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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Roberto Bolano

in Die schöne Welt der Bücher 13.08.2012 15:19
von LX.C • 2.821 Beiträge

Stern in der Ferne

Eines Tages 1971 oder 1972 taucht in der Literaturszene der Universität in Concepción, Chile ein Mann namens Ruiz-Tagle auf. Er passt nicht so recht in die Literaturworkshops. Er hebt sich von den Kommilitonen durch seine gute Kleidung, sein adrettes Benehmen, seine luxuriöse Wohnung und seine schlechten Gedichte ab. Aussehen und Charme verschaffen ihm bei den Studentinnen schnell einen Vorteil, so bei den Schwestern Garmendia. Sie sind zwei ausgezeichnete Dichterinnen und werden von allen umgarnt, Ruiz-Tagle jedoch kann problemlos ihre Gunst gewinnen. Dem Erzähler und dessen Freund Bibiano fällt Ruiz-Tagle zudem auf, weil er die konkurrierenden Literaturseminare der Professoren Stein und Soto besucht, was in der Szene einem eher ungewöhnlichen Verhalten entspricht.
Im September 1973 kommt es zum Militärputsch Pinochets gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Allende, mit dem viele Hoffnungen verbunden waren. Die linke Literaturszene der Universität wird aufgelöst, die Professoren entlassen, die Studenten exmatrikuliert. Viele verschwinden scheinbar spurlos, so die Professoren Stein und Soto. Der Erzähler wird in politische Haft genommen und geht anschließend ins Exil, nach Spanien. Sein Freund Bibiano landet als Schuhverkäufer in einem Armenviertel Concepcións. Die Schwestern Garmendia ziehen sich aufs Land zurück und fallen dort, im Haus ihrer Eltern einem hinterlistigen Blutbad zum Opfer.
Auch Ruiz-Tagle verschwindet. Doch er taucht kurze Zeit später als gefeierter Aktionskünstler einer neuen chilenisch-faschistischen Kunst- und Literaturszene wieder auf. Sein richtiger Name ist Carlos Wieder, er ist Angehöriger der Luftwaffe und schreibt mit seinem Flugzeug vergängliche Verse in den Himmel, die an Niveau seit dem Literaturworkshops nicht sonderlich gewonnen haben. Seine unmissverständliche Ansicht zu Dichtern, denen er das Wasser nicht reichen kann: „Alle Schriftsteller sind erbärmlich, auch die, welche im Schoße wohlhabender Familien geboren werden, auch die, welche den Nobelpreis erhalten“ (115).
Als Wieder sich sicher genug fühlt provoziert er einen internen Eklat mit einer Fotoausstellung, die er im privaten Rahmen präsentiert. In einem kleinen Raum, den jeder nur einzeln betreten darf, stellt er massenweise Fotos von ermordeten und verstümmelten Frauen aus. Darunter auch die Geschwister Garmendia. Die Fotos verursachen selbst bei den geladenen Gästen der Militärjunta Entsetzen und betretenes Schweigen. Kurze Zeit später steht der Geheimdienst vor der Tür und beschlagnahmt die Fotos. Carlos Wieder wird aus dem Militär entlassen, bleibt jedoch als einstiges Mitglied einer unabhängigen Einsatzgruppe, deren Aufgabe es war, Widersacher in der Studentenszene auszuschalten, unbehelligt. Nun beginnt ein Verwirrspiel um den untergetauchten Star, das Bibiano anhand literarischer Veröffentlichungen weiter zu verfolgen versucht. Und dessen Spur der Erzähler und der ebenfalls ins Exil gegangene Polizist Romero nach dem Sturz Pinochets in den 90er Jahren in Spanien wieder aufnehmen. Schließlich trifft der Erzähler auf den einstigen Kommilitonen und Handlanger der Diktatur. Es kommt zum Höhepunkt der Verfolgung Carlos Wieders und dem Denkanstoß, ob die Taten eines Massenmörders um jeden Preis vergolten werden dürfen.

„Stern in der Ferne“, ein frühes Werk Roberto Bolanos, das in Deutschland erstmalig 2000 erschien, stellt exemplarisch anhand Carlos Wieder einen Täter der Militärjunta Pinochets im Kontext von Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Literatur- und Studentenszene Concepciòns in den Mittelpunkt der Erzählung. Neben dem Verwirrspiel um Carlos Wieder, der den Militärputsch und die Diktatur Pinochets und allein diese Bedingungen zum Aufstieg als Künstler nutzen kann, werden Lebensläufe Andersdenkender, die dem Gewaltregime zum Opfern gefallen sind, skizziert. Der sich im Exil befindende Erzähler nutzt hierfür Zeitungsartikel, die ihm zufällig Hinweise liefern und stützt sich im Wesentlichen auf Briefe seines Freundes Bibiano, den die Vorkommnisse seit dem Tod der Schwestern Garmendia nicht loslassen und der trotz Angst um das eigene Leben permanent versucht, die Spuren der Kommilitonen, Professoren und Carlos Wieders zu verfolgen.
Das Handlungsumfeld nimmt der Erzähler zudem zum Anlass, einen literarischen Zeitgeist der 70er/80er zu skizzieren, bis hin zu einem dem Gegenstand entsprechend rechten Literaturmilieu, das den Autor Bolano scheinbar vielfach beschäftigt haben muss, so in der Enthüllungsprosa „Die Naziliteratur Amerikas“. Dabei erfährt man von kuriosesten Ansichten, wie der Delormes, einem französischen Hausmeister mit literarischen Ambitionen, dem zufolge man mit den Werken der Weltliteratur auf folgende Weise verschmelzen müsse. „Man schiß auf die Seiten Stendhal, schneuzte sich in die Seiten von Victor Hugo, masturbierte und ejakulierte über den Seiten von Gautier oder Banville, erbrach sich in die Seiten von Daudet, pinkelte auf die Seiten von Lamartine, schnitt sich mit Rasierklingen ins Fleisch und besudelte die Seiten von Balzac oder Maupassant mit Blut, kurz, man setzte die Bücher einem Prozeß der Erniedrigung aus“ (153).

So richtig verschmelzen kann man mit dem Kurzroman Robert Bolanos, der bis zu seinem frühen Tod 2003 als „Geheimtipp“ galt, nicht. (Obige Empfehlungen sind selbstredend zu verschmähen.) Literaturbezüge im Werk bleiben einem fremd, oder Insidern vorbehalten, so beispielsweise Andeutungen über surrealistische Autoren vor der Diktatur Pinochets. Recherchen sind dabei oft wenig ergiebig. Auch wirkt das Verwirrspiel um Carlos Wieder zu Teilen zäh und zu konstruiert.
Dennoch will man wissen, wie sich die Dinge entwickeln und folgt daher dem schnörkellosen Stil mit inhaltlichen Höhepunkten bis zum Schluss mit einer oberflächlichen Spannung. Man wird mit einem Schlussteil versöhnt, in dem der Erzähler selbst wieder aktiv an der Handlung teilnimmt und den Erzählkreis aus Vergangenheit und Gegenwart schließt. Zurück bleibt das Gefühl, seine Zeit nicht unbedingt verschwendet zu haben und der Vorsatz, es noch mal mit einem weiteren Werk probieren zu wollen, auch wenn die große Begeisterung in diesem Fall ausblieb.

(Zitate: Bolano, Roberto: Stern in der Ferne, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2010.)


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 13.08.2012 15:49 | nach oben springen

#2

RE: Roberto Bolano

in Die schöne Welt der Bücher 06.09.2012 17:22
von LX.C • 2.821 Beiträge

Lumpenroman

ausführlich vorzustellen macht aus meiner Sicht keinen Sinn, da es an anderer Stelle schon so ausführlich getan wurde:

http://de.wikipedia.org/wiki/Lumpenroman

Es ist der letzte Roman Bolanos vor seinem Tod, veröffentlicht 2002. Er ist ganz klassisch analeptisch, also rückblickend aufgebaut und erzählt eine Geschichte, einen kurzen Lebensabschnitt eines Geschwisterpaares ohne Umschweife von Anfang bis Ende. Dargestellt wird sie uns durch die Hauptperson, die folglich gleichzeitig Erzählerin ist. Besagter Lebensabschnitt beginnt mit dem Tod der Eltern, dem Eintritt zweier fremder Männer in das Leben der Geschwister, Kriminalisierung und wieder Lossagung von dieser durch die Trennung von den beiden jungen Männern, die sich im Leben der Geschwister eingenistet und diese beeinflusst haben. Laut Wikipedia haben wirs hier mit einer Auftragsarbeit zu tun, das könnte die vielen Wiederholungen in den Äußerungen und Widersprüche im Denken und Veralten des Mädchens (der Erzählerin) erklären. Ein so genanntes unzuverlässiges Erzählen könnte man dahinter vermuten. Muss aber nicht, es kann genauso gut Stilmittel und literarische Konzeption im Sinne des unreifen, noch ungeformten Teenagers sein. Diesen Aspekt jedoch fand ich etwas "unsauber" gearbeitet, ansonsten haben wir es hier mit einem spannenden und unterhaltsamen Romänchen zu tun, den man gerne mal zwischendurch in S-Bahn oder am Strand lesen kann.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 06.09.2012 17:37 | nach oben springen


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