.
Wie bereits angedeutet ist das eigentlich Faszinierende an diesem Buch die Reise durch Russland des beginnenden 19. Jahrhunderts und die Lebenswelten, die sich dem Leser erschließen. Diese Lebenswelten bieten uns auf mentalitäts- und mikrogeschichtlicher Ebene ein vortreffliches Bild des russischen Zarenreiches kurz nach dem Sieg über Napoleon.
Den Eindruck, den Gogol vom Stadtleben und Beamtenstreben vermittelt, schließt sich durchaus nahtlos an die Novellen „Die Nase“ und „Der Mantel“ an. Wieder steht der schwerfällige Apparat im Fokus, Korrumpierbarkeit, Geltungssucht und Dekadenz.
Komplettiert wird dieses Bild durch die Hinzufügung des Landlebens, das wir auf literarisch vortrefflichste und inhaltlich vielfältigste Weise kredenzt bekommen. Das Leben auf dem Land wird immer aus der Perspektive der Gutsherren oder Tschitschikow beschrieben, also von oben. Wer dabei nun noch auf Erzählungen Tschechows und Bunins über das schwere Leben der Bauern, also einer Sicht von unten, zurückgreifen kann, dem wird sich ein wahrhaftig prächtiges Phantasiegewebe entfalten.
Wir erfahren über die Gesetzmäßigkeiten und Gepflogenheiten russischer Gutsbesitzer und der Leibeigenschaft einerseits. Andererseits direkt über die unterschiedlichen Charaktere und Mentalitäten der Gutsherren, an denen, und das ist oftmals das Tragische, im schlimmsten Fall nicht nur sie selbst zu leiden haben, sondern mit ihnen die gesamte Bauernschaft. So reisen wir durch prächtige Dörfer, mit ehrgeizigen, fleißigen Gutsherren, die ihre Leibeigenen nach Eigenschaften bemessen und achten, sie fordern, aber auch unterstützen. Auf der anderen Seite geraten wir in düsterste, traurigste Ecken. In Dörfer, die aufgrund von Misswirtschaft so heruntergekommen sind, dass den Bauern buchstäblich die Bretter unter den Füßen wegfaulen. Armseligste Bilder tun sich in einem auf, die mit Szenen besagter Erzählungen Tschechows, beispielsweise „Die Bauern“, aber auch Filmszenen aus „Die Generallinie“ korrespondieren.
Wir treffen beispielsweise auf das Ehepaar Manilow, die Tschitschikow ob seiner großstädtischen Kultiviertheit verehren. Die in einer Art eigenbrötlerischer Verträumtheit einem solchen Leben nachsinnen ohne es wirklich in Angriff nehmen zu wollen. Dafür sind sie zu bequem. Diese Bequemlichkeit schlägt sich auch auf das Gut nieder. Dem Verwalter sei Dank läuft es noch gewinnbringend, ohne das große Potential, das dieses durchaus zu bieten hätte, wirklich auszuschöpfen.
Ganz anders Sobakewitsch. Ein prächtiger, gewaltiger Bursche von Gutsherrn. Bauernschlau könnte man ihn bezeichnen, ohne ihm besondere Intelligenz zu bescheinigen. Er verachtet das städtisch dekadente Leben und alle, die ein solches frönen. Sein Gut ist in bester Ordnung, der Herr selbst ein Arbeitstier und Geschäftsmann, der gute Arbeit und seine Leibeigenen zu schätzen weiß. An ihm beißt sich auch Tschitschikow geschäftlich fast die Zähne aus.
Ausgeschlagen hätte ihm diese beinahe Nosdrew. Ein Spieler und Lügner vor dem Herrn. Er erfindet die großartigsten Geschichten über sein Land und die niederträchtigsten über seine Landsleute. Auch Freunde verschont er nicht. Dabei ist er in permanenter Geldnot, die auch die Wirtschaft seines Gutes nicht mehr auffangen kann. Dieses ist ihm im Grunde egal, so lange es noch etwas zum verpfänden hergibt.
Pluschkin hingegen ist ein ganz tragischer Fall. Einst ein florierender Gutsbesitz mit Überschussproduktion trieb sein eigener Wahnsinn Gut und Dorf in den Ruin. Alles verfault, selbst das Korn im Speicher, während der Herr durch die Straßen flaniert und wie ein Messie den Müll der Bewohner in sein Gutshaus trägt. Wie ein Aasfresser wittert unser Seelenkäufer hier natürlich besonders fette Beute.
Das sind lediglich vier Beispiele aus dem ersten Buch. Viele weitere Schicksale schließen sich an, die im Leser das Bedürfnis wach halten und steigern mehr über die ökonomischen, gesellschaftlichen Strukturen auf dem Land im russischen Zarenreich des beginnenden 19. Jahrhunderts zu erfahren.
Bleibt noch ein Loblied auf den Erzähler zu singen. Der setzt mit seiner charmanten und leicht ironischen Präsenz dem Literarischen das I-Tüpfelchen auf. Er ist nicht Teil des Figurenensembles, sondern steht außerhalb der Ebene des Erzählten. Er besitzt eine allumfassende Übersicht, der Fachkundige mag an den Begriff auktorial denken, übertreibt dies aber nicht. Meist bleibt er dicht bei unserer Hauptfigur und erlaubt sich nur selten größere Ausflüge, wie beispielsweise ein kritischer Seitenhieb auf die zeitgenössische Literatur.
An dieser hier gibt es, wie man nun gelesen hat, wenig zu kritisieren. (Die stilistischen Schwächen des unfertigen zweiten Buches kann man Gogol nicht zum Vorwurf machen.) Einmal mehr hat sich ein unvollendeter Roman in der Literaturgeschichte durchgesetzt. Warum das theoretisch so ist, das erfährt man an eben jener Kritik des Erzählers an den Autorenkollegen Gogols, die sich mit dem Selektionsprinzip der Philologie durchaus deckt. Das praktische Moment erfährt man dann ganz von selbst, wenn man in diese Welt hinein gesogen wird.
(Zitate: Gogol, Nikolai: Die toten Seelen, Anaconda, Köln 2009.)
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[i]Poka![/i]
RE: Nikolai Gogol
in Die schöne Welt der Bücher 03.10.2010 13:49von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Nachdem Gogol den zweiten Teil beendet hatte, forderte ihn sein Beichtvater, der Priester Matwej Konstantinowski, auf, der Kunst endgültig abzuschwören, sich von Puschkin, diesem „Sünder und Heiden“, loszusagen und sich durch Askese zu heilen. Puschkin hatte ihn dazu bewegt, endlich sein großes Werk zu beginnen, indem er ihn auf Cervantes verwies, der zwar auch einige Erzählungen schrieb, jedoch, wie man weiß, mehr durch sein Hauptwerk bekannt wurde. Gogol übernahm sogar die Idee von Puschkin und setzte sich an die „Toten Seelen“.
So flossen dann etliche Jahre dahin, Gogol verließ und betrat Russland, Puschkin starb im Duell, Verzweiflung, Depression, Schreibblockaden und Kreativität lösten einander ab. Doch als der Beichtvater gesprochen hatte, übergab Gogol in der Nacht zum 12. Februar 1852 sein komplettes Manuskript dem Feuer.
Sein junger Diener soll ihn auf Knien angefleht haben, das Unglück zu verhindern und die etlichen Seiten zu retten, leider ließ sich Gogol von seinem Vorhaben nicht abbringen. Danach verweigerte er jegliche Nahrung, fastete sich langsam zu Tode und starb am 21. Februar 1852. In seiner Nachlassliste stand verzeichnet: "Ein paar wertlose Kleider".
Der zweite Teil der „Toten Seelen“ ist also nur gefundenes Material seines Nachlasses, was die Widersprüche und Sprünge erklärt.
Das Buch sollte insgesamt an Dantes „Göttlicher Komödie“ angelehnt sein, warum Gogol wohl auch insgesamt drei größere Teile – also Hölle, Fegefeuer und Paradies plante. Was uns präsentiert wird, ist damit nur die Hölle und ein bruchstückhafter Teil des Fegefeuers. Kein Wunder, dass die Figuren überspitzt dargestellt sind, zumeist hässlich und gierig und von schlechter Natur, wie es der „Höllenvision“ zusteht.
Stark sichtbar wird in Gogols „Toten Seelen“ seine Abneigung gegen die immer oberflächlicher werdende Welt mit der Übermacht unnötiger und scheinverbesserter Errungenschaften und Ablenkungen, gegen den Müßiggang, gegen das Fest und die Verschwendung. Die einzig schöne Figur ist der Gutsherr Kostanschoglo im zweiten Teil, der Tschitschikow dazu rät, mehrere Jahre harter Arbeit einem ruhelosen oder müßigen Leben vorzuziehen, um dann daraus seinen Lohn zu gewinnen, was bei Tschitschikow vergeudete Zeit ist, weil er diesen Lohn natürlich materiell deutet. Alle anderen sind tatsächlich Karikaturen, die ganz bestimmte Gesinnungen verkörpern und auch verkörpern sollen. Gogol gibt seinen Gestalten nicht umsonst charaktereigene Namen und ordnet ihnen gleich noch ihre Steckenpferde zu.
Da sind dann also u. a. der verrückte Oberst Koschkarjow, der auf seinem Gut ein ganzes Bürokratenwesen samt völlig unnötiger Formalitäten betreibt, das dazu noch in keinster Weise funktioniert, der schöne Platon, dem alles gleichgültig ist und der, trotz seiner Vorzüge, keinerlei Interessen hat und vor Langweile umkommt, der Gutsbesitzer Cholubjew, der seine Bauern verhungern und seinen guten Boden verkommen lässt, aber sich trotz allem mit unnötigem Luxus umgibt, der seine einzige Zuflucht in seinem Glauben findet, der ihm, statt zu Handeln, weismacht, er müsse dieses Schicksal tief gebeugt (und jammernd) ertragen, ohne zu erkennen, dass er selbst in der Lage wäre, es zu ändern. Und schließlich ist da Tschitschikow selbst, der am Anfang, trotz seiner Eitelkeit und berechnenden Art, noch relativ sympathisch wirkt, weder zu dick noch zu dünn, ein regelrechtes und eher unscheinbares Mittelmaß, bis Gogol sich die Mühe macht, seine komplette Vergangenheit aufzudecken und ihn in eine übergroße, extra bereitete Schublade an Hinterhältigkeit und Betrug zu stecken, die sich vor lauter Gier und Leichtlebigkeit nicht mehr schließen lässt.
Als Tschitschikow sich auf die Suche nach den toten Seelen macht, um sein Schein-Gut zu erbauen, ist nicht so sehr sein eigener Charakter von Interesse, der sich hier über jeden Tod freut und trotz der sehr galanten und angelernten Art der Höflichkeit an keinerlei Menschengeschick interessiert ist, als vielmehr die Menschen, die er um die toten Seelen bittet, die sich in seinem Angebot in ihrer Reaktion spiegeln und damit offenbaren, wer sie sind. Sichtbar wird ihr Misstrauen, ihre Gutwilligkeit, ihre Gier, ihr Geschäftssinn oder ihre Hilflosigkeit. Das ist von Gogol wirklich sehr beeindruckend dargestellt.
Was auch ungewöhnlich ist, ist dass Gogol immer dann, wenn es spannender wird, das Geschehen schnell wieder abbricht, regelrecht in sich zusammenstürzen lässt, als ginge es ihm tatsächlich ausschließlich um den ewigen Erwerb toter Seelen, um den herum kleine Erzählabzweigungen stattfinden. Das erste Mal sticht so eine Situation am Ende des ersten Teils ins Auge, als die Gerüchte aufkommen (auch als ein Sinnbild, wohin Tratsch führen kann), Tschitschikows Tun von der Stadt durchschaut und dieser von ganz neuer Seite betrachtet wird. Die Gemüter sind richtig erhitzt, es gibt viel Gerede, ein Staatsanwalt stirbt sogar vor Schreck, und was tut Tschitschikow? Er fährt einfach klamm und heimlich davon und das Buch (der erste Teil) endet.
Nun könnte man erwarten, im zweiten Teil endlich auf mögliche Konsequenzen zu treffen, aber nein, dagegen beginnt alles ganz woanders wieder völlig neu, nur der Seelenkauf ist immernoch von großem Interesse, auch wird Tschitschikow endlich näher beleuchtet.
An anderer Stelle, als er für Tentetnikow (der gogol’sche Oblomow) den General aufsucht und dessen schöne Tochter kennenlernt, kommt eine erneute, leichte Spannung auf.
Irgendwie traut man ihm zu, hier falsches Spiel zu treiben, gerade in seiner Reaktion auf das Erscheinen der Tochter und seiner allgemeinen Gleichgültigkeit den Menschen und ihren Leiden und Leidenschaften gegenüber, solange er darin keinen Vorteil sieht, stattdessen spitzt sich alles so zu, dass er sein Vorhaben dann doch gänzlich so ausführt, wie zuvor schon enthüllt. Keinerlei Konflikt, keine Auseinandersetzung.
Zu bedenken ist natürlich, dass gerade an dieser Stelle ein großer Teil des Textes fehlt und nur auf Bericht eines Freundes Gogols zurückgegriffen werden kann, dem er die Stelle wohl einmal vorgelesen hat. Da möchte man dann doch öfter einmal aufschreien: Ach Gogol, warum nur hast du immer wieder so viel Text verbrannt? (Natürlich gibt er die Antwort selbst, als er die Arbeit von fünf Jahren, den zweiten Teil der „Toten Seelen“, zum ersten Mal verbrennt:
„Erst müsse man sterben, um dann auferstehen zu können“.
Als die Flamme das letzte Blatt verschlungen hatte, entstand ... „der Inhalt plötzlich in geläuterter und lichter Form wieder wie der Phönix aus der Asche, und ich sah, wie ungeordnet noch gewesen war, was ich bereits für geordnet und wohlaufgebaut gehalten hatte.“)
Durch die fehlenden Stellen und die Entwicklung des Romans, kann der Leser jedoch trotzdem in etwa erahnen, was Tschitschikow alles veranstaltet hat, um zu Reichtum zu gelangen. Skizzenhaft bewegt man sich zwischen den Wörtern, Gesprächen und Szenen voran. Gogols Intention ist sowieso klar. - Hört auf, euch ständig mit Nichtigkeiten abzulenken und arbeitet für Gott, Mensch, Moral und Würde. Oder kurz: seid nützlich!
Er zeigt die menschlichen Verfehlungen und ihre stark auf Nichtigkeit gelenkten Bedürfnisse auf, hinter denen ihre „wahren Seelen“ absterben.
Die Figur Murasow, von der Kostanschoglo sagt, er wäre der weiseste Mensch, der ihm je begegnet ist, hätte ich gerne ausführlicher kennengelernt, statt aus den letzten Buchfetzen. Schön ist, als er (Perlen vor die Säue) Tschitschikow rät:
Zitat von Gogol
Es kommt nicht auf irdische Güter an, um die sich die Leute streiten und gegenseitig umbringen; als wenn es möglich wäre, sich in diesem Leben bequem einzurichten, ohne an das Jenseits zu denken. Glauben Sie mir, Pawel Iwanowitsch, solange die Menschen nicht darauf bedacht sind, ihren geistigen Besitz zu ordnen, wird auch der irdische nicht in Ordnung kommen.
(…)
Denken Sie nicht an ihre toten Seelen, sondern an Ihre eigene lebendige Seele…
Als Gogol Puschkin seine ersten Kapitel vorlas und erwartete, dass er herzlich lachen würde, wie es seine Art war, wurde dieser stattdessen immer ernster und rief dann schließlich aus: „Mein Gott, wie traurig ist unser Russland!“
Gogol war erstaunt, denn auch Puschkin sah in seinem Werk etwas anderes, als ihm Vorschwebendes. Er sagte:
„Das machte mich betroffen. Puschkin, der Russland so gut kannte, sollte nicht bemerkt haben, dass all das eine Karikatur war und meine eigene Erfindung? Da erst begriff ich, was es bedeutet, wenn etwas aus der Seele genommen ist, überhaupt eine seelische Wahrheit, und wie fürchterlich sich dem Menschen die Finsternis und der erschreckende Mangel an Licht darstellen kann.“
Daraufhin überarbeitete er die Kapitel wieder und strich „die größten Ungeheuerlichkeiten“.
Auch sagt Gogol ganz bewusst:
„Die Helden meiner letzten Werke, insbesondere der „Toten Seelen“, waren weit entfernt davon, Porträts von wirklichen Menschen zu sein…“
(Möglich, dass ich Rosanow entweder falsch verstanden habe oder er Gogol, das wird sich noch zeigen.) Ihm wurde lediglich nachgesagt, er hätte ein naturalistisches Bild gezeichnet, um Kritik an Russland zu üben, die einerseits auf völliges Unverständnis, andererseits auf viel Lob traf.
Die Zensur dagegen empörte sich bereits über den Titel, denn: „… die Seele ist unsterblich, tote Seelen kann es nicht geben, der Autor zieht wohl gegen die Unsterblichkeit zu Felde!“, wie Golochwastow (der beim Zensurkomitee präsidierte) so zeitgemäß ausrief, bis man ihm erklärte, dass es sich hierbei um Revisionsseelen handelt.
Da muss dann doch noch einmal ausdrücklich betont werden, dass Gogol keineswegs echte Menschen darstellen wollte (eigentlich aus seinen Figuren ersichtlich) und schon gar nicht beabsichtigte, Kritik an der Gesellschaft oder am Land zu üben, sondern lediglich am Menschen selbst, in seiner oberflächlichen Entwicklung, die ihn von Natur und Gott entfernt.
Zitat von Gogol
Die Aufklärung verwirrt die Geister und macht die Leute zu Don Quichottes. Schulen werden gegründet, von denen man sich nicht hat träumen lassen. Sie bilden Menschen heran, die weder auf dem Lande noch in der Stadt zu brauchen sind: lauter Säufer, die gleichwohl eine hohe Meinung von ihrer eigenen Würde haben.
(…)
Sehen nicht weiter, als ihre Nase reicht, setzen aber ihre Brillen auf und steigen trotzdem aufs Katheder.
Sein Rat:
Zitat von Gogol
„Der Landwirt hat keine Zeit, sich zu langweilen. In seinem Leben gibt es keine luftleeren Räume – jede Minute ist ausgefüllt.“
(…)
„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, heißt es in der Bibel. Daran ist nicht zu rütteln. Eine jahrhundertealte Erfahrung lehrt, dass Ackerbau den Menschen moralischer, reiner, edler und besser macht. Ich sage nicht, dass man sich nicht auch mit anderen Dingen befassen soll, aber die Landwirtschaft muss immer die Grundlage bleiben – das ist es, worauf es ankommt. Wirklich notwendige Betriebe, die alles das herstellen, was an Ort und Stelle gebraucht wird, werden immer gewissermaßen von selber entstehen, nicht aber solche Fabriken, die nur Bedürfnissen dienen, deren Befriedigung die Menschen verweichlicht.
Trotz der eher dürftigen Handlung, die tatsächlich einem langen Flur gleicht, auf dem Gogol in der Haut von Tschitschikow einfach nur eine Tür nach der anderen öffnet, um darin die „im Zimmer sitzenden Missgeburten“ vorzuführen, macht sich der Schriftsteller häufig die Freude, seinen Figuren detailgenaue Anhängsel und humorige Beschreibungen hinzuzufügen, dass damit bestimmte Stellen regelrecht aufklappen, während doch eigentlich nichts passiert, geschweige denn eine Detailgenauigkeit notwendig wäre. Aber genau das macht wohl den gogol’schen Stil aus und nötigt den Leser häufig ins Gelächter. Auch sind bestimmte Situationen so liebevoll lustig geschildert, dass man sie kaum wieder vergessen kann, wie z. B. der Vergleich des roten Kopfes und des roten Samowars oder der betrunkene Kutscher Selifan, der mit einer Schnur festgebunden werden muss, damit er nicht vom Kutschbock fällt, wobei dann alles, was Tschitschikow dazu einfällt, ist: „So ein Schwein!“
Gogol beherrscht sowohl die satirische Darstellung wie auch die Situationskomik. Sein Werk wechselt zwischen sehr ernsten, poetischen und wiederum sehr lustigen Gegebenheiten, seine Figuren zwischen flüchtigen Randgestalten bis zu deutlich festgelegten Charakteren mit jeweiligem Namen, Denken und Eigenart. Das führt dazu, dass der Leser mit Leib und Seele in diese Welt hineingezogen wird, auf etliche Gesichter, Meinungen, Übertreibungen und dazwischen auch immer die Stimme des Schriftstellers trifft.
Tschitschikow gebraucht das Buch hindurch einen Standardspruch, den er mehrmals anführt, um sich für sein Dasein zu rechtfertigen. Ich glaube, darin liegt sehr viel der gogol’schen Seele, der selbst viel gereist ist, der die Reise benötigte, um schreiben zu können. Tschitschikow sagt:
… eigentlich reise ich doch zu meinem Vergnügen, denn, man sage, was man will, die Welt mit ihren ganzen Menschengetriebe kennenzulernen ist wie die Lektüre eines lebenden Buches, wie das Studium einer Wissenschaft für sich…
Gogol schrieb in einem Brief:
„Reisen ist auf wunderbare Weise heilsam für mich.“
... und in den "Toten Seelen" selbst:
Zitat von Gogol
Hergott, wie schön ist doch zur rechten Zeit solch eine weite Fahrt! Wie oft hab ich als ein Verzweifelnder, als ein Ertrinkender danach gegriffen, und jedesmal hat sie mich gütig herausgerissen und gerettet. Und wieviel wunderbare Pläne formten sich, welch holde Dichterträume...
Und so reist man dann eben mit ihm an den toten und lebendigen Seelen vorbei durch Russland in holden Dichterträumen und erfreut sich an den Feldern und Wegerändern solch bewegender Literatur.
Art & Vibration
Zitat von Taxine
In seiner Nachlassliste stand verzeichnet: "Ein paar wertlose Kleider".
!
Ich glaube, er hat uns den wertvollsten Mantel hinterlassen, den die Weltiteratur zu bieten hat. (War es Dostojewski, der sagte - das wir alle aus Gogols Mantel stammen?).
Danke für dieses kleine, aber sehr feine Essay über Gogol, liebes Taxinchen.
In der Tat, ein großartiger Text, den du da verfasst hast, mit Tiefgang und viel Hintergrundinformationen, die mir neu waren. Danke dir herzlich.
Nur eins möchte ich kurz ergänzen:
Zitat von Taxine
Da muss dann doch noch einmal ausdrücklich betont werden, dass Gogol keineswegs echte Menschen darstellen wollte (eigentlich aus seinen Figuren ersichtlich) und schon gar nicht beabsichtigte, Kritik an der Gesellschaft oder am Land zu üben, sondern lediglich am Menschen selbst, in seiner oberflächlichen Entwicklung, die ihn von Natur und Gott entfernt.
Kritik an der Menschheit selbst, ja, aber exemplarisch anhand der eigenen Lebenswelt. Was abseits der Metaebene wiederum Rückschlüsse zulässt. Nicht umsonst der erkennende Ausruf Puschkins. Und auch du hältst letztlich fest:
Zitat von Taxine
Und so reist man dann eben mit ihm an den toten und lebendigen Seelen vorbei durch Russland
Das wäre nicht möglich, wenn die "keineswegs echten Menschen", die verschiedensten Charaktere trotz Karikatur nicht so lebendig und authentisch scheinen würden. Sie sind irgendwie auch ein Querschnitt der damaligen russischen Lebensart.
Aber gut, das soll keineswegs als Kritik an deinem tollen Essay verstanden werden.
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[i]Poka![/i]
RE: Nikolai Gogol
in Die schöne Welt der Bücher 04.10.2010 22:26von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
O, das freut mich. Vielen Dank, dass es euch gefällt. Das Buch wirkte eine ganze Weile nach, und diese Gedanken schoßen dann irgendwann regelrecht aus mir heraus. Dazu gibt es von Kurt Liebmann ein schönes Gogol-Lesebuch, in dem ich die Hintergrundinformationen gefunden habe.
Darin auch folgendes Zitat von Gogol, das wahrscheinlich jeder kennt und aus "Beim Verlassen des Theaters" stammt, das aber so schön ist, dass es hier in den Ordner und vielleicht 1000 x wiederholt gehört:
Zitat von Gogol
Ich weiß, dass es manchen unter uns gibt, der herzlich gern über die krumme Nase eines Menschen lacht und der dann nicht den Mut hat, auch über die krumme Seele des Menschen zu lachen.
Zitat von LX.C
Das wäre nicht möglich, wenn die "keineswegs echten Menschen", die verschiedensten Charaktere trotz Karikatur nicht so lebendig und authentisch scheinen würden. Sie sind irgendwie auch ein Querschnitt der damaligen russischen Lebensart.
Ja, da hast du recht. Sie sind vielleicht sogar ganz allgemein der Querschnitt "Mensch". Die Figuren wirken auch darum so lebendig auf uns, weil jede Karikatur in der wirklichen Welt für sich so häufig vorkommt und dann zusammengefasst einem Charakterbild entspricht, das uns an vielen Ecken trotzdem tagtäglich begegnet. Die Welt ändert sich zwar beständig, aber die Ansichten und Vorurteile, die Eigenarten und Selbsteinschränkungen, die Überheblichkeiten und Verzweiflungen bleiben durch alle Zeit hindurch gleich, nur die Umstände wechseln. Und wenn z. B. Gogol die Leibeigenen nicht selbst näher beschreibt, so zeigt sich doch jeder Gutsbesitzer in seinem ganz eigenen Profil. Und wo ein Gutsherr ist, da ist trotz allem auch eine Gesellschaftskritik, auch wenn Gogol Russland über alles geliebt hat. Satire ist sowieso fast immer Gesellschaftskritik.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Danke auch von mir für den "Gogol-Text"! Jetzt wird mir gute 2o Jahre später durch Deinen Beitrag klar, weshalb ich auch bei aller Nachwirkung leicht irritiert war: Es gab gar keine Lücken zu begreifen. Es waren Lücken.
Was den Mantel anbelangt, hätte ich selbigen anziehen sollen und einen Spaziergang machen. Das Buch war nach den Seelen eine empfundene Nullnummer für mich.
www.dostojewski.eu