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Wolfgang Hilbig
in Die schöne Welt der Bücher 18.03.2018 22:35von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Und doch noch einmal ein Blick auf die deutsche Literatur, diesmal etwas weiter zurück, auf die Zeit der Wende. Dafür ist Wolfgang Hilbig natürlich bekannt, ist selbst 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt. Seine Romane beschäftigen sich mit dem Thema, den Ängsten, Wünschen, Sehnsüchten und Ernüchterungen dieser Zeit, besonders intensiv und zum Teil sicherlich auch autobiografisch im Werk "Das Provisorium".
An sich ist der Roman eher trocken geschrieben, jedoch in der Düsternis des Alltags eines alkoholkranken Schriftstellers, der nicht weiß, ob er im Osten oder im Westen bleiben möchte und dabei über sich selbst reflektiert, in geniale Sätze und Beschreibungen gepackt. Düster ist diese Welt, düster das Innere des Protagonisten C., die Sichtweise und die Hinterfragung. Alles beginnt mit dem "Provisorium" des Aufenthalts im Westen, gestattet durch ein bewilligtes Visum für ein Jahr, und geht weiter mit dem Bezug einer Wohnung in Hanau, die dennoch nicht richtig bezogen wird, in ihren staubigen Flächen und leeren Regalen glänzt, in den nicht ausgepackten Kartons und der zu einem Knäul zusammengerafften provisorischen Bettstätte. Alles ist und bleibt ein Dazwischen, weil der Mensch C. selbst nicht weiß, wer er ist, sich nicht einmal verloren, sondern noch nie ganz gefunden hat. Die Auseinandersetzung findet nicht nur in Bezug auf Ost und West statt, sondern auch in der tieferen Erkenntnis, die Berufung des Schriftstellers über das Leben stellen zu wollen.
Schön gezeigt wird z. B. der zwanghafte Buchkauf bei der Ankunft im Westen, weil die Werke im Osten nicht erhältlich waren, während C. sie nun (frei zur Verfügung als Sinnbild der absurd gewordenen Schein-Freiheit) im Westen nicht einmal anrührt und verstauben lässt.
Zitat von Hilbig
„Da waren sie, diese Bücher, für die er sich drüben im Osten fast ein Bein ausgerissen hätte, und er las sie nicht. Da kam er nun aus diesem Bücherkommunismus, aus dieser DDR, die sich nie genug mit dem Lesehunger ihrer Leute hatte brüsten können, für ihn aber hatte es dort nur Frustration und Erniedrigung gegeben wegen der Bücher, die ihm dauernd fehlten. Als er in den Westen kam, hatte er vom ersten Tag an Bücher gekauft wie ein Wahnsinniger, niemals hätte er sie alle lesen können, so viele Jahre blieben ihm gar nicht, um die Bücher vernünftig zu lesen, die er um sich herum aufhäufte; niemand verstand die Triebhaftigkeit, die Besessenheit, mit der er Bücher kaufte, Bücher sich von den Verlagen besorgte, Bücher stahl und sich auf jede andere nur denkbare Weise beschaffte…“
Der Schriftsteller weigert sich, das Visum zu verlängern, will aber auch nicht zurück. Er verliebt sich in eine neue Frau, verlässt aber dennoch nicht die andere Frau im Osten. Er kämpft mit sich selbst, ohne wirklich lieben zu können, fürchtet um die eigene Freiheit und gleichzeitige Unfähigkeit, die sich bis zur Impotenz steigert, sowohl körperlich als auch geistig.
„Die Liebe erreichte für ihn nie die Ebene der Normalität, sagte er sich. Er glaubte nicht an sie, wenn sie kein Ausnahmezustand mehr war.“; aber auch das war nur Ausrede für das Eigentliche, seinen Suff und die Unfähigkeit, weiter schreiben zu können, obwohl Schreiben das Einzige ist, was er beherrscht.
„Die Leere hat mich ausgeatmet und an die Luft gesetzt, und sie hockt unsichtbar vor mir und gähnt, die Bestie, und sie kann mich in jedem Augenblick wieder einatmen.“
Die Freiheit des Westens wird von Hilbig durch sein fiktives Alter-Ego C. genau unter die Lupe genommen - all die Banalität von Verkauf und Vermarktung all dessen, was sich verkaufen lässt, darunter auch Sex, Liebe und Porno, ja, sogar der gesamte Begriff "Freiheit", sobald er passend für das Verkaufsprogramm ist. Genauso wird der Osten in seiner dümmlichen Verwaltung wiedergespiegelt. Sehnsucht nach Heimkehr kommt bei C. nur auf, wenn Alkohol mit im Spiel ist. Das Visum des Schriftstellers läuft allmählich ab und er muss sich entscheiden, ob er bleiben oder zurückkehren will. Fakt ist, dass er, wo auch immer er ist, ein Gefangener der Lüge bleibt, denn das gesamte 20. Jahrhundert ist Lüge und Provisorium.
(Alle Zitate aus Wolfgang HIlbig "Das Provisorium", S. Fischer Verlag)
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