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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Olga Tokarczuk

in Die schöne Welt der Bücher 14.10.2020 21:23
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Olga Tokarczuk
„Die Jakobsbrüder“


In ihrem tausendseitigen Gigantenwerk „Die Jakobsbrüder" erzählt Olga Tokarczuk die teilweise echte und mit fiktiv gestalteten Elementen und Figuren gespickte Geschichte des jüdischen Frankismus‘, deren Gründer der im Buch als Protagonist und Sektenführer auftretende Jakob Frank ist. Dieser will sich nach dem Aufenthalt in der Türkei und in Griechenland endgültig vom Judentum lossagen, das er für rückständig hält. Schriften wie der Talmud und die Thora fördern in seinen Augen den Aberglauben. Für seine eigene Lehre entnimmt er diesen, aber auch der Bibel und dem Sufismus, verschiedene Ansätze, um daraus eine eigene Mystik zu kreieren, durch die er etliche Anhänger findet, die er zur Taufe überredet, um das Judentum hinter sich zu lassen. Bei den Juden wird er daher als Ketzer verbannt. Der Fluch trifft ebenso seine Anhänger, die er Brüder und Schwestern nennt und die sich ihm komplett unterwerfen.

Für Jakob und die Frankisten hat die Entstehung der Welt dazu geführt, dass Gott seine Schöpfung danach verlassen hat.
"Es kann geschehen, dass Gott sich erschöpft an seinem Glanz und seiner Stille, dass ihm unwohl wird von seiner Unendlichkeit. Und wie eine große, allempfindliche Auster, deren Körper, so nackt und zart, das feinste Beben eines winzigen Lichtsplitters wahrzunehmen vermag, zieht er sich zusammen, zieht sich in sich selbst zurück, und in dem Raum, den er freigibt, entsteht aus dem Nichts – ein Stückchen Welt."

Der Beweis dafür ist das Böse in der Welt, wobei Jakob Frank sich für eine Inkarnation des biblischen Jakobs hält und ebenso der zwei Messiasse vor ihm, Schabbtai Zvi und Baruchia Russo. Für ihn ist jedoch der wahre Messias weiblich, genauer eine Jungfrau, die die Welt erlösen wird und den Weg zum wahren und Guten Gott ebnet. Um dahin zu gelangen, müssen die Jünger alle Gesetze und Glaubenstraditionen brechen und ins Gegenteil verkehren, denn nur der tiefe Fall hebt in die Höhe und damit näher zu Gott.
Für die Frankisten ist die vollständige Gesetzesbrechung die Taufe und das Bekennen zum Katholizismus. Diesen Weg der Dreifaltigkeit gehen Jakob Frank und seine Anhänger auch, so dass Frank am Ende als zwar verschuldeter, jedoch in den Adelsstand erhobener Baron von Offenbach stirbt. Es geht entsprechend um eine Assimilation, um den religiösen Glauben und die Gesellschaft mit ihren, für die Frankisten, falschen Gesetzen von innen zu zerstören. Frank gewinnt dafür einige angesehene Gönner, so den spielsüchtigen Erzbischof von Lemberg, der dafür gut bezahlt wird.

Torkaczuk erzählt die Geschichte in ihrer ganz eigenen poetischen Art, die in all ihren Büchern fesselt. Das Mystische reicht bis zu einer lebendigen Toten, durch deren Augen der Leser in der Zeit reist, weil Zeit nach dem Tod keine Bedeutung hat. Jenta, die durch einen Bann nicht sterben kann, da sie der Tod ausgerechnet bei einer Hochzeit ereilen will, was Unglück gebracht hätte, bleibt lebendig tot und landet irgendwann in einer Höhle, in der sie zum leuchtenden Kristall wird, denn die „Wahrheit der Welt ist nicht die Materie, sondern das Flackern der Funken des Lichts, dieses unablässige Flimmern, das einem jeden Ding innewohnt". Sie ist Sinnbild für den Aberglauben und die praktische Kabbala mit ihrer Zahlenmystik und den Amuletten, die auch bei ihr eine fortdauernde Wirkung entfalten. In jener Höhle ruhen laut Jakob auch die Knochen von Adam und Eva, und später, in Nazizeiten, ermöglicht die gleiche Höhle 38 Juden mit Kindern das Überleben. Das ist nach einer wahren Begebenheit erzählt.

Jakob selbst wird als Scharlatan dargestellt, der durch geschickte Lenkung und die Hörigkeit seiner Jünger sein Leben gut einrichtet, bis man ihn verrät und er dafür sogar in den Kerker eines Klosters kommt, wo er jedoch bald erneut den Luxus seiner Messiasposition wahrnehmen kann, wenn auch durch die Feuchtigkeit und Kälte solcher Bauten mit Einbußen seiner Gesundheit. Er lehrt, dass seine Anhänger sich sexuell frei entfalten sollen und sieht in seiner Tochter, die dann den katholischen Namen Eva erhält, die mögliche Jungfrau der Schechina als weiblicher Messias, was sich nicht bestätigt. Auch gibt er an, sie wäre eigentlich ein Mitglied der russischen Zarenfamilie und nur von ihm aufgezogen. Daher freut er sich, als sie ein kurzes Techtelmechtel mit dem österreichischen Kaiser Joseph II. hat, der sie dann jedoch fallen lässt und von dem möglicherweise auch das Kind stammt, das Jakob "wegmachen" lässt, damit die Rolle der Jungfrau weiter gewahrt bleibt.

Charismatisch wirkt der angebliche Messias nicht. Er nutzt seine Anhänger aus und lebt später in Saus und Braus auf Kosten anderer. Viele Figuren, die Tokarczuk auftreten lässt, sind echt und tragen dazu bei, dass die Sekte größer wird.
Die Aufzeichnungen der "Worte des Herrn" von Jakob Frank und seinen Brüdern und Schwestern, die er zum Sex mit ihm oder gegenseitig zwingt, um die Regeln zu brechen und so die höhere Erkenntnis des Da'at als mythischen Raum zu erlangen, ähnlich wie die Adamiten durch Nacktheit zum Ursprung zurückfinden wollten, gehören bis heute zur jüdischen Literatur, obwohl sie die jüdische Traditionen und Lehren boykottieren. Im Roman werden viele Auszüge daraus durch den Anhänger Nachman wiedergegeben. Tokarczuk gelingt ein umfassender Rundumblick, der mit dem Messias Schabbtai Zvi beginnt und sich bis zum Tod der Tochter Eva Frank erstreckt, während Jenta als in der Höhle gefangener Körper und reisende Seele am Ende sogar die Schriftstellerin selbst streift, als diese das Buch beendet.


(Alle Zitate aus Olga Tokarczuk "Die Jakobsbrüder", Kampa Verlag)




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