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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Hanns Cibulka

in Die schöne Welt der Bücher 23.06.2011 11:40
von LX.C • 2.821 Beiträge

Wegscheide

„Es gibt Tage, da überkommt mich das Gefühl der Sinnlosigkeit. Es ist ein Schmerz, wie ein Finsterwerden im Herzen“ (99)
Wegscheide ist die Situation, in der sich die Hauptfigur Johannes zum Zeitpunkt seiner Tagebuchaufzeichnungen befindet. Wegscheide ist das Omen der Zeit, das sich für die DDR ankündigt. Aber auch der Name eines Gasthofes in Tambach Thüringen. Hier hat der Tagebuchschreiber vor Jahren in einer Hütte, die nicht wintertauglich ist, sein Zweitdomizil aufgeschlagen, hierher kehrt er regelmäßig zurück, im Jahr seiner Aufzeichnungen vom Frühlingsbeginn bist zum ersten Schnee.
Sein Tagwerk als Bibliothekar, das ihn vollkommen eingenommen hatte, hat er niederlegen müssen. Das Rentendasein hat begonnen. In seiner Hütte versucht er die vielen freien Stunden, die ihm seither gegeben sind, neu zu gestallten. Nun ist mehr Raum für eigene Gedankengänge und Bedürfnisse, die ihn doch wieder auf das zurückwerfen was sein Leben ausmachte: Musik und Literatur. Endlich ist Zeit für die Bücher, die stets liegen geblieben sind, und für ein intensiveres Eintauchen in die klassische Musik. Im Fokus stehen Dostojewskis Großinquisitor, der von einer christlichen Großmacht erzählt, die ihre Ursprünge und Ideale verraten und verkauft hat. Eckharts Predigten aus dem Mittelalter, die einen Mann vorstellen, der entgegen aller Dogmen seiner Zeit den freien Gedanken liebte und das freie Wort praktizierte, und Schuberts Wandermotive, die Abschiedsmelancholie und Aufbruchstimmung zugleich verheißen.
Diese Motive hat der Autor Hanns Cibulka (1920-2004) gewiss nicht ohne Bedacht herausgegriffen. In Einschüben dokumentiert sein Hauptprotagonist und Erzähler, beide fallen in der Tagebuchprosa zusammen, den Ist-Zustand eines abgewirtschafteten, bankrotten Staates.
Die Generation, die sich mit den Umständen arrangiert und sich eingerichtet hat, repräsentiert neben Johannes selbst dessen Freund, der Intarsienschneider Robert. Robert geht wie ein Eremit seinem Restaurationshandwerk nach, sieht die Missstände um ihn herum, kritisiert sie, ist aber doch den Umständen verhaftet, die sein Leben prägten. Zu seinem täglich Brot gehört der Kasten Bier, der sich im Laufe des Tages Flasche für Flasche leert.
Johannes Sohn, der seinem Vater in der Sommerhütte einen kurzen Besuch abstattet, dient dagegen als Projektionsfläche der Generation, die sich mit den lähmenden Zuständen im Land nicht mehr abfinden will. Die Generation, die wenig später die DDR zu Fall gebracht hat. Zarte Andeutungen, wie die Hinwendung des Sohnes zur Kirche allein aus Protest muten wegweisend an.
Das Ansprechen von Tabuthemen der DDR, wie Alkoholismus, Selbstmord, Wettrüsten, Umweltverschmutzung oder Raubbau zur Devisenbeschaffung zeigen, wie sehr Cibulka bemüht war, den Zeitgeist der 80er Jahre einzufangen und mit Hochkultur und Naturbetrachtungen gespickt an den Mann zu bringen. Vermutlich wusste Cibulka schon über die Protestbewegungen bescheid, die sich im Umfeld der Kirchen gebildet hatten. Er selbst galt in der DDR-Ökobewegung als eine Art literarischer Wortführer. Bücher von ihm waren von offizieller Seite nicht gerne gesehen. Doch Cibulka wusste seine Kritik gut zu verpacken. Wer „Wegscheide“ anliest denkt zunächst tatsächlich, hier geht es um einen zurückgezogenen, über Literatur, Musik, Natur und sich selbst sinnierenden Ruheständler. Der kritische Blick kommt sukzessive zum Vorschein. Erst zwischen den Zeilen, dann vereinzelte Zeilen, schließlich werden uns ganze Absätze eines beobachtenden und reflektierenden Zeitgenossen präsentiert, der den Abgesang der Moral eines angeblich dem Menschen verschriebenen Systems vor Augen führt. Der Machtbegehren, Vorteilnahme und Eigennutz sowie die Mechanismen, die dahinter stecken aber auch in den Gesamtkontext Menschheit einzuordnen weiß. Ist die Wegscheide also wirklich vollzogen? Oder sitzen wir längst in einem neuen Gefängnis mit anderen Wärtern?
„Ein sattes, ein zu bequemes Leben hat für Menschen immer etwas Schädigendes, die geistigen und seelischen Metamorphosen sterben ab, das Leben gleicht einem Gefängnis, von Jahr zu Jahr werden die Stäbe dicker.“ (104)
Das Schicksal der DDR hat sich zumindest entschieden. Und gerade weil das Vergangene im Treiben der Zeitgeschichte und im alltäglichen Ringen um das Aufrechterhalten eines nun maßgebenden Status quo zunehmend aus dem Alltag verdrängt wird und in Vergessenheit gerät, sind Momentaufnahmen wie „Wegscheide“ von Hanns Cibulka unverzichtbare Gedächtnisorte der Literatur.

(Zitate: Cibulka, Hanns: Wegscheide, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1988.)


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 23.06.2011 12:11 | nach oben springen


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