HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
|
Antonio Lobo Antunes
in Die schöne Welt der Bücher 27.05.2021 19:38von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Antonio Lobo Antunes
"Das Elefantengedächtnis"
In einem Irrenhaus, wo sind da die Irren? ließ der Arzt nicht locker. Warum schleppen wir uns hier herum, wir, die wir noch die tägliche Ausgehgenehmigung haben, wenn wöchentlich ein Schiff nach Australien fährt und es Bumerangs gibt, die nicht an ihren Ausgangspunkt zurückkehren?
Das ist der erste Roman Lobo Antunes' und gleichzeitig der erste Teil einer Trilogie. In der deutschen Übersetzung erschien er erst Jahre später, obwohl er im Grunde den Ausgangspunkt für alle weiteren Werke bildet und sich gleichzeitig von diesen unterscheidet. Er ermöglicht den optimalen Einstieg in die Welt und das Denken und Fühlen dieses faszinierenden Schriftstellers, der so herrlich durch Lissabon irrt und die Welt verflucht. Auf jeder Seite ist die Verzweiflung spürbar,... und noch viel mehr.
Jeder Satz ist gefeilt, gefiltert, poetisiert. Mag das manche Leser irritieren oder stören, ich finde es beeindruckend. Ich spüre regelrecht, wie sich mein Hirn anspannt und in den Synapsen vibriert, um alles zu erfassen. Bilder in Worten. Voll von trockenem Humor, der manchmal plötzlich aufbricht, und sei es durch eine Beschreibung, wie diese:
Zitat von Lobo Antunes
"Wir sind beide, er wie ich, Sandokans in mittlerem Alter, dachte der Arzt, wo das Abenteuer darin besteht, in der Zeitung die Seite mit den Todesanzeigen in der Hoffnung zu entziffern, die Auslassung unseres Namens möge uns garantieren, daß wir noch am Leben sind.
Und dennoch zerfallen wir in Einzelteile, die Haare, der Blinddarm, die Galle, ein paar Zähne, als wären wir zerlegbar."
Und daneben reine Poesie. "... die Verse, die ich heimlich ausschied, Kokons aus Sonetten für eine formlose Angst".
Im Roman geht um einen Psychiater, der am Ende ist, sich von seiner Frau getrennt hat, die er noch liebt und mit der er zwei Töchter hat, und der den täglichen Kampf mit den Verrückten und dem eigenen Verrücktwerden aufnimmt. Er hat den Kolonialkrieg in Afrika als Hölle erlebt und findet sich in Friedenszeiten in der eigenen wieder. "Einblicke in die Hölle" ist ein weiterer Teil dieser Trilogie, während "Der Judaskuss" ihn berühmt machte und ebenso dazu gehört.
Es geht um ihn selbst, um einen Menschen, der aus dem Krieg zurückkehrt und dort alles gelassen hat. Mit 30 Jahren zwangsrekrutiert durch das Salazar-Regime, das in Miniaturen von Bewunderern weiterlebt, hat er das blutige Leiden von Kindsoldaten gesehen, wurde traumatisiert und muss danach mit einer tiefsitzenden Angst leben, die ihn und sein Leben auffrisst. Der Kampf im Krieg hat ihm das alltägliche Kämpfen für das Leben madig gemacht. Daher das Verlassen seiner Familie, in der Hoffnung, sich zu finden, daher der tiefe und haltlose Sturz in den Abgrund, um sich wieder zu spüren. Doch es misslingt. Das Elefantengedächtnis ist allgegenwärtig. Es ist das Unvermögen, zu vergessen, und es macht ihn zum Gefangenen seiner Depressionen und Erinnerungen.
Lobo Antunes erster Roman, 1976 geschrieben, ist noch nicht so verschachtelt und verkompliziert wie die folgenden, in denen er das polyphon narrative Erzählen als selbst erfundenes Verfahren verfeinert und perfektioniert. Im Gegenteil ist vieles in diesem Roman noch sichtbar autobiographisch, so die Übernahme der Stelle in der Psychiatrie von seinem Vater (als nächste Hölle, aus der er sich nur langsam befreien kann, um Schriftsteller zu werden) oder das Verlassen seiner Frau, was er auch später bereut und in der Handlung nicht nachvollziehen kann. Als er darüber schreibt, ist die Trennung noch nicht vollzogen. Der Roman greift entsprechend vor oder gebiert erst die Idee, weil Scheidungen damals in Portugal in Mode waren.
Die gesamte Kriegserfahrung als Militärarzt ist real. In Afrika hat er das geduldige Verharren in einer allumfassenden Gegenwart erlernt. "Das Gedächtnis" , sagt Lobo Antunes, "ist ein labyrinthisches Lagerhaus, in dem die eigene Vergangenheit gesammelt ist." Man kann Fehler nicht korrigieren und man kann nichts ins Reine schreiben. Aber man kann von allem berichten, und manchen gelingt das Erzählen.
Zitat von Lobo Antunes
Hier hinein, dachte der Arzt, mündet das letzte Elend, die absolute Einsamkeit, was wir an uns selber nicht ertragen können, die verborgensten und beschämendsten unserer Gefühle, die wir bei den anderen Verrücktheit nennen, die aber letztlich unsere eigene ist, vor der wir uns schützen, indem wir sie mit Etiketten versehen, hinter Gittern zusammenpferchen, mit Pillen und Tropfen nähren, damit sie weiterbesteht, der wir am Wochenende Ausgang geben und sie auf den Weg in eine »Normalität« bringen, die wahrscheinlich nur darin besteht, das Leben auszustopfen.
(...)
Der Psychiater wünschte sich verzweifelt ein Esperanto, das die äußeren und inneren Distanzen zerstörte, die die Menschen trennten, einen verbalen Apparat, der fähig war, Morgenfenster in den dunklen Nächten eines jeden zu öffnen wie bestimmte Gedichte von Ezra Pound, die uns in betörender Enthüllung unvermittelt die eigenen Dachböden zeigen.
(Alle Zitate aus Antonio Lobo Antunes "Das Elefantengedächtnis", Luchterhand Verlag)
Art & Vibration
Ja, dieses Werk hat etwas. Daher Dank für diese Empfehlung.
Intensiv und originell erzählt, wobei es thematisch und im Gestus teilweise an den einen oder anderen Argentinier der 60er erinnert, sprachlich aber doch sehr eigen, ebenso die Verwendung des lokalen, nationalen und kolonialen Hintergrundes. Erstaunlich diese Dichte, ohne dass das Gefühl aufkommt, da werde zu viel auf einmal erzählt. Allein berühmte Namen lässt er für meinen Geschmack zu häufig fallen; ich schätze, es waren um die hundert, meist Schriftsteller, Maler, Musiker und Schauspieler.
Später veröffentlichte Lobo Antunes fast jährlich einen neuen Roman, insgesamt 28 in 37 Jahren, oft wesentlich erfolgreicher beim breiten Publikum als jener Erstling, also mal schauen, ob die nachfolgend verwendeten polyphonen Erzähltechniken und das schnellere Schreiben zulasten der Sprachgewalt gingen. "Der Judaskuss" wird (auch) bei mir irgendwann folgen.
RE: Antonio Lobo Antunes
in Die schöne Welt der Bücher 30.05.2021 15:33von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja. Das Heranholen bekannter Namen scheint in vielen Erstlingswerken ein Kniff zu sein, der dann zum Glück nachlässt. Gleichzeitig ist es ein Verweis für mich, dass der Schriftsteller wahrscheinlich meine manchmal überborderten Ansprüche erfüllt. Manchmal dann auch nicht.
Das interessanteste Bild bei Lobo Antunes waren für mich "die Graubarschaugen". Darauf muss man ja erst einmal kommen. Ich werde nun einem Graubarsch tief in die Augen blicken müssen, aber auch so weiß man genau, was gemeint ist. Das Bild öffnet sich beeindruckend real.
Ich lese gerade "Der Judaskuss" und werde auch den dritten Teil lesen. Bin gespannt, wie sich der Stil verändert und ob die Bilder an Kraft verlieren. Werde dann berichten.
Antunes hat mich auf jeden Fall begeistert. Und, wie du sagst, für mich auch erstaunlich, dass seine poetisierte Bildsprache nicht störend wirkt. Bei anderen dringt das Bemühte und Zurechtgefeilte durch, zum Beispiel häufig bei Thomas Mann. Bei Antunes scheint es natürlich und wirkt immer überraschend oder als trockener Humor. Man spürt, dass seine Wortschöpfungen aus dem eigenen Inneren stammen. Und das macht sein Schreiben einmalig.
Art & Vibration
Statt poetisierend würde ich es eher metapherreich nennen, da Tonlage und Rhythmus auf mich nicht lyrisch wirken. Bis auf wenige Ausnahmen (weniger originelle oder nicht so passende Vergleiche) bereichern seine Bilder das Geschehen.
Vor zwei Jahrzehnten legte ich mir eine Lobo-Antunes-Datei an, mit Leseproben und ein paar Rezensionen zu: "The Inquisitors' Manual", "Einblick in die Hölle", "Fado Alexandrino", "Die natürliche Ordnung der Dinge" und "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht". Damals fiel meine Einschätzung negativ aus.
RE: Antonio Lobo Antunes
in Die schöne Welt der Bücher 31.05.2021 13:00von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Durchaus. Poesie ist es nicht. Wenn ich vermuten müsste, würde ich sagen, dass "Der Judaskuss" dann auch weniger Anklang bei dir findet, da hier die Namen und Vergleiche stark zunehmen. Gleiches gilt für mich. Ich setze "Das Elefantengedächtnis" an die erste Stelle, obwohl mich der Schriftsteller weiterhin packt. "Fado Alexandrino" wiederum erinnert mehr an das Erstlingswerk, bleibt aber auch mehr Stoff und ist wesentlich komplexer.
Oder ausführlicher:
Antonio Lobo Antunes
"Der Judaskuss"
... der Arzt im Rang eines Leutnants, verließ das Flugzeug gebeugt unter dem Gewicht von 35 Tagen Angst und Freude...
In diesem Roman entsteht der berühmte Erzählstrom, der Lobo Antunes Werk prägen soll und der gleichsam wie ein Sog ins Buch führt. Die Sicht wechselt in die Ich-Perspektive, und der Leser folgt dem imaginären Gespräch mit einer Frau, die in einer Bar den Geschichten des Erzählers aus Krieg und Leben lauscht, bevor beide in die Nacht verschwinden, um der Einsamkeit zu entkommen, die in jeder Nuance spürbar ist.
Erstaunlicherweise kommt das ganze Elend, das der Krieg in einem menschlichen Gemüt anrichten kann, im ersten Teil etwas besser zur Geltung, als eine originell empfundene Rückkehr nach Lissabon und mit der still leidenden Reflexion im Taumel des Dahinlebens, während dieser Teil, wo es tatsächlich nach Afrika geht, etwas an Intensität verliert, auch wenn das Erlebte durchaus bildgewaltig in Blut und Eiter gefasst ist. Es ist jedoch schon mehr Aufschrei und Zorn und nicht mehr die feinsinnige Andeutung. (Vielleicht liegt es auch daran, weil die Gedanken um Ähnliches kreisen und der Zerfall in Alkohol und Desillusion seinen Lauf nimmt.)
Der erste Teil ist subtiler und kompensierter. Und statt die etlichen Maler, Schriftsteller, Dichter, Filmemacher, Schauspieler und Musiker zu reduzieren, gebraucht Lobo Antunes sie am Anfang des Buches stärker, um seine Bilder zu formen, verzichtet dennoch nicht auf die eigenen Gedankengespenster, die so viel schöner sind und etwa ab der Mitte des Romans in ihrer ganzen Pracht auferstehen, um die ewigen Zwangsmetaphern hinter sich zu lassen. Manch ein Vergleich ist auch gelungen, so für mich z. B. das Modigliani-Bildnis:
"Amadeo Modigliani, der auf dem Grund seines Glases das ermordete Gesicht einer Frau sucht;..."
Dazu scheint er ein Fan von Paul Simon zu sein, den er in beiden Romanen vollständig zitiert. Hier hätte sicherlich ein Auszug genügt.
Lebendig ist dieser Teil trotzdem, gut geschrieben sowieso. Lobo Antunes Werke lassen sich grundsätzlich unabhängig von einander oder von der Reihenfolge ihrer Entstehung lesen. Er befasst sich immer wieder mit ähnlichen Themen.
Mir gefällt der erste Teil einen Tick besser. Er ist die Essenz mit einem wunderbar schimmernden Lissaboner Lokalkolorit, das den Leser einnimmt und das auch im zweiten Teil in so manchem Vergleich auffunkelt, so in der Langweile sonniger und staubiger Tage, im Zahnstocherkauen eines Kioskbesitzers. Aber hier gewinnt der Vorwurf mehr Raum, der im ersten Roman noch hinter dem Erzählten zurücksteht. Und wo ich im "Elefantengedächtnis" noch dachte - erstaunlich, dass er Pessoa nicht erwähnt - holt er das im zweiten Teil dann nach. Man verzeiht es ihm, weil man Pessoa liebt, und weil es eine Momentaufnahme bleibt.
Schön eingekreist ist Afrika, der ganze Gestank, die Armut, die Rituale und die schwitzenden Offiziere, die mit ihren Koliken kämpfen. Mir gefällt Lobo Antunes Humor. Manchmal muss ich losprusten, so überraschend sticht eine Bemerkung hervor, die den Nagel auf den Kopf trifft.
Gelungen ist auch der Anfang, als vom Aufbruch nach Afrika die Rede ist und der Erzähler immer wieder in seine Kindheit abschweift (da darf auch Proust nicht fehlen, ja, ja), wo muffige Tanten und Onkel als Salazar-Anhänger die patriotische Faust schwingen, um ihm zu prophezeien, dass er als Soldat zum Mann wird. Der Krieg als die Hure Babylons oder auch nur in der Vorbereitung stickiger Bordelle. So wird er zum Mann, und nicht anders. Nicht als Held und Ordensträger, nicht gereift und diszipliniert kehrt er zurück, sondern verloren und in sich selbst vereinsamt. Der Krieg nimmt ihm die Kindheitserinnerungen, den Alltag, die Liebe zu seiner Familie. Er wächst in das Danach hinein.
"... ich weigere mich, in der abweisenden, bösartigen Desillusioniertheit dieser Frauen und Männer das zersprungene Abbild meiner eigenen Niederlage zu erkennen,... ".
Die Frage wird immer lauter: Warum der ganze Mist? Während die Söhne der Kriegsplaner verschont bleiben. Das ist eine andere Erfahrung als im sterilen Krankenhaus. Der Verletzte und Tote erhält ein anderes Gesicht, das sich ins Gedächtnis brennt, das die Verfolgung aufnimmt, bis in die alltäglichen oder romantischen Begebenheiten, wo die Unschuld eines Kindes oder einer stillenden Mutter keinen Sinn mehr ergibt. Wo der Krieg selbst bis in die Umarmungen vordringt.
Woran die Ehe tatsächlich zerbrochen ist, wird im "Judaskuss" auf jeden Fall wesentlich sichtbarer.
Und auch nach dieser Lektüre kann ich nur betonen, dass seine Romane faszinierend sind, gar süchtig machen. Man möchte sie nicht zur Seite legen. Genauso von der ersten Seite gepackt hat mich "Fado Alexandrino", ein Roman, der deutlich dicker ist und bei dem die Ich-Perspektive wechselt und auf mehrere Erzähler übergeht. Der Gedankenstrom des Erzählers fesselt bis zuletzt und es gibt keinen Augenblick, in dem man aus der Bahn geworfen wird oder nicht mehr folgen kann. Alles fügt sich. Alles ist Fluss. Dieser gewinnt an Kraft und Länge, wird aber meines Erachtens auch oberflächlicher. Das tut den Werken jedoch keinen Abbruch.
Art & Vibration
Der Sog war schon im Elefantengedächtnis auffällig und ähnelt dem von Reise ans Ende der Nacht. An Cèline erinnern auch die Art mancher Bilder, einige sexuell gewagte Beschreibungen und die Psychiatrie. Apropos Kioskbesitzer – gab es in Cèlines Nacht nicht eine Kioskverkäuferin, die sich an einer Bindehautentzündung kratzte und geduldig Dreck reinrieb? Sie wussten beide, wo sie hinzuschauen hatten.
Pessoas Hauptwerk wurde erst 3 Jahre nach Lobo Antunes' ersten Romanen veröffentlicht. Wenn der Nachgeborene Pessoa im zweiten Roman erwähnt, hat er immerhin was Läuten hören oder wusste dessen Lyrik zu schätzen.
Was du schreibt, stimmt für weitere Lektüre(n) zuversichtlich.