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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Molière

in Die schöne Welt der Bücher 01.03.2012 22:55
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Jetzt lese ich gerade Molières Komödie "Die lächerlichen Preziösen", und ich bin sehr fasziniert - das Stück ist eigentlich der genaue Gegensatz zu Schillers "Kabale und Liebe". Bei Schiller geht es ja (wenn man einige Handlungsaspekte ausblendet) um die Ablehnung von Vernunftehen und das Recht, aus reiner Liebe zu heiraten. Bei Molière dagegen (1659, also mehr als 100 Jahre vor Schiller) wird gerade dies als völlig lächerlich dargestellt.
Die Handlung beginnt mit zwei jungen Männern, die gerade zwei ebensolchen Damen ihre Aufwartung gemacht haben und ihnen dabei mit erfrischender Offenheit eröffneten, dass sie mit Einwilligung ihres Vaters den Wunsch hegten, sie zu heiraten. Von den Damen wurden sie daraufhin sehr unfreundlich abgefertigt. Später vom verärgerten Vater zur Rede gestellt, erklärten die Damen, dass die Herren sich unmöglich benommen hätten, indem sie ihr Anliegen mit so bäuerischer Direktheit vortrugen - dabei könne man in jedem modernen Roman nachlesen, "daß die Heirat immer erst auf eine Anzahl von Abenteuern erfolgen darf". Zuerst müsse der Herr die Dame in der Kirche oder auf einem Spaziergang erblicken und eine Zeit lang aus der Ferne anschmachten. Dann folgen gelegentliche Besuche, bei denen der Herr mit der Dame in größerer Gesellschaft "galante Fragen" erörtert. Schließlich ergreift der Herr in einem Garten oder Park eine günstige Gelegenheit, wenn die andere Gesellschaft sich etwas entfernt hat, um der Dame seine Liebe zu gestehen. Dieselbe muss sich nun schockiert geben, erröten und zürnen, und den Herrn aus ihrer Gesellschaft verbannen. Aber nach einiger Zeit kann dieser sie wieder versöhnen, sie allmählich mit dem Gedanken seiner Liebe vertraut machen, und ihr schließlich ein ebensolches Geständnis entlocken. Nun folgen weitere Abenteuer: Nebenbuhler, bösartige Väter, Eifersucht durch falsche Anschuldigungen, verzweifelte Leidenschaft, Entführung usw. usw. - und erst dann könne die Heirat am Ende geschlossen werden ....

Wenn man dies so liest, erscheint einem wirklich die Idee der Liebesheirat in einem ganz anderen Licht (diese Idee ist ja in der Tat erst ungefähr zu Molières Zeiten aufgekommen), nämlich als eine überdrehte Modeerscheinung. Ich finde das faszinierend. Vielleicht sind andere Werte, die wir für selbstverständlich halten, ebenso fragwürdig, wenn man sie mal aus einem anderen Blickwinkel betrachtet ...

Übrigens hat Molière nur drei Jahre später mit der Komödie "Die Schule der Frauen" ein Werk geschrieben, das sich ausdrücklich für die Liebesheirat ausspricht ...




Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
Facebook: http://www.facebook.com/people/Klaus-Mendler/1414151458
zuletzt bearbeitet 01.03.2012 22:59 | nach oben springen

#2

RE: Molière

in Die schöne Welt der Bücher 01.03.2012 23:36
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Schöne Gedanken, Roquairol.

Zitat von Roquairol
Wenn man dies so liest, erscheint einem wirklich die Idee der Liebesheirat in einem ganz anderen Licht (diese Idee ist ja in der Tat erst ungefähr zu Molières Zeiten aufgekommen), nämlich als eine überdrehte Modeerscheinung. Ich finde das faszinierend. Vielleicht sind andere Werte, die wir für selbstverständlich halten, ebenso fragwürdig, wenn man sie mal aus einem anderen Blickwinkel betrachtet ...



Ähnliches kommt auch in den Schriften von Diderot vor, in dessen Zeiten es auch noch als verpönt galt, wenn Ehepartner einander nicht betrogen oder zwei Ehepartner sich aus Liebe zur Heirat entschlossen. Die Heirat war vielmehr der Ausweg für viele, um wieder frei sein zu können und die geheuchelten Gefühle für den Partner abkühlen lassen zu dürfen. Zumeist ging es ja nur um die Verbesserung von Name, Ansehen und Geldmitteln. Wer sich dagegen seinem Partner gegenüber in der Öffentlichkeit respektvoll und freundlich benahm, wurde von der übrigen Gesellschaft verurteilt, dieses Verhalten zieme sich nicht und sei unerhört. Diderot stellte z. B. in den „Indiskreten Kleinoden“ dieses gesamte Hof-Verhalten zum ersten Mal in Frage, wenn er sich auch trotzdem offen für ein freies Liebesleben aussprach, hauptsächlich als erlaubte Darstellung von Erotik in der Literatur.
Mir kam beim Lesen auch in den Sinn, wann sich die Bedingungen geändert haben, wie häufig und wodurch. Und man sieht ja auch, wie sich die Ansichten und Wertevorstellungen immer wieder neu verändern, auch in der modernen Zeit wandelbar sind. Da kommt der Verdacht auf, dass sich Menschen immer in das fügen, was angesagt ist und ihre Gefühle an gesellschaftliche Bedingungen anpassen oder eben aus diesen bewusst ausbrechen und somit die Veränderungen in Gang setzen.
Dass sich die ständigen Veränderungen nicht nur auf die Ehe beziehen, sondern auch auf andere gesellschaftliche Aspekte ausdehnen lassen, davon kann man ausgehen. Alleine der Wandel des Schönheitsideals, der Umgang mit Kranken und Wahnsinn, die Kunst und Stilveränderungen, die Vorstellung von Gut und Böse..., Gott-Glaube, selbst (wie bei Ariès gut zu sehen) die Bestattungsrituale. Und immer wird, was die Zeit und Umstände mit sich bringen, die Moral daran angepasst, die Wertevorstellung danach bestimmt. Daher ist das, was selbstverständlich wirkt, keinesfalls selbstverständlich, sondern erleichtert nur das gegenwärtige Dasein und Miteinander (das Man, wenn man so will).




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 01.03.2012 23:37 | nach oben springen


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