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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Jurij Wynnytschuk

in Die schöne Welt der Bücher 17.04.2015 21:29
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Jurij Wynnytschuk
"Im Schatten der Mohnblüte"


(S. 127)
„Die Träume schälen verborgene Erinnerungen aus uns heraus, aber wir erinnern uns zu selten an sie. Würden wir sie analysieren, uns in sie vertiefen, diese wundersamen Gässchen, und Menschen aus den Träumen wirklich suchen ... Doch man braucht Kraft – und einen Impuls dazu. Menschen aus Ihrem früheren Leben können ganz in ihrer Nähe sein, denn frühere Freunschaften ziehen einander an genauso wie frühere Lieben. Auf einem anderen Blatt steht natürlich, dass Sie davon keine Ahnung haben.“




Endlich ist mir einmal wieder ein Buch in die Hände gefallen, das es wert ist, es zu rezensieren. Der Autor Jurij Wynnytschuk, geboren in Ivano-Frankwsk in der Ukraine, ist einer der bekanntesten Schriftsteller seines Landes, wenn auch hier zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Er wurde 1952 geboren und konnte, aufgrund der bekannt politischen Verhältnisse dort, seine Schriften nicht unter eigenem Namen veröffentlichen. Nun erscheinen die ersten Werke und hoffentlich nicht die letzten.

Ursprünglich sollte das Buch in der deutschen Übersetzung mit dem eigentlichen Titel „Todestango“ erscheinen, denn um diesen geht es ja im Grunde auch. „Im Schatten der Mohnblüte“ ist zwar ebenfalls ein starker Verweis auf den Inhalt des Buches, aber nicht ganz so drastisch, weshalb er mir auch besser gefällt. Gerade das Zarte und Zerbrechliche, das dem Autor beim Erzählen gelingt, hält sich großartig mit dem Titel die Waage.

Obwohl viele Ereignisse dramatisch sind, insbesondere gegen Ende des Buches, wenn die ganzen Gräuel des Zweiten Weltkriegs, der Einmarsch der russischen „Befreier“ (die fast bestialischer wüten als alle anderen) und dann der Deutschen in Lemberg geschildert wird, samt der Erschießung aller Juden, gewinnt das Schöne, das Phantasievolle, die Freude am Leben, das Schelmische und die Situationskomik immer die Oberhand, vielleicht begleitet durch den Hauch an Schmerz und Rückbesinnung, um sichtbar zu machen, wie zerbrechlich alles ist.
Lemberg bleibt dabei in erster Linie ein historischer Ort, der von deutschen, russischen, polnischen, ukrainischen und österreichischen Truppen besetzt war, von ähnlich verschiedenen Menschen samt der jüdischen bewohnt. Die Stadt selbst wurde mehrere Male komplett zerstört, die Menschen dort ermordet. Wenn der Erzähler in der Gegenwart durch ein trostloses Lemberg schlendert, wo das Schlangestehen nach Nahrungsmittel so alltäglich ist wie das Fehlen guter Bücher, ist es eine andere Stadt als die, von der er liest und die ihre Wunden nur allzu gut verbirgt, da sie, wie der Rest, ausgelöscht scheinen. Die Ruinen muss er sich denken, muss sie ausfindig machen, ohne den Gegenwert einer Gedenkstätte vorzufinden.

Die Erinnerung spielt eine wesentliche Rolle in den Ereignissen, die in Lemberg stattfinden. Während alles vergeht, zerfällt, schließlich ausgelöscht wird, bleibt das, was dort geschehen ist, gleichzeitig als höhere Melodie erhalten, die in der Hoffnung auf bessere Zeiten nachklingt.

„Wenn ich nicht mit dir sein kann,
und Sand die Körper bedeckt,
werden wir uns sehen, wo der Mohn tanzt,
dort, wohin sein Schatten fällt.“


Die Geschichte dreht sich um zwei verschiedene Erzählebenen, die von dem Wissenschaftler für alte Sprachen, Mirko Jarosch, der im Lemberg der Achtziger und Neunziger Jahre lebt, und die der vier Freunde Orest, Jar, Wolf und Josip (Joschi) aus den Vierzigern, deren Väter alle, obwohl verschiedener Herkunft, für die Ukraine gefallen sind, was nicht nur die Kinder, sondern auch deren Familien zusammenschweißt. Die Mischung ist dann eine polnische, ukrainische, deutsche und jüdische, und die vier Freunde verstehen sich großartig, von denen nach dem Krieg nur der Jude Joschi überlebt, der ein Virtuose auf der Geige ist und die Melodie des geheimnisvollen Todestangos kennt. Der Wissenschaftler Jarosch, der nach und nach die Geschichte herausfindet und dazu seine eigene erlebt, hat ebenfalls einen familiären Bezug zu den Verstorbenen, der später sichtbar wird.

Die Vergangenheit der vier Freunde ist durch Orest überliefert, der Tagebuch geführt hat. Das Heft landet in den Händen von Jarosch, der sich auf die Suche nach Joschi begibt und mehr über den Todestango erfahren möchte. Er befasst sich mit der alten Sprache Arkaniens (laut Buch ein Staatsgebilde auf dem Territorium der heutigen Türkei, 18. – 8. Jh. V. Chr.) und stößt auf das arkanische Totenbuch, in dem von zwei Seelen geredet wird, die den Körper besetzen, eine, die dem Körper anhaftet und eine, die der anderen Seele zur Seite steht und das Vorleben kennt. Der Körper samt seiner Seele wäre eine Melodie und diese ließe sich sogar spielen, dass derjenige, der sie vor seinem Tod vernimmt, im nächsten Leben dazu bestimmt ist, sich an das vorangegangene erinnern zu können.
Jene zwölf Töne, die nur ein Virtuose spielen kann, wurden auch im KZ von Janowska gespielt, während die Menschen verstümmelt und erschossen wurden. Ähnlichkeit stellt Jarosch auch fest, als er einen Tanz der Derwische erlebt. Die Tonfolge ist dieselbe und sie ist aus alten Quellen codiert überliefert. Was das alls mit der Vergangenheit zu tun hat, zeigt sich im Laufe der Geschichte.

Die Verehrung, die Wynnytschuk für Borges empfindet, ist unübersehbar. So trifft der Leser u. a. auf eine wild gewordene Bibliothek voller Sackgassen, lebendiger Bücher, Schatzsuche (in bibliophilen Sinne) und Geheimnisse, nebenbei auch auf Buchregalschluchten, in denen schon Menschen verloren gingen.
Die Erzählkraft des Autors, diese farbigen, menschlichen, oft humorigen, tragischen, mystischen und philosphisch tiefsinnigen Geschichten sind einfach überwältigend. Die Leichtigkeit des Erzählens, obwohl der Stoff sicherlich nicht einfach ist, erzeugt eine Spannung, die kaum erlaubt, das Buch aus der Hand legen zu wollen.

Da tauchen so wunderschöne Figuren auf, wie die Mutter von Orest, die skurrile und einfallsreiche Epitaphe verfasst, während die Großmutter von Joschi wiederum als Klageweib arbeitet und gleichzeitig noch als leicht flunkerndes Medium. Da ist der jüdische Lehrer, der Joschi mit seinem Unterrichtsstoff quält, dass die Meute an Freunden ihm einen bösen Streich spielt, der Jahre später noch in den Köpfen Bedauern hervorruft, als der Lehrer von den Deutschen gezwungen wird, verweste Leichen aus den Häusern zu tragen und mit einer Zahnbürste Fäkalien von der Straße zu kratzen. Da ist die hundertjährige Bibliothekarin, die sich für ihren uralten Verlobten aufhebt und darum nicht sterben kann, während sie eine unendliche Bibliothek verwaltet, in deren Gänge auch ihr Verlobter verschwand, der dann auftaucht und sich auf der Flucht vor ihr befindet ...
All das sind so wenige Auszüge aus dem großen und kuriosen Ganzen, und daneben dann auch noch all die Einfälle ..., Bücher, in denen die Worte ungeordnet keinen Sinn ergeben, bis man das eine wesentliche Wort erfasst, Bücher, in denen alleine ein Wort steht, das alles spiegelt, ein Buch, das in seinen leeren Seiten ansteckend auf die nächststehenden wirkt, Bücher, in denen man mit dem Lesen immer dünner wird und zu verschwinden droht, sollte man es nicht zum Ende schaffen, an dem sich alles wieder normalisiert (unverkennbar hier ein starker Borges-Bezug, der übrigens in einigen biografischen Details auch erwähnt wird, ähnlich wie andere, so kreuzt z. B. Andrej Kurkow auf (Romane u. a. „Picknick im Eis“ mit einem so herzzerreißend schönen, melancholischen Pinguin als eine der Hauptfiguren, für die alleine das Lesen gelohnt hat ...), usw.

Durch solche Schriftsteller werde ich wieder daran erinnert, dass (neben allem Literatur-Gewurstel) Bücher etwas erzählen sollen, einen Leser bewegen, eine Welt erschaffen können, die über das Handwerk hinaus die Literatur neu bereichern. Dieses gehört eindeutig dazu. Eines, das man aus wahrer Zuneigung noch einmal lesen möchte. Selten genug.




(Alle Zitate aus Jurij Wynnytschuk „Im Schatten der Mohnblüte“, Haymon Verlag)




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 17.04.2015 21:32 | nach oben springen

#2

RE: Jurij Wynnytschuk

in Die schöne Welt der Bücher 20.04.2015 15:07
von Zypresserich (gelöscht)
avatar

Zitat von Taxine im Beitrag #1
... (neben allem Literatur-Gewurstel) ...


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#3

RE: Jurij Wynnytschuk

in Die schöne Welt der Bücher 26.03.2021 14:38
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Zitat von Taxine im Beitrag #1
Jurij Wynnytschuk
"Im Schatten der Mohnblüte"


(S. 127)
„Die Träume schälen verborgene Erinnerungen aus uns heraus, aber wir erinnern uns zu selten an sie. Würden wir sie analysieren, uns in sie vertiefen, diese wundersamen Gässchen, und Menschen aus den Träumen wirklich suchen ... Doch man braucht Kraft – und einen Impuls dazu. Menschen aus Ihrem früheren Leben können ganz in ihrer Nähe sein, denn frühere Freunschaften ziehen einander an genauso wie frühere Lieben. Auf einem anderen Blatt steht natürlich, dass Sie davon keine Ahnung haben.“




Endlich ist mir einmal wieder ein Buch in die Hände gefallen, das es wert ist, es zu rezensieren. Der Autor Jurij Wynnytschuk, geboren in Ivano-Frankwsk in der Ukraine, ist einer der bekanntesten Schriftsteller seines Landes, wenn auch hier zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Er wurde 1952 geboren und konnte, aufgrund der bekannt politischen Verhältnisse dort, seine Schriften nicht unter eigenem Namen veröffentlichen. Nun erscheinen die ersten Werke und hoffentlich nicht die letzten.

(...)



Danke für diese einfach großartige, sehr ausführliche und auch inhaltsschwere Rezension, Taxinchen.

Also dann frei nach Lichtenberg, wer zwei Hosen hat, der verkaufe eine und kaufe sich dafür dieses Buch.
(Ich behalte meine Hosen und kaufe es trotzdem.)

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