HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Bahnsteig Nummer 7
Sie las mal ein japanisches Gedicht
dein blick hängt steinern
wie eine eisblume schwer
frostiger morgen
und dachte niemals daran, dass sie sich jemals so fühlen würde wie heute.
Sie gingen auf den Bahnsteig. Ein letztes Mal gemeinsam. Er küsste das Taschentuch und überließ es ihren Händen. Sein verzweifelter Blick.
Niemals wird sie es vergessen. Wenn sie ihn heute sah, in ihrer Erinnerung, seinen Blick, umweht von tausend Schneeflocken in der frühen Morgenstunde dieses harten Winters, dann verstand sie nicht, warum sie sich nicht vor den nächsten Zug geworfen hatte. Der Zug fuhr los. Sein Kopf lehnte aus dem Fenster, als ob er sich ewig herauslehnen und immer nach ihr schreien würde. Bahnsteig Nummer 7. Oft stand sie an diesem Gleis, in den folgenden Jahren, sie stand dort und hörte seine Gedanken, wie sie noch heute nach ihr riefen. Sie hallten wie ein ewiges Echo, dass sich durch die Stromkabel fraß, durch alle Stromkabel des Landes. Auch wenn sie auf anderen Bahnhöfen stand, hörte sie sein Schreien wie damals im harten Winter.
Wenn sie nicht auf Reisen war, ging sie an jedem Morgen auf den Bahnsteig Nummer 7 und fühlte ihren Schmerz, fühlte jede Pore der Erinnerung an ihren Geliebten. Und wenn sich ein Zug in Bewegung setzte, war es ihr, als hinge sein Kopf aus dem Fenster. Und das an jedem Tag. Er verließ sie jeden Tag. Sie konnte ihn nicht zurückhalten.
Es war einer der vielen Sommertage, in der Morgenfrühe ging sie wie gewohnt zum Bahnhof. Weit hinter sich hörte sie Schreie. Er verfolgte sie. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn nicht. Nur wenige fremde Gesichter. Sie begriff nicht, warum er sich ihren Augen verbarg. Trotzdem, er war ihr auf den Fersen, und es wird der Moment kommen, und er wird sie einholen. Dessen war sie sich sicher und betrat die Bahnhofshalle beseelt vor Glück, denn so nahe war er ihr lange nicht gewesen. Zielstrebig schlenderte sie zum Bahnsteig Nummer 7. Als sie die Treppe hochstieg, sah sie schon die Stromkabel schreien, so laut, dass sie Funken versprühten. Hinter ihr auch Schreie. Sie drehte sich um, und sah flimmrige Luft.
Von allen Seiten schrien Stimmen. Versteinerte Schreie wie Eisblumen, die frostig über ihren Rücken glitten. Sie hallten auch in den Schweißperlen, die an der Stirn klebten und im Rhythmus einer losfahrenden Dampflokomotive hämmerten.
Es war die letzte Dampflokomotive gewesen, die ihren Geliebten forttrug, und sie in eine Welt von Stromkabeln katapultierte. Der Rauch verflog vor fielen Jahren schon, doch jetzt war sie wieder eingehüllt. Die Stromkabel dampften vor Geschrei. Sie kam näher, immer näher. Ihr Geliebter sah aus dem Wagenfenster. Noch weit weg, sie erkannte ihn aber sofort. Er winkte ihr fröhlich zu mit einem Taschentuch in der Hand. Er streichelte ihr Haar, und sie sah in die leuchtenden Augen der Dampflokomotive, trat einen Schritt nach vorne und fiel in die Arme des Geliebten. Endlich hatten sie sich wiedergefunden.
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)