HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Hallo,
Längst überfällig, aber jetzt ein Thread über Joyce Carol Oates, einer Vielschreiberin, die in etwa jedem Jahr uns ein Buch beschert. So manche Leser, die ihre Lesegewohnheiten nur in den höchtsen Gefilden der Hochliteratur laben, rümpfen sicher die Nase, Vielschreiberin, na, ja, und dann erwischen sie auch noch einen Roman, der nicht gut ist. Solche hat sie auch geschrieben. Joyce Carol Oates experimentiert mit der Sprache. Sie hat verschiedene Sprachstile ausprobiert, schrieb unter Pseudonymen, verfasste auch Jugendbücher und Thriller, schrieb Gesellschaftsromane. Literarisch zerstörte sie amerikanische Träume, schrieb einen inhaltlich tragischen Roman nach dem anderen. Bei dieser Autorin muss der Leser sich die Perlen herauspicken.
"Die unsichtbaren Narben" ist eine solche Perle. USA zur Zeit der McCarthy - Ära, Angst vor dem Atomkrieg, eine inzestiöse Beziehung in einer katholich orientierten Familie. Das ist Stoff, aus denen gute Romane gestrickt werden, und Oates' Roman spult herunter wie im Kino, fesselnd und gut erzählt.
Zu diesem Roman eine ältere Rezension aus meiner Schatzkiste:
Die Sowjets zünden 1949 ihre erste Atombombe. Das Wettrüsten zwischen den USA und den Sowjets wird so richtig angekurbelt, die Angst vor einem Atomkrieg manifestiert sich im Bewusstsein der Bevölkerung. So auch in Lyle Stevick, der in Joyce Carol Oates' Roman „Die unsichtbaren Narben“ im Jahre 1955 einen Atombunker auf seinen Garten bauen lässt. Zu seiner jüngsten Tochter Enid, seinem Engelchen:
Zitat von Joyce Carol Oates
Machst du dir Sorgen wegen eines atomaren Krieges? Liegt es daran? Die Hauptsache ist doch, daß wir darauf vorbereitet sind, begreifst du das nicht, Schätzchen? Dein Papa wird wie immer für dich sorgen.
Wie immer? Am 07. Juni 1953 unternimmt Enid Maria einen Selbstmordversuch. Ihre Eltern sprechen von einem Versehen, als herauskommt, sie habe eine Überdosis Aspirin eingenommen. Unsichtbare psychische Narben möchte man nicht herauskehren. Seitdem Lyle am 30. November 1951 wegen Verdachts auf „Verbreitung kommunistischer Propaganda“ festgenommen worden ist, und ein fünfstündiges Verhör über sich ergehen lassen musste, ist für ihn die Welt nicht er so, wie sie war. Eine Narbe geht durch die Welt. Der Senator Joseph McCarthy ist von einer kommunistischen Unterwanderung der Bundesregierung überzeugt. Ein möglicher Atomkrieg droht und Mr. Stevicks Sohn Warren kommt schwerstverletzt aus dem Koreakrieg zurück. Es droht die Narbe, die die Familie noch zusammenhält, aufzubrechen:
Zitat von Joyce Carol Oates
Sein Leben bestand aus Fragmenten und Scherben, Knochen und Schrapnellsplittern, fleischfetzen, er hatte sogar ein zusammengestückeltes Gesicht, wie er es nannte – die Nähte an seinen Kiefer paßten selbst nach zwei Operationen nicht richtig zusammen; durchs linke Auge sah er verschwommen, es war fast nicht, die blitzenden Plastikzähne an der partiellen Gaumenplatte waren vielleicht zu perfekt, um für echt gehalten zu werden.
Selbst das Leid, welches Warren erlitten hat, wird fleißig verdrängt. Warren gegenüber muss es doch höhnisch erschallen, wenn geglaubt wird, es mache ihm schon nichts aus, weil er stündlich dem lieben Gott Dankbarkeit erweise, dass er am Leben sei.
Ins Zentrum des Romans rückt aber das Liebesverhältnis zwischen Enid, des Vaters liebste Tochter, mit ihrem Onkel Felix. Eine brisante, Begebenheit. Die Stevicks sind eine konservativ katholische Familie sind, auch wenn die junge Generation sich davon entfernt, spuken im Geiste Warrens immmer noch Gedanken herum, Sex „sei etwas Sündhaftes und für Männer wie auch für Frauen etwas Erniedrigendes.“. Auch sonst, natürlich, diese amour fou zwischen Onkel und Nichte ist inzestiös und muss geheimgehalten werden. Im angetrunkenen Zustand verführt er sie erstmals.
Zitat von Joyce Carol Oates
Er sagte ihren Namen, ihren Namen, so süß so süß so süß – dann unterdrückte er einen Rülpser, und Enid bekam Bier zu riechen.
Joyce Carol Oates zeigt, wie Männer in solch eine Misere hereinrutschen und nicht wieder heauskommen. Verantwortungslosigkeit wird angeprangert. Die Autorin predigt aber keine Moral, Felix weiß selbst, er ist ein „Mistkerl“. Alle Entschuldigungen danach, so etwas würde nie wieder passieren, verlaufen im Sande. Genau das Gegenteil erfolgt, die sexuellen Exzesse werden häufiger, und die Autorin erzählt Szenen sehr souverän und offenherzig über Erotik und Sex.
Zitat von Joyce Carol Oates
Er sagte ihr, sie könne nicht schwanger werden, die Blutung wasche alles weg; es sei die beste Zeit zum Bumsen, und die Frauen seien da richtig scharf darauf, Enid wolle es ja genauso wie er. Und er müsse keinen Pariser überziehen drüberziehen; das Drum und Dran mit der Empfängnisverhütung habe er allmählich satt,...
Sehr plastisch vor dem Hintergrund der 1950er Jahre entwirft Oates auf fast 600 Seiten einen fesselnden Einblick in eine Familie aus den USA. Literarisch werden die Narben, die die Eltern nicht wahrhaben wollen, vor Augen geführt. Der Autorin gelingt es in fantastischer realistischer Manier, Probleme und Konflikte ohne zu moralisieren oder zu psychologisieren herrlich aufs Papier zu bringen, besonders natürlich die Affäre von Enid und Felix, dieser Tanz zwischen den Gefühlen. Dieser „Mistkerl“. All das ist mit Genuss zu lesen.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Joyce Carol Oates
in Die schöne Welt der Bücher 19.09.2012 17:43von Martinus • 3.195 Beiträge
Joyce Carol Oates: Niagara
Ariah heiratet den Presbyterianer - Pfarrer Gilbert Erskine. Nach der Hochzeitsnacht stürzt er sich in die Fluten der Niagarafälle. Die Niagarafälle sind ein beliebter Ort für Hochzeitsreisenden und ein Paradies für Selbstmörder. Im Vordergrund dieses Naturwunders siedelt Joyce Carol Oates eine Familientragödie an. Sie erzählt von Menschen, die von den Wasserfällen angezogen werden. Auf der Familie scheint ein Fluch zu liegen. Ein böser Fluch des Ortes ist auch ein Umweltskandal. Eine Chemiefabrik verseucht das Grundwasser, verseucht die Atemluft. Menschen erkranken an Krebs, Leukämie und anderen schwerwiegenden Krankheiten. Viele Bewohner finden frühzeitig den Tod. Ariahs zweiter Mann Dirk Burnaby ist angesehener Rechtsanwalt des Ortes und verklagt hochrangige Leute und ehemalige Freunde, die Mitverantwortung an diesem Skandal tragen, und verstrickt sich damit bis zu seinem beruflichen Untergang, denn für ihn allein bleibt es aussichtslos, einen Aufstand gegen mafiöse Strukturen und kapitalistische Wirtschaftsinteressen zu führen. Da ist doch jeder seiner gerichtlichen Gegner froh, dass er den Prozess selbstverständlich verliert und anschließend in den Fluten des Niagara auf ewig und immer verschollen bleibt. Nur die Geschwister Chandler, Royall und Juliet zeigen Interesse daran, nachzuforschen, warum ihr Vater so früh sterben musste.
Neben der Kritik an egoistischen Wirtschaftsinteressen, nimmt die Autorin auch bigotte Frömmigkeit aufs Korn. Ariah, selbst einer presbyterianischen Familie entwachsen, wird von ihrer Familie gemieden, weil sie kurz, Tod ihres Mannes wieder heiratet. Gilbert Erskine ist übrigens nur durch äußeren Druck seiner Familie kurzzeitig zu Ariahs Ehemann geworden. Dirk, der auch einer bigotten Familie entstammt, erleidet dasselbe Schicksal. Dass die schüchterne Ariah erst mit 30 Jahren die Sexualität entdeckt, und sich mit der männlichen Genitalphysiologie nur sehr bedingt auskennt, und Ariah nach Jahren bei einem Besuch, den subtilen Sticheleien ihrer Schwiegermutter ausgesetzt ist, die eine strenge Katholiken ist, das sind sehr feine elegante Mittel, die die Autorin gegen überzogener Bigotterie einsetzt. Nicht vergessen zu erwähnen ist, das die Autorin ihre Protagonistin ziemlich unattraktiv und flachbrüstig umschreibt, sodass ich mich doch gewundert habe, dass sich der wohlhabende Rechtsanwalt ziemlich schnell in sie verliebt hat.
Das Klappentexte nichts wert sind, wissen wir ja. „Ein Geniestreich der Beobachterin menschlicher Abgründe“, heißt es darin. Reichlich übertrieben finde ich. Im ersten teil des Romans, 144 Seiten lang, ist Joyce Carol Oates allerdings wirklich in Hochform und übertrifft sich selbst. Die Umstände von Gilbert Erskine's Tod werden sehr intensiv aus der Perspektive von drei Menschen wiedergegeben: der Brückenwärter, Ariah Erskine und Dirk Burnaby. Und all das ist wunderbar bildhaft und intensiv erzählt. Es ist nicht zu begreifen, warum Oates dieses Niveau nicht Aufrechterhalten kann. Ariahs tristes Eheleben, sie lebt nur für ihre Kinder, Dirk nur für seinen Beruf, ist sehr lang völlig spannungslos dahin gezogen. Sehr bedauernswert, dass Carol Oates sogar aus dem Umweltskandal keine Spannung laden konnte. Das liegt einfach daran, weil es keine direkten Dialoge und Handlungsstränge mit den Beklagten gibt, darum diese Gestalten farblos bleiben. Die Protagonisten des Romans sind allerdings hervorragend porträtiert.
Aus dem inhaltlichen Material hätte Joyce Carol Oates ohne weiteres einen hervorragenden 800 Seiten Roman stricken können. Geblieben sind nur 144 wirklich gute Seiten, alles andere plätschert mehr oder weniger dahin, viel leidenschaftsloser als die Niagarafälle.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)