HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Ok... diese wunderbare Zahl kann man ruhig noch einmal schreiben:
2020!!! Herrlich.
Ich bin ganz vertieft in den Briefwechsel zwischen Koeppen und seiner Frau. Der Band heißt "Trotz allem, so wie du bist" und ist eine gute Ergänzung zum Briefwechsel mit Unseld. Dabei dann auch erstaunlich intim und natürlich tragisch. Von Marion Koeppen sind nur wenige Briefe erhalten. Koeppen dagegen glänzt in seinen Berichten, besonders bei den Reisen in Frankreich und Amerika. Dann seine ständige Sorge um Marion, die alkohol- und tablettensüchtig war, Beziehungen zu anderen Frauen hatte und schließlich, nach dem Mord ihrer lesbischen Freundin, die als Taxifahrerin von einem Spinner erschossen wurde, ganz zugrunde ging und wohl an Leberzirrhose starb. Koeppen musste später sogar ihre Tabletten im Brief verschicken, damit sie nicht zu viel nahm und sorgte sich immer darum, dass sie nicht trank oder fremdging. Unglaublich, was ihn das an Kraft und Liebe gekostet hat. Im Unseld-Briefwechsel kommen diese Dinge auch ans Licht, da Koeppen so auch seine Schreibblockaden erklärt.
In der Ausgabe der Briefe der Eheleute wird im Einband die Frage umgekehrt, ob Marion nicht weniger schuld an der Blockade gewesen wäre, sondern ihm vielmehr Inspration war. Ich denke aber, dass so ein Leben und dieses ständige Sorgen und Kümmern einiges an Schreiblust killt. Koeppen musste vor den Exzessen und Gewaltausbrüchen immer wieder in Hotels flüchten und trotzdem aufpassen, dass nichts passiert. Geschrieben hat er natürlich darüber, sogar als Bericht in diesem Band enthalten. Schrecklich zu lesen. Schrecklich, wenn ein Mensch so verkommt oder keine Kontrolle über sich hat. Sie war 16 und er 38, als sie geheiratet haben. Koeppen bereute die Heirat später, obwohl er sie liebte, weil er der geborene Junggeselle war. Der Altersunterschied ist schon gravierend. Die Suchtprobleme lagen jedoch in ihrer Familie.
Ergreifend zu lesen ist dabei auch die ständige Geldnot, in der sich Koeppen befand. In Paris z. B. trifft er auf Joseph Breitenbach, von dem der "Bericht über Bruno" so schön ist. Der lebt dort in Luxus und Fülle, mit "unerhört teuren Luxusbuchausgaben", so Koeppen. Schön.
Art & Vibration
Interessante Empfehlung. Habe mir darauf, so zum neuen Jahr, nun endlich wieder eine Liste mit zu lesenden Büchern angelegt. Eine solche hatte ich schon mal, habe sie aber irgendwann gelöscht, weil ich dachte, das was man lesen möchte behält man schon im Kopf. Pustekuchen. Mit dem neuen Jahr soll diese Liste nun endlich wieder für mehr Orientierung sorgen.
Was steht bei mir an? Die Kiesgrube von Bykau geht ihrem Ende zu. Eine Partisanenroman, der sich im von Deutschen eroberten Weißrussland zu Beginn des Ostfeldzuges abspielt, wie so häufig bei Bykau auf einen sehr engen Handlungs- und Personenkreis beschränkt. Aber das macht den Autor aus. Situationen und Regungen aufs Kleinste zu sezieren. Gegenwart und Vergangenheit wechseln sich hierbei ab. Der Hauptprotagonist nimmt in der Gegenwart Grabungen in der Kiesgrube vor, in der er und seine Kameraden hingerichtet werden sollten. Nur er kam davon und sucht nun im fortgeschrittenen Alter nach seiner damaligen Liebe, deren Verbleib über die Nachkriegszeit für ihn ungewiss geblieben ist. Es ist klar, dass hierbei zahlreiche Abschweifungen in die Vergangenheit stattfinden. Einerseits die Erinnerte des Hauptprotagonisten. Andererseits ermöglicht der Autor über Erzählungen von Kriegsveteranen des Dorfes Einblicke in weitere Kriegsschicksale.
Unter dem Weihnachtsschiff :P lagen zudem Steffen Mau: Lütten Klein und Eugen Ruge: Metropol. Diese Werke sollen dann also folgen.
Frohes und gesundes neues Jahr!
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[i]Poka![/i]
RE: Januar/Februar/März 2020
in Lektüreliste 05.01.2020 19:04von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Haha. Das wünsche ich dir auch.
Stimme gleichfalls überein, dass eine Liste an zu lesenden Büchern hilfreich ist, auch wenn man sie nie ganz einhält oder dann doch anderes dazwischen schiebt. Ich setze darauf gleich einmal Boris Pilnjak "Das nackte Jahr" und Romane von Augusto Roa Bastos (dank einer Empfehlung, beginnend mit der "Nacht des Admirals"). Liegt alles schon auf dem Tisch bereit. Momentan aber erst die Biografie über "Roland Barthes" von Tiphaine Samoyault.
Es ist schon manchmal eigenartig, auf welche Bücher man trifft, besonders wenn man gar nicht so sehr danach sucht. Im Zuge Russland dann die Entdeckung Teffy. Das war Nadashda Lochwizkaja, eine damals sehr bekannte Satirikerin im Zarenreich, die auch Bühnenstücke verfasste und z. B. am Tisch von Rasputin saß. Später verlor sich ihr Bekanntheitsgrad, geschrieben hat sie aber immer noch.
Es gibt nun in deutscher Übersetzung ihren autobiografischen und teilweise dennoch fiktiven Bericht über ihre Reise von Moskau nach Kiew, die 1918 als Lesereise beginnt und zur Flucht vor den Bolschewiki gerät. Sie hat später in Paris gelebt und Moskau oder Russland nie wieder betreten.
Sie erzählt sehr humorvoll, so dass sich das Leid, die Strapazen und die Gefahren fast hinter der sprühend lebendigen Frau minimieren, als wäre das alles ein Klacks gewesen. Das Buch heißt darum auch nicht umsonst „Champagner aus Teetassen“.
Sie selbst gehörte der adligen Sippe an und floh auch mit einigen von denen. Schön z. B. schon am Anfang die Szene, als sie erzählt, dass sie fast gestorben ist als sie krank im Bett lag und ständig Besuch empfangen muss, da sie die Gäste nicht unhöflich hinauskomplementieren will. Diese feiern neben ihrem Bett, in dem sie fiebernd liegt, über Tage hinweg ihre ganz eigene Party und fressen dabei die Pralinen, die sie der Kranken mitgebracht haben (so ihre Worte - "fressen"). Erst der Arzt befreit sie von der Meute und ermöglicht so dann auch die Genesung.
Später , als sie sich im Chaos zurechtfinden muss, ist der Bericht großartig, wie sie versucht, auf ein Schiff zu gelangen, das dann unter eigenartigen Umständen ablegt, und wie sich die Menschen in ihrem wahren Charakter zeigen. Die Mächtigen werden klein und schwach, andere zeigen Größe. Ein sehr schönes Buch. Zumindest überraschend.
Zu Koeppen bliebe dann noch festzuhalten, dass die Tragik seiner Briefe mit Unseld tatsächlich aus dem gemeinsamen Spiel zwischen Verleger und Schriftsteller besteht, die ihre Rolle mit der Zeit und über die Jahre hinweg regelrecht aufeinander abstimmen, wobei Koeppen immer wieder das Manuskript verspricht und Unseld längst weiß, dass nichts kommt und ihn dennoch bestärkt und finanziell unterstützt.
Die Ausreden sind vielseitig, die Geduld Unselds beeindruckend, wobei dieser Koeppen trotzdem für viele Projekte nutzt, bei denen die wirklich Schreibenden dann gerne absagten, z. B. Bernhard, Handke oder Johnson. In Koeppens letztem Brief drängt dann regelrecht das Schuldgefühl hervor (ein fast erschütternder Moment). Er schrieb ihn, als er längst umnachtet und nicht mehr klar war, bei Besuchen Unseld und seine Frau nicht mehr erkannte. Darin die Worte:
„Ich werde dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben. Lasse mich das schreiben, störe mich nicht.“
Das nun ist ihm dann leider nicht mehr gelungen. Selbst nach Marions Tod schrieb er nur für die Schublade. Statt das gewünschte Manuskript abzuliefern, versprach er neue Projekte. Es gibt etliche Aufzeichnungen und Interviews von großen Plänen für neue Romane. Entstanden ist dann, außer den bekannten, keiner mehr. Und wer liebt nicht „Tauben im Gras“? Treffend bleibt dann Koeppens Aussage, die ihn auch charakterlich voll trifft:
„Komm an meinen leeren Schreibtisch voll von meinen Träumen.“
(Zitate aus dem Briefwechsel Ich bitte um ein Wort ...", Koeppen/Unseld, Suhrkamp Verlag)
Art & Vibration
Neu auf dem Bücherberg: Thomas Pynchon - Natürliche Mängel. Ein Hippie-Detektiv in der Surfer-, Drogen- und Gangsterwelt Kaliforniens. Ein psychedelischer Krimi. Spielt 1970. "Ein existenzialistischer Wahrheitssucher am Ende des Sommers der Liebe."
Ziemlich einfache, zugängliche Worte, der "leichteste" Pynchon, sagt man so. Komme jedenfalls, mal wieder, aus dem Lachen und der Bewunderung für Wortschatz, Wortbildung, Ideen kaum raus. Kann auch immer nur paar Seiten lesen, etwa so, wie man eine große Kiste, gefüllt mit geschmackvollen Pralinen, nicht auf einmal leerfrisst.
RE: Januar/Februar/März 2020
in Lektüreliste 24.01.2020 19:15von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Zypresserich im Beitrag #6
Neu auf dem Bücherberg: Thomas Pynchon - Natürliche Mängel. Ein Hippie-Detektiv in der Surfer-, Drogen- und Gangsterwelt Kaliforniens. Ein psychedelischer Krimi. Spielt 1970. "Ein existenzialistischer Wahrheitssucher am Ende des Sommers der Liebe."
Ha. Den habe ich auch noch herumliegen.
So viel dann bei mir zur erstellten Leseliste. Bin von dem, was ich wollte, natürlich schön abgekommen und mitten in Becketts Welt gelandet. Es gibt seine Briefe in vier Bänden, wobei selbst die nur eine kleine Auswahl sind. Beckett erscheint hier als kommunikativer Mensch und auch in den Briefen verspielt einfallsreich, wie man es aus den Romanen kennt. Ein Sprachmix auf hohem Niveau, während gleichzeitig sein Leben schön sichtbar wird.
Die Briefe sind sowohl in der englischen als auch deutschen Ausgabe gleich unterteilt. Daher habe ich den ersten Band (Volume 1) zunächst in der englischen Version gelesen. Die deutsche Version heißt "Weitermachen ist mehr, als ich tun kann: Briefe 1929–1940".
Band 2, 3 und 4 lese ich dann in Deutsch. Interessanterweise hat Beckett selbst einige Briefe in Deutsch verfasst, und zwar in einer sehr eigenen Art und Weise. Dazu vermischt er die Sprachen allgemein herrlich. Frage mich, wie die das in der deutschen Übersetzung gelöst haben, ohne dass der Witz dabei verloren geht. Liest man die Originalbriefe, wird dieser Sprachwechsel einzelner Wörter oder ganzer Briefe schön sichtbar. Nach Band 2 werde ich das dann wohl etwas besser beurteilen können.
Zu den Briefen dann auch die Biografie von James Knowlson über Beckett, damit etwas mehr Hintergrund sichtbar wird. Und da Beckett wiederum ein Fan von Joyce war, der in den Briefen auch häufiger auftaucht, lese ich nun die erweiterte Ausgabe von "Portrait des Künstlers in jungen Jahren". Die beginnt nicht mit Ovid und "Muh Kuh", sondern mit "Stephen der Held". Komplexer und auch trockener. Mal sehen. Alles, was ich bisher von Joyce geschafft habe, ist "Ulysses".
Art & Vibration
RE: Januar/Februar/März 2020
in Lektüreliste 25.01.2020 10:12von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Nun habe ich verstanden, wie sich das Joyce-Buch der Suhrkamp-Ausgabe zusammensetzt. "Stephen der Held" wurde als Manuskriptfragment vorangestellt und ist sozusagen die linear aufgebaute Version des später entstandenen "Porträts". Da Joyce es schlecht fand und nicht überarbeitete, sondern durch ein neu angelegtes und wesentlich experimentelleres Konzept ersetzte, sind beide in der Grundidee identisch. Joyce behauptete, er hätte das erste Manuskript ins Feuer geworfen, wobei seine Frau Nora dieses angeblich aus den Flammen rettete. Das Original weist allerdings keinerlei Brand- und Rußspuren auf.
Nach dem Lesen der ersten Version ist es dann doch eine Erleichterung, das eigentliche Werk zu beginnen. Ich würde Joyce in seiner Entscheidung zustimmen, wenn es um den Vergleich und Aufbau geht. Das "Portrait" ist deutlich angenehmer zu lesen, auch bewusstseinsströhmend und bildlich genialer auf den Punkt gebracht, während das ursprüngliche Manuskript zwar auch seinen Reiz hat, jedoch sehr gestelzt und klassisch verschraubt wirkt.
Dazu habe ich das "Porträt" in zwei verschiedenen Übersetzungen, neben Suhrkamp und dem Übersetzer Klaus Reichert dann auch die Manesse-Version von Friedhelm Ratjhen. (Bei dieser fehlt "Stephen der Held", dafür gibt es hilfreiche Anmerkungen.)
Hier gefällt mir letztere einen Tick besser, da die Wortwahl teilweise treffender erscheint. Über das Buch kann ich nun sagen, dass es mir sehr gut gefällt. Auch ist es interessant, einen Vergleich der Manuskripte zu haben. Vielleicht hätte ich die Leichtigkeit des eigentlichen Werks durch die Schwere der ersten Version gar nicht so richtig wahrgenommen. Man taucht sozusagen aus dem Komplexen in das geistreich Verspielte, das jedoch nicht abstrakt ist, sondern durch Wortschöpfung alle Blickwinkel, Sichtweisen und Gefühle verdeutlicht.
Art & Vibration
RE: Januar/Februar/März 2020
in Lektüreliste 30.01.2020 10:05von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Im Nachwort wird erwähnt, dass der junge Joyce, als er Dramen von Hauptmann übersetzt hat, die Stellen mit schlesischem Dialekt, die er nicht verstand, einfach durch Sternchen ersetzt hat. So ähnlich hat dann auch sein "Porträt" auf mich gewirkt, als eine dann doch eher ernüchternde Lektüre.
Letztendlich geht es nur um den Verlust des Glaubens und der Ausbau, der vielversprechend begann, gerät erneut in ein ähnlich Verkrampftes, das mir schon in der ersten Version nicht gefallen hat, und endet zudem als Tagebuch. Man mag ihm verzeihen, dass er das Werk nicht vollendet hat, daraus jedoch mehr zu machen als es ist, gelingt nicht. Ausgerechnet das Spannende, so z. B. die Erkrankung und der Tod der Schwester, lässt Joyce ganz weg, und die enttäuschte Liebe wird lediglich angedeutet.
Weshalb es bei dem Protagonisten zum Verlust des Glaubens kommt, ist im "Porträt" dann besser gezeichnet. Jedoch wühlt es kaum auf. Einzig interessant ist das Bild der Hölle, das der fanatische Pater entwirft und das den jungen Stephen für kurze Zeit seine Sünden bereuen lässt. Da bedient sich Joyce verschiedener Quellen. Ansonsten habe ich dann doch wenig gefunden, das überhaupt Wert wäre, in Erinnerung zu bleiben, schon gar nicht einen besonderen Stil (wie dann später bei "Finnegans Wake", ein Werk, das ich, dann wieder zu sehr ins Absurde getrieben, auch nicht lesen konnte). Ich hoffe, "Dubliner" reicht mehr an "Ulysses" heran oder schafft es wenigstens, mich zu fesseln. Das Beste, was ich aus dem Portrait gewinnen konnte, ist der Hinweis auf Lessings Schrift "Laokoon". Die lese ich jetzt, sozusagen als Trost.
Art & Vibration
Zitat von LX.C im Beitrag #9
Und ich habe Metropol von Eugen Ruge begonnen.
Dieser Roman ist ein episches Zeugnis davon, welch psychischer Gewalt die Menschen in Moskau der 30er ausgesetzt waren. Egal ob sie wissentlich mit dem Rücken zur Wand standen oder einfach nur eine Ahnung von der Willkür der Säuberungen hatten. Ohne Abbildung/Instrumentalisierung körperlicher Gewalt schafft es Eugen Ruge, das Klima der Angst während der Hochphase der stalinistischen Säuberungen dem Leser nahe zu bringen. Sobald die Schwarzen Raben nachts da waren oder einfach nur verplombte Türen von ihrer nächtlichen Anwesenheit zeugen, verliert sich bis auf vereinzelte Zeitungsberichte oder Spekulationen/Gerüchte jede Spur der Protagonisten.
Im Nachwort wird noch einmal klar, was so ein episches Meisterwerk für einen wahnsinnigen Arbeitsaufwand bedeutet und für Geduld bedarf (Ansätze gab es bereits vor "Zeiten des abnehmenden Lichts"). Und man findet sich kopfschüttelnd vor den letzten Seiten des Buches sitzen, in denen Eugen Ruge das tatsächliche Schicksal der einzelnen historisch verbürgten Figuren benennt. Immer wieder unfassbar.
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[i]Poka![/i]
Neu auf meinem Schreibtisch: Jan Wagner - Selbstporträt mit Bienenschwarm sowie Hans Magnus Enzensberger - Gedichte 1950 - 2020. Aktuell also auf dem Lyrik-Trip. Bin ja nicht so der Fan der jungen, modernen, deutschen Lyriklandschaft, aber der Jan Wagner, also der, der ist schon sehr speziell sehr gut. Und Enzensberger von je einer meiner Lieblingsgelesenen.
RE: Januar/Februar/März 2020
in Lektüreliste 09.03.2020 18:16von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ich habe nun einiges gelesen, wobei wenig dabei war, das der Rede Wert ist. Entdeckt habe ich das Werk von Panait Istrati. Zumindest hat es Roland Barthes seinen Freunden empfohlen (wurde in der Bio erwähnt). Die Werke bauen aufeinander auf und haben durchaus ihren Charme. Istrati wollte sich 1921 in Nizza die Kehle durchschneiden, was nicht gelang. So hat er dann eben einen verzweifelten Brief an Romain Rolland geschrieben und von seinem schwierigen Leben erzählt. Er war der Sohn eins griechischen Schmugglers und einer rumänischen Bäuerin, wanderte als Lebenskünstler (!) durch die Welt und war dann durch die Armut und Verzweiflung kurz davor, alles zu beenden. Rolland wiederum war von dem Bericht begeistert und empfahl Istrati, statt Briefe zu schreiben, lieber sein autobiografisches Werk zu beginnen. Das tat er dann auch und brachte seinen ersten Roman "Kyra Kyralina" heraus. Es folgten viele weitere, die die Welt der Abzocker, Schmuggler, Verbrecher, Sklavenhalter usw. umschreiben, wobei auch viel Selbsterlebtes mit einfließt. Die Darstellung der Charaktere und der Charme der Gegenden, in denen das alles passiert, kommen gut herüber. "Kyra Kyralina" und "Onkel Anghel", die ersten Romane, habe ich gelesen und fand sie ganz interessant. "Die Disteln des Baragan" dagegen, ein späteres Werk, wechselt in die Ich-Perspektive und erzählt die Geschichte eines Jungen, der aus der Armut seiner Elternwelt ausbricht, indem er den fliegenden Disteln folgt und herausfinden will, wo er landet. Hintergrund des Romans bildet die Unterdrückung der rumänischen Bauern. Dieses Buch hat mir sehr gefallen und war dann auch die Empfehlung von Barthes.
Dann habe ich Nicolas Borns "Die Fälschung" gelesen. Da geht es um einen Reporter, der seinem eigenen Alltag entkommen will, indem er in den Libanon geht und die Kriegsberichterstattung macht. Schnell erkennt er, wie schwer es ist, parteilos zu bleiben und wie der Krieg durch die interessierten Mächte finanziert wird. Er gerät in eine Krise, die er kaum bewältigen kann. Sehr schön für mich war, wie Born diese Emotionen ausdrückt, ohne dabei plakativ zu sein. Der Prozess ist schleichend, wenn der Protagonist auf so viel Leid und Tod, Abschlachtung und Unrecht trifft. Erst, als er selbst jemandem ein Messer ins Fleisch stößt und sieht, wie schwer das ist, fühlt er eine erste Befreiung und Zugehörigkeit zum Krieg. Er der weniger die Fälschung seines Lebens fürchtet als die Gewöhnung an das gefälschte Leben, wird mit einer anderen Welt konfrontiert, die keine Rücksicht auf Alltägliches nimmt. Trotzdem muss er das Ganze abspulen lassen und zusehen, wie er überlebt. Auch ändert sich das Geschehen, sobald er es in die Welt trägt, denn dem Westen muss etwas anders an Medien verkauft werden als die wirklichen Tatsachen. Hier gilt es mehr, den Hunger einer Anteilnahme oder ein allgemeines Interesse zu bedienen. An der Wahrheit ist, wie immer, keiner interessiert. Da wird einiges aufgeworfen, das wieder einmal nachdenklich macht. Auch gefällt mir die Ehrlichkeit des Romans.
Nun lese ich, gut eingestimmt, dann auch Augusto Roa Bastos "Die Nacht des Admirals". Dieser Roman nun wieder ist ein poetisches Wechselspiel aus Historie und Fantasie. Mal sehen.
Art & Vibration
RE: Januar/Februar/März 2020
in Lektüreliste 12.03.2020 09:16von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Roa Bastos Buch hat mich in große Verwirrung gestürzt. Nicht wegen dem Inhalt, der ist großartig und behandelt poetisch genial Kolumbus und die Sicht seiner Chronisten, sondern wegen den Anstreichungen im Buch, die auf den Punkt genau mit meinem eigenen Geschmack übereinstimmen. Zuerst dachte ich, der Vorbesitzer des Buches muss einen Seelenverwandter sein, denn ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, das Buch gelesen zu haben. Nun, Seiten später, bin ich auf eine Zeichnung gestoßen, die verdächtig nach mir aussieht. Kein Wunder also, diese Übereinstimmung. Mein Jetzt-Ich und mein vergangenes Ich reichen sich die Hand.
Der Roman jedenfalls lohnt das Mehrfach-Lesen. Auch wegen solcher Zitate (die ich ja nun doppelt angestrichen habe) :
"Ein geborener Leser liest immer zwei Bücher zugleich: das geschriebene, das er in der Hand hat und das lügenhaft ist, und das andere, das er innerlich mit seiner eigenen Wahrheit schreibt."
(Augustos Roa Bastos "Die Nacht des Admirals")
Art & Vibration