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Literatur und Krankheit
in An der Literatur orientierte Gedanken 01.09.2011 14:58von Martinus • 3.195 Beiträge
Ich denke zu diesem Thema finden wir auf Dauer sicher einige interessante Literaturen. Ich beginne mal:
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
Arno Geiger hat ein literarisch formloses Buch über seinen Vater geschrieben. Es ist kein Roman, keine Fiktion. Der Vater leidet an Alzheimer Demenz, die Krankheit hier aber nur sekundär auftritt, in erster Linie es aber um das Verhältnis zwischen Vater und Sohn geht. Eine subtile Annäherung an den Vater, dessen Herkunft auch beleuchtet wird. Als die Krankheit einsetzt, der Vater seine ersten Aussetzer hatte, wird falsch reagiert. Der Vater wird für ein Fehlverhalten kritisiert, was durch seine Erkrankung verschuldet ist. So wird es in vielen Familien sich zugetragen haben, bis irgendwann die Erkenntnis einsetzt, der Vater ist krank. August Geiger geht immer mehr in sein Exil, in seine Krankheit, sodass er wie ein heimatloser sich nach Hause sehnt, obwohl er ja physisch zu Hause ist. Aber der Geist zerfällt, die ganze Persönlichkeit, und das ist die Fremde, die dieser Vater fühlt. Arno Geiger hat diesen Vorgang an sich sehr schön erzählt, warum er aber die Alzheimer Erkrankung zur Metapher erklärt, ist seltsam. Alzheimer als
Zitat von Arno Geiger
..ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen o
Orientierungsprobleme und Zukunftsängste.
(Seite 58).
Ich habe den Eindruck, mit diesem Gesellschaftsbezug soll der Text literarisch erhöht werden, denke ich bei diesem Zitat doch an Kafka. In meiner Rezension zu "Der Verschollene" schrieb ich:
Zitat von mArtinus
„...dass Kafka zu Beginn des 20 Jahrhunderts erschreckend in eine hochtechnisierte Welt sah, die den einzelnen Menschen, das Individium, unbedeutend erscheinen ließ.“
Ich gehe davon aus, Arno Geiger habe sich bewusst auf Kafka bezogen, ihn nur variiert, an einer anderen Stelle Kafka sogar wörtlich erwähnt wie auch andere Größen. An sich besteht aber kein Grund seine Bildung vorzuzeigen, wenn es um den eigenen Vater geht, der übrigens schon immer „einen Hang zum Eigenbrötlerischen hatte“, aus dem Dorf kaum herausgekommen sei. Einerseits Verständnis für die Situation des Vaters gezeigt wird, andererseits auf Grenzen gestoßen wird, wenn der Autor sich ärgert, wie überlegt doch manche Antworten seines Vaters erscheinen, außerdem am Rande schwelende Aggression brodelt, auf Seite 23 folgendes zugegeben wird:
Zitat von Arno Geiger
Hätte ich damals nicht mehrere Monate im Jahr zu Hause verbringen müssen, damit ich als Ton-und Videotechniker auf der Bregenzer Seebühne das Geld verdiente, das das Schreiben nicht abwarf, hätte ich einen weiten Bogen um das Elternhaus gemacht.
All das, obwohl auf Seite 11 noch zuversichtlich verkündet wird:
Zitat
Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.
Ein redlicher Vorsatz, der sich nur teilweise erfüllt. Das Buch hat gute Ansätze, die dem Leser die Situation nahebringen kann, wie es sein kann, wenn ein Familienmitglied einer dementiellen Entwicklung ausgesetzt ist und irgendwann doch der Punkt erreicht wird, dass die Inanspruchnahme eines Pflegeheimes irgendwann nicht mehr abzuwenden ist. Aber, wie oben ausgeführt, auch ein Buch, was Fragen aufwirft, warum nur Arno Geiger dieses Buch geschrieben habe. Um seinetwillen oder zum Andenken an seinen Vater?
Zitat von Arno Geiger
Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf.
Es wird wohl stimmen, was Jacques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt.
(Seite 23)
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)