HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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In harten Zeiten noch härtere Literatur. Anonyma "Eine Frau in Berlin". Auch wenn die Tagebücher hinterher literarisiert wurden, ist das Geschehen unglaublich intensiv festgehalten worden. Es geht um die Vergewaltigungen der Russen in der Besatzungszeit. Anonyma war die Journalistin Marta Hillers. Ihre Aufzeichnungen sind nahezu gefühlskalt und doch sehr eindringlich geschrieben, als ein bissiges Abfinden mit der Sache. Das zerbombte Berlin wird sichtbar, auch das Verhalten der Menschen in dieser Zeit. Veröffentlicht wurde das Buch in den 50er Jahren und rief viel Kritik hervor, da es ein Tabu brach, so dass HIllers die weitere Publikation bis zu ihrem Tod ablehnte.
Es gibt eine Auseinandersetzung von Miriam Gebhardt "Als die Soldaten kamen". Hier wird dann genau untersucht, dass nicht nur die Russen, sondern alle Besatzungsmächte Vergewaltigungen und Zwangsprostitution verübten, besonders Amerikaner, aber auch Franzosen und Engländer.
Art & Vibration
Aufschlussreich sind immer Maßnahmen, die in Kriegszeiten und in der Nachkriegszeit getroffen werden. Menschen mussten etliche Einschränkungen in Kauf nehmen, die nach dem Krieg dann auch für Zucht und Ordnung sorgten. Das ist interessant im Vergleich mit heutigen Anordnungen.
Ich lese jetzt eine Biografie über Benn. Holger Hofs "Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis". Die Zeit bleibt die gleiche, der Aufbau gefällt mir. Schön, überhaupt wieder Konzentration aufzubringen. Lesen lässt sich nur schwer, wenn der Kopf voller Gedanken ist.
Art & Vibration
Ich lese Rüdiger Safranskis Hölderlin-Biografie. Und als Roman Bieri alias Pascal Mercier "Das Gewicht der Worte". Ich mag seine Bücher und seine Art, zu erzählen. "Perlmanns Schweigen" gehört zu seinen besten Büchern. Wenn man, wie ich damals, Pessoa nicht gerade vorher gelesen hat, auch "Nachtzug nach Lissabon".
Sein aktuelles Buch ist zwar gelungen, reicht jedoch nicht ganz an seine anderen Werke heran. Teilweise verwundern z. B. die Wiederholungen der Gedanken und auch der manchmal ins Kitschige abrutschende Idealismus. Das Buch hätte durchaus kürzer und kompakter werden können. Es geht um Krankheit und Tod, was passiert, wenn jemand eine tödliche Diagnose gestellt bekommt, die sich dann als falsch herausstellt. Typisch Bieri wird das Thema schön philosophisch angegangen und ist auch nicht auf das eine begrenzt. Weitere Verzweigungen sind Sprachen, Poesie, Übersetzungen, Exilrussen, Verlagsarbeit, verlorene Zeit, Todschlag aus Liebe und anderes. Es ist ein relativ bunt zusammengewürfeltes Geschehen, trifft jedoch meinen Geschmack. Im Ganzen gefällt mir der Roman, auch aufgrund solcher Zitate:
"Die Erwartungen der anderen — sie können eine Tyrannei sein, und ihre Tücke besteht darin, dass sie sich der Wahrnehmung entzieht und ihr Unwesen im Schattenreich des Unbewussten treibt, so dass man sich nicht zur Wehr setzen kann."
oder:
"Ist es vielleicht immer so: dass man in sich selbst nur in Zwischenräumen lebt und gar nie bei sich ankommt, sondern nur den Zwischenraum vergrößert?"
Art & Vibration
Nachdem ich Merciers Roman beendet habe, muss ich doch sagen, dass er irgendwo komplett misslungen ist. Er rutscht mehr und mehr ins Kitschige ab und erscheint nach 400 Seiten nur noch, als würde der Autor pro Wort bezahlt und müsse das Ganze auffüllen. Wiederholungen reihen sich an Wiederholungen, und wenn er seine Briefe mit zusätzlichen Wiederholungen mit "Cara" an seine tote Frau beginnt, möchte man das Buch in die Ecke pfeffern, da diese Briefe noch mehr zusätzliche verpuffte Luft sind und absolut keinen tieferen Sinn erfüllen. Es scheint, als ob sich die gute Idee langsam verbraucht hat. Wo zunächst allgemein ein Chaos an verschiedenen Personen und Geschichten entsteht, das man anfangs ja noch verzeiht, endet das Buch mit dem seltsamen Versuch, dass der Übersetzer nun seine eigene Stimme finden möchte und sich damit intensiv und für den Leser sichtbar auseinandersetzt. So beginnt er eine Erzählung, in der er, für den Leser überhaupt nicht nachvollziehbar, voll aufgeht und die dabei schrecklich langweilig und nichtssagend ist. Das Ende des Romans ist dann mehr als banal und hätte auch schon 300 Seiten früher stattfinden können. Einzig gut ist der Schreibstil. Inhaltlich kann der Roman kaum punkten.
Jetzt versuche ich es mit Saramagos "Claraboia oder Wo das Licht einfällt". Das klingt schon vielversprechender, zumal das Werk als verschollen galt.
Art & Vibration
Zitat von LX.C im Beitrag #3
Alfred Andersch - Geister und Leute
Nette Geschichten.
Teilweise etwas surrealistisch, daher wohl auch das "Geister" im Titel, aber bisher stets mit historisch nachvollziehbaren Bezügen von der Neuzeit bist zum Zweiten Weltkrieg.
...Zunehmend wirds dann realistischer und politischer, aber dafür technisch konstruierter (Montagetechnik). Urteil bleibt: Gefällt mir gut.
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[i]Poka![/i]
Saramagos Haus voller einsamer und am Hungertuch nagender Menschen, die mit ihrem Alltag kämpfen und über das Leben philosophieren, hat mir gefallen. Das liest man so weg und schlägt es zu und ist zufrieden. Nichts, das einen umhaut, aber auch kein Gefühl an verschwendeter Zeit. Die Figuren sind schön gezeichnet und verbleiben dabei interessanterweise ganz in ihrem Haus und in ihrer Atmosphäre. Etwas Lissabon schimmert kaum durch.
Saramago war um die Dreißig, als er den Roman schrieb. Das Manuskript wurde vom Verlag nicht nur nicht angenommen, sondern man würdigte ihn nicht einmal einer Antwort. Das verzieh er nicht. Das Blut, das ein Schriftsteller in sein Werk fließen lässt, blieb unbeachtet. Saramago schrieb danach etliche Jahre nichts mehr, bis er einen neuen Versuch startete und dann Erfolg hatte. Als das verschwundene Manuskript wieder auftauchte, holte er es zwar ab, verweigerte jedoch eine Publikation. Der Roman erschien erst nach seinem Tod und verweist dabei durchaus auf die Begabung des Autodidakten.
Nun dann endlich Julian Barnes "Der Lärm der Zeit". Bin gespannt, wie das Buch auf mich wirkt.
Art & Vibration
Schon lange auf der Liste, Preis stets zu hoch für meine Empfindungen gewesen, heute bestellt (gebraucht). Wenn eingetroffen, werde ich mich erst mal kaum trauen, es aufzuschlagen, bangend ahnend wissend, dass mich ein Kick nach dem anderen heimsuchen wird: Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass - Larcati/Schiffermüller
Sonst noch Mario Fortunato - Spaziergang mit Ferlinghetti, Hans Magnus Enzensberger - Eine Experten-Revue in 89 Nummern, Pynchons Natürliche Mängel etwa in der Mitte, Hölderlins Gesamtwerk vor dem Einschlafen (seit paar Jahren immer mal wieder paar Gedichte, dauert).|addpics|trl-5-2cf9.jpg|/addpics|
Nach dem Schaffensprozess wieder Zeit zum Lesen ja? ;-)
Saramagos "Claraboia oder Wo das Licht einfällt" ist toll geschrieben oder toll übersetzt oder beides. Ich mag es immer, wenn Personen des einfachen Lebens abgebildet werden. Denn im Grunde ist doch das Leben in den meisten Fällen einfach und belanglos. Bin gespannt wie sich der Roman weiter entwickelt.
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[i]Poka![/i]
Zitat von LX.C im Beitrag #10
Nach dem Schaffensprozess wieder Zeit zum Lesen ja? ;-)
So ungefähr, ja. Hab noch vergessen: vor paar Jahren mal von Bertolt Brecht Gesamtausgabe Gesammelte Werke 20 Bände Suhrkamp Verlag Erstausgabe 1967 - gebraucht - geschenkt bekommen für eine umfangreiche Lektoratsarbeit, die ich für jemanden machte. Hier nach 2014 nun weitergelesen im Band 8: Gedichte 1 (von 3). Konnte noch nie so flüssig Brecht lesen wie heute. Alles braucht irgendwie seine Zeit, also ich meine: Bücher, die man einst nicht lesen konnte ... Bin nur froh, dass ich mir in vielen Büchern im Regal Lesezeichen beließ. Aktuell viel Muße zum Lesen und vieles aktivieren können, was schon tot schien. Und: Herr Brecht hatte ja einen Outpunkt, das glaubt man so fürderhin gar nicht. Erst, wenn die 20 Bände so vor einem stehen und man zu blättern und zu lesen beginnt. Gute Güte, ob ich das jemals noch schaffe ... Naja, erstmal die Gedichte, den ersten Band krieg ich evtl. heute durch. Wann hat der das nur alles geschrieben? Tststs.
"Der Lärm der Zeit" von Barnes hat mir gefallen, auch wenn er nicht so ganz schafft, die Atmosphäre in ihrer ganzen Tragweite und Tragik darzustellen. Eher wirkt alles irgendwie stichpunktartig, die Akteure nahezu leblos. Wie Schostakowitsch war, schimmert dennoch durch. Unter den genutzten Quellen sind auch die Memoiren, die ich von Wolkow herausgegeben gelesen habe. Daraus hat sich Barnes neben der anderen Quelle sehr großzügig bedient. Schön war z. B. diese Szene:
Zitat von Barnes
"Aber Strawinsky hatte auch seinen Spaß. Jahrzehntelang war er von den sowjetischen Behörden als Lakai des Kapitalismus verunglimpft worden. Als dann ein Musikbürokrat mit falschem Lächeln und ausgestreckter Hand auf ihn zukam, ließ ihn Strawinsky, statt seine eigene Hand darzubieten, den Knauf seines Spazierstocks drücken. Die Geste war eindeutig: Wer ist jetzt der Lakai?"
Und wenn man schon beim Thema ist, dann gleich "Metropol" von Eugen Ruge hinterher. Auch hier sehe ich viel Potential, jedoch fehlt der Charme, den ich in seinen "Zeiten des abnehmenden Lichts" so gemocht habe. Vielleicht kenne ich die Materie aus anderen Schriften zu gut, so dass ich hier wenig Neues entdecke. Trotzdem ist es gut geschrieben.
Art & Vibration
Safranski hat mit seiner Hölderlin-Biografie, wie immer, ein solides, gut geschriebenes Buch verfasst, das sowohl die Person als auch das Werk eingehend betrachtet. Neues erfährt man darin allerdings nicht, was bei den wenigen bekannten Daten und Quellen aber auch kein Wunder ist. Schön die Bermerkungen über die Thesen Bertauxs und die über Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft" als Meisterwerk. Das sehe ich auch so. Waiblinger wird ebenfalls als wichtige Quelle benannt, dazu ein kurzer Blick auf die Wirkung nach Hölderlins Tod auf die Romantiker und Philosophen geworfen.
"Wenn sich dem Menschen die Götter entziehen, wird es dunkel, und er sieht überall in Natur und Geschichte nur sich selbst und seinesgleichen. Dann wird es eng, banal und grausam. Der Mensch kann den Menschen nicht aushalten ohne einen offenen Horizont. "
(Safranski interpretiert Hölderlin)
Momentan lese ich mit Begeisterung "Arthur Mervyn" von Charles Brockden Brown. Den haben viele bewundert, auch Shelley oder Poe. Nun weiß ich auch, weshalb. Mit so viel Spannung habe ich schon lange kein Buch mehr gelesen. Hintergrund bildet die Pest in Philadelphia.
Art & Vibration
Interessant sind in "Arthur Mervyn" besonders die drastischen Schilderungen des kursierenden Gelbfiebers (von Brown als Pest bezeichnet) und das Verhalten der Menschen in der Begegnung mit der Gefahr, die, laut Nachwort, auf authentischen Begebenheiten beruhen, da auch der Autor selbst sich angesteckt hatte, einige Freunde und sogar seinen Verleger verlor und überhaupt als Journalist tätig und mit der Materie vertraut war, bis ihn mit nur 39 Jahren dann selbst die Schwindsucht dahinraffte.
Dazu gehören die Beschreibungen der Abtransporte im Sarg von Erkrankten, die noch gar nicht tot waren, oder die menschenunwürdigen Verhältnisse in den Krankenhäusern, in denen die Kranken sich selbst überlassen wurden und oftmals inmitten von Leichen ihr eigenes Leben aushauchten, während Pfleger sich betranken und keinen Schritt in die strohbedeckten Krankensäle wagten, um sich nicht anzustecken. Der Erkrankte würgte einen schwarzen Auswurf hervor, in dem dann der Nächste liegen musste. Wer in der Stadt Hilfe suchte, stand vor verriegelten Türen. Brown gelingt ein äußerst lebendiges Bild.
Das Faszinierende ist dabei auch die Spannung eines Schauerromans, während der Schriftsteller sich an reale Dinge hält und das Mysteriöse oder Fantastische ausklammert. Die Spannung wird durch die Lenkung der Ereignisse erzielt, die ständig Zweifel und Hinterfragung des Erzählten hervorruft. Dazu findet man in seinen Büchern neben der Erzählkunst und Story immer auch aktuelles Zeitgeschehen.
Als Leser fühlt man sich wahrlich ins 18. Jahrhundert zurückversetzt und erlebt die Figuren als lebendige Rückblicke auf eine Zeit der Veränderung, beginnenden Emanzipierung und als Zeitgenosse der französischen Revolution. Gesellschaftliche Themen und Fragen werden unterschwellig eingebaut, ohne dass Brown Stellung bezieht. Ein wesentliches Merkmal seines Schreibstils ist das Spiel mit der Ungewissheit und dem Zufall. Der Leser weiß nie genau, welchen Charakter er wirklich vor sich hat. Brown war dann auch Inspirationsquelle für viele andere Schriftsteller, die heute bekannter sind.
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