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Gerard Donovan
in Die schöne Welt der Bücher 21.11.2017 23:10von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Gerard Donovan
„Ein bitterkalter Nachmittag“
„Ich glaube, man kann auf zwei verschiedene Arten allein sein. Man kann der Fisch im Aquarium sein, der gefüttert wird, oder die Hand, die das Futter ins Wasser streut.“
„Ein bitterkalter Nachmittag“ ist ein spannendes und tief reflektierendes Werk, wobei der Titel das kaum erahnen lässt. Ich habe auch den Bestseller des Autors, "Winter in Maine", gelesen und war begeistert, dieser Roman ist aber etwas anders und hat mich umgehauen.
Die Geschichte beginnt mitten im Schnee und im Winter, während ein Mann ein Loch in der Kälte ausheben soll, eine Arbeit, für die er nur eine bestimmte Zeit hat und die durch die Wetterbedingungen stark erschwert ist. Man fragt sich im Laufe der Geschichte, ob er sein eigenes Grab schaufelt oder das Loch für andere gräbt, um sich selbst vor dem Tod zu bewahren. Hier lässt der Autor viel Freiraum für die Überlegungen des Lesers. Es herrscht Krieg, Soldaten belagern die Stadt und nach und nach werden Leute herangekarrt, die auf etwas warten, während auch die Soldaten geduldig das Schaufeln des Loches verfolgen.
Befehligt wird der Mann, der gleichzeitig der Bäcker der Stadt ist und sein Wissen aus Büchern hat, von einem Lehrer, der versucht herauszufinden, mit welcher Art Mensch er es zu tun hat. Er steht dabei über dem Loch, „zwischen Himmel und Erde, sein ganzes Leben zwischen den Himmel und den Boden gezwängt. So ist das Leben des Menschen, habe ich gelesen.“
Als Leser ist man hin und her gerissen, für wen der beiden Protagonisten man mehr Sympathie empfindet. Das ist nämlich gar nicht so einfach, denn beide zeigen interessante und bösartige Charakterzüge.
Während das Loch geschaufelt wird, der Schnee fällt, die Zeit vergeht und es immer kälter wird, philosophieren sie über Gewalt, Eroberungskriege und Schlachten, über die Kunst des Krieges, Platon, die Scheinwelt, Hume, Locke, Schopenhauer, über die Sesshaftigkeit des Menschen und die Existenz von Löchern, über Masken und Betrug, über Katastrophen, Mord und Geschichte, wobei der Lehrer nicht gottgläubig ist und meint, die Geschichte würde sich immer wiederholen, der Bäcker an Gott glaubt und sich einer konkreten Meinung enthält, wobei er doch einfließen lässt, dass die Geschichte oder auch Kriege den Menschen nicht davon abhalten, seinen gewohnten Alltag wieder aufzunehmen. Für ihn ist der Mensch auch fähig, sich an Tod und Verderben zu gewöhnen, wenn er dem nur lange und intensiv genug ausgesetzt ist.
Sein Wissen stammt aus Büchern, so dass er der Gelehrsamkeit des anderen ausreichend Parole bieten kann. Dennoch ist es schwierig, diesen eigenartigen Charakter einzuschätzen, der einiges zu verbergen hat.
Aus der Konfrontation zweier so verschiedener Menschen, inmitten der Kälte, aus oberer und unterer Sicht, symbolisiert durch das geschaufelte Loch, entwickelt sich ein Wettkampf im Denken und im Wissen. Die Bildung steht der Deutung gegenüber, der Tatmensch dem Geistmenschen, das Opfer dem Henker. Genauso wird die Frage gestellt, was Schuld ist, was das Böse repräsentiert, was Macht ist und bedeutet, und das alles vor einem Hintergrund, der bedrohlich näher rückt und eng mit den Reflexionen zusammenhängt.
Dieser Roman ist in meinen Augen ein sehr gelungenes Werk, das sich zu lesen lohnt. Es ist wie ein verrücktes Theaterstück inszeniert, das sich um sich selbst dreht und die wichtigen Fragen stellt, einzig und allein, um endlich ein Verbrechen aufzudecken. Und eine sehr erschreckende Einsamkeit.
„Wir können diese brennende Einsamkeit des Alleinlebens nicht nachempfinden. Wir sind von unseren Gewohnheiten dick geworden, unser geistiges Leben ist voller Informationen. Inzwischen sind wir ein träges Volk und wissen ziemlich viel.“
(Alle Zitate aus: Gerard Donovan "Ein bitterkalter Nachmittag", btb Verlag)
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