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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 02.01.2022 16:56
von Salin • 511 Beiträge

Der Epidemie- bzw. Pandemieroman gilt nicht als eigene Gattung. Werke jener Art werden jeweils dem Gesellschaftsroman, Science-Fiction, Horror oder anderem zugeordnet. Dennoch der Versuch einer groben Übersicht mit altbekannten oder mir jüngst aufgefallenen Beispielen zum Thema.
Einige, wie Boccaccios Novellensammlung "Decamerone", Defoes "Pest zu London", Camus "Pest" und Saramagos "Stadt der Blinden", wurden hier von anderen bereits besprochen oder erwähnt.

Pestprosa:
"Decamerone" (1348-53) von Boccaccio
"Die Pest zu London" (1722) von Daniel Defoe
"Pest" (1938 beendet; mit Antisemitismus-Thematik) von Stefan Pollatschek
"The Masque of the Red Death" (1842) von Edgar Allen Poe
"Die Pest" (1947) von Albert Camus
"Die Pest von Arras" (1971) von Andrzej Sczypiorski
"Die siebte Geißel" (dt. 2000) von Ann Benson
"Die Schwester der Zuckermacherin" (2003; basierend auf Samuel Pepys' geheimen Tagebuch) von Mary Hooper
"Die Pestheilerin" (2008) von Kari Köster-Lösche
"The Last Hours" (2017) und "The Turn of Midnight" (2018) von Minette Walters
"Hamnet" (2020) von Maggie O'Farrell
"Die Nächte der Pest" (2021) von Orhan Pamuk

Pest als Teilmotiv, wozu es Romane en masse gibt, daher hier nur literaturhistorische Beispiele:
"Die Verlobten" (1827) von Alessandro Manzoni
"Die verlorene Handschrift" (1864) von Gustav Freytag
"Der Schüdderump" (1870) von Wilhelm Raabe
"Ein Fest auf Haderslevhuus" (1921) von Theordor Storm

Sonstige Epidemie- und Pandemieromane:
"Arthur Mervyn" (1799) von Charles Brockden Brown
"The Last Man" (1826) von Mary Shelley
"I am Legend" (1954) von Richard Matheson
"Die Liebe in den Zeiten der Cholera" (1985) von Gabriel García Márquez
"Die Stadt der Blinden" (1995) von José Saramago
"Schwarzes Blut" (1996, Gelbfieber) von John Edgar Wideman
"Oryx und Crake" (2003) von Margaret Atwood
"Die Stadt am Ende der Welt" (2006) von Thomas Mullen
"Die Virenjägerin" (2006) von Eva Marbach
"Der Schönheitssalon" (2009) von Mario Bellatin
"Fever" (2016; über einen Cononavirus, der 95% der Weltbevölkerung auslöscht) von Deon Meyer
"New York Ghost" (2018) von Ling Ma
"The Pull of the Stars" (2020) von Emma Donoghue
"Coronavirus Killer" (2020; "in zwei Wochen geschrieben") von Michael Koglin
"In Zeiten der Ansteckung" (2020) von Paolo Giordano
"Tödliche Quarantäne. Das Wüten des Corona-Virus" (2020) von Alessandro Nonno
"Patient Null" (2020) von Daniel Kalla
"Die andere Hälfte der Welt" (2021) von Christina Sweeney-Baird
Auch hier dürfte die tatsächliche Anzahl um ein Vielfaches größer sein, selbst wenn Romane, in denen eine Epidemie nur einen Teilaspekt darstellt – wie Typhus in Christoph Geisers "Grünsee" von 1878 – ausgeklammert werden.

Erwähnenswertes mit verwandtem Thema:
"The Eyes of Darkness" (1981) von Dean Koontz. Hier geht es um Viren als Biowaffe, die anfangs Gorki-400 und ab 1989 Wuhan-400 genannt wurden.

Zu den jüngeren literarisch ambitionierten gehört Mario Bellatin. Was ich über seine als experimentell geltenden Werke fand, konnte mich allerdings bislang nicht überzeugen.

zuletzt bearbeitet 02.01.2022 16:58 | nach oben springen

#2

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 03.01.2022 12:24
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Herzlichen Dank für die großartige Zusammenstellung solcher Werke. Dass Pamuk sich mit dem Thema beschäftigt und bereits einen neuen Roman herausgebracht hat, wusste ich gar nicht. Dem möchte ich noch Jewjenij Vodolazkins "Laurus" hinzufügen, bei dem die Pest dazu dient, die Sühne des Protagonisten zu veranschaulichen, der danach zum Narr in Christus wird.

Den Roman von Brockden Brown hatte ich 2020 mit Begeisterung gelesen, ohne zu ahnen, dass diese Thematik darin vorkam. Das Buch stand lediglich lange in meinem Regal und ich hatte es auf einmal im Auge. Sein Werk "Edgar Huntley oder der Nachtwandler" hat mir zwar auch gefallen, aber es kam nicht an "Arthur Mervyn" heran, das besonders aufgrund der Pest- oder Gelbfieber-Thematik an Spannung gewann. Ich schrieb dazu nach der Lektüre:

>>Interessant sind in "Arthur Mervyn" besonders die drastischen Schilderungen des kursierenden Gelbfiebers (von Brown als Pest bezeichnet) und das Verhalten der Menschen in der Begegnung mit der Gefahr, die, laut Nachwort, auf authentischen Begebenheiten beruhen, da auch der Autor selbst sich angesteckt hatte, einige Freunde und sogar seinen Verleger verlor und überhaupt als Journalist tätig und mit der Materie vertraut war, bis ihn mit nur 39 Jahren dann selbst die Schwindsucht dahinraffte.
Dazu gehören die Beschreibungen der Abtransporte im Sarg von Erkrankten, die noch gar nicht tot waren, oder die menschenunwürdigen Verhältnisse in den Krankenhäusern, in denen die Kranken sich selbst überlassen wurden und oftmals inmitten von Leichen ihr eigenes Leben aushauchten, während Pfleger sich betranken und keinen Schritt in die strohbedeckten Krankensäle wagten, um sich nicht anzustecken. Der Erkrankte würgte einen schwarzen Auswurf hervor, in dem dann der Nächste liegen musste. Wer in der Stadt Hilfe suchte, stand vor verriegelten Türen. Brown gelingt ein äußerst lebendiges Bild.
Das Faszinierende ist dabei auch die Spannung eines Schauerromans, während der Schriftsteller sich an reale Dinge hält und das Mysteriöse oder Fantastische ausklammert. Die Spannung wird durch die Lenkung der Ereignisse erzielt, die ständig Zweifel und Hinterfragung des Erzählten hervorruft. Dazu findet man in seinen Büchern neben der Erzählkunst und Story immer auch aktuelles Zeitgeschehen.
Als Leser fühlt man sich wahrlich ins 18. Jahrhundert zurückversetzt und erlebt die Figuren als lebendige Rückblicke auf eine Zeit der Veränderung, beginnenden Emanzipierung und als Zeitgenosse der französischen Revolution. Gesellschaftliche Themen und Fragen werden unterschwellig eingebaut, ohne dass Brown Stellung bezieht. Ein wesentliches Merkmal seines Schreibstils ist das Spiel mit der Ungewissheit und dem Zufall. Der Leser weiß nie genau, welchen Charakter er wirklich vor sich hat. Brown war dann auch Inspirationsquelle für viele andere Schriftsteller, die heute bekannter sind.<<

Romane, aber auch Sachbücher zum Thema Pest sind für mich darum interessant, um zu sehen, wie sich die Menschen unter diesen Bedingungen verhalten haben und natürlich, um einen Vergleich zur heutigen Pandemie zu ziehen. Gute Sachbücher sind z. B. "Der Schwarze Tod in Europa" und "Die Pest - Geschichte des Schwarzen Todes" von Klaus Bergdolt, "Die Pest" von Paul Slack, "Kulturgeschichte der Neuzeit: Die Krisis der Europäischen Seele - von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg" von Egon Friedell oder "Die leidige Seuche" von Otto Ulbricht. Letzteres befasst sich u. a. mit Fragen, ob die Pest sozialdisziplinierende Komponenten beinhaltete, welche Medien die Obrigkeit einsetzte, um Herr der Lage zu bleiben, warum Totengräber diskriminiert und später vor Gericht gestellt wurden oder wie der Verwaltungsapparat allgemein während einer Pestepidemie funktionierte.

Kritische Bücher zur heutigen Pandemie, die Fakten und Quellen vorweisen können, sind u. a.:
- Paul Schreyer "Chronik einer angekündigten Krise"
- Sucharit Bhakdi und Karina Reiss "Corona Fehlalarm" und "Corona Unmasked"
- Michael Morris "Lockdown - das Virus war nicht die Ursache" und "Lockdown 2 - Corona war nur der Anfang"
- Walter Van Rossum "Meine Pandemie mit Professor Drosten"
- Wolfgang Wodarg "Falsche Pandemien"
- Iain Davis "Pseudopandemic"




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#3

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 03.01.2022 15:00
von Salin • 511 Beiträge

Die Erwähnung von Browns "Arthur Mervyn" hatte ich schon vergessen. Ebenso wird auch anderes dem aktiven Gedächtnis entschwunden sein und daher dieser Thread als kooperative Gedächtnisstürze.

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#4

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 03.01.2022 15:16
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Gerade in meinen Erinnerungen gewühlt und noch ein Buch gefunden, das hier her passt und das ich direkt nach Brockden Browns Roman gelesen habe, und zwar Mary Shelleys „Verney, der letzte Mensch“ Auch bei Shelley eine sehr eingehende Beschreibung der Pest und der stille Vorwurf gegen Menschen, die ihre Angst über ihre Nächstenliebe stellen. Shelley war eine begeisterte Leserin von Brown, wie auch ihr Vater, Keats oder später Edgar Allen Poe.




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#5

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 03.01.2022 15:47
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Neben Boccaccio war übrigens auch Petrarca von der Pest betroffen und verlor durch die Seuche seinen Sohn und seine große Liebe Laura. Er widmete ihr etliche Gedichte, die durch das Ereignis inspiriert waren. Der Verlust zeichnete ihn und veränderte sein Leben. Er nahm eine pessimistische Haltung an. Petrarca war ein Gegner der damaligen Schulmedizin und Astrologie und verurteilte das „Wissen“ der Ärzte, wozu auch seine Pesterfahrung beigetragen hat.

Solche Dinge findet man im Sachbuch von Klaus Bergdolt „Der Schwarze Tod in Europa“, das ich 2020 las. Er bietet einen sehr ausführlichen Bericht, wie die Pest sich in Europa verbreitet hat (sie kam von Asien herüber) und wie die Menschen damit umzugehen versuchten. Sie war im Mittelalter wohl der Ausgangspunkt für spätere Seuchen und sicherlich auch eine der verheerendsten. Man erfährt, dass es eine Beulenpest und eine Lungenpest gab, wobei erste durch Flöhe, letztere durch Tröpfcheninfektion übertragen wurde und weitaus tödlicher war. Auch konnte die eine in die andere übergehen, wobei die Beulenpest die schwarzen Beulen und Ekzeme und eitergefüllten Abszesse, meistens am Hals und unter den Armen, beinhaltete, während Betroffene manchmal überlebten, wenn diese aufbrachen.

Die Schwarze Pest wütete besonders in den Jahren 1348 bis 1351. Interessant ist der Umgang mit dieser Gefahr, wobei Romane wie der von Brockden-Brown in der Authentizität sehr nahe an das einstige Geschehen herankamen, auch wenn es sich um eine andere Pestzeit handelte, so z. B. die Totenträger, die auch im Mittelalter lebendige Menschen mitnahmen. Bei Defoe in London wird das ebenfalls erwähnt, jedoch nur am Rande. Bei ihm steht mehr das Einsperren gesunder Menschen mit Kranken im Vordergrund.

Die Schwarze Pest offenbarte durch ihre Neuartigkeit die Machtlosigkeit und Unbeholfenheit der Medizin. Annahmen und Theorien gab es viele. Darunter war die Strafe Gottes ebenso aktuell wie Übertragungen durch Hitze, stehendes Gewässer, vergammeltes Fleisch, der Gestank und die Gase von Leichen, Vergiftungsanschläge und anders.
Auch die Astrologie war zu dieser Zeit noch Teil der Medizin, und viele beriefen sich auf alte Heilmethoden, was damals einen Rückschritt bedeutete, während in der modernen Zeit genau diese Hinwendung zurück, mit Bezug auf den Makro- und Mikrokosmos (der menschliche Körper spiegelt den Kosmos), eine Weiterentwicklung bedeutet und neue Alternativmethoden möglich macht, die teilweise erfolgreich sind (TCM, Homöopathie, usw.) und die Schulmedizin positiv ergänzen, zumal sich viele auf die alten Griechen wie Hippokrates oder den Arzt Gallen beriefen, der übrigens seinerseits bei einer Epidemie keine Hilfe leistete, sondern floh.

Die Flucht war in Pestzeiten wesentlich sicherer als Gifttinkturen und Seelenheilung. Und die Menschen versuchten sich entsprechend zu schützen, überließen ihre Verwandten sich selbst, während auch Ärzte und Priester ihr Amt verweigerten. Viele Städte und Gemeinden ergriffen typische Maßnahmen, so Quarantäneregeln, die Verweigerung, Fremde einzulassen und ähnliches. Preise für Lebensmittel und benötigte Waren stiegen ins Unermessliche, und verschont wurde keiner. Sterbeglocken und Klageweibergeschrei wurde verboten, um keine Panik auszulösen, während Angehörige ihre eigenen Kranken dem Hungertod auslieferten und in ihren Häusern einschlossen. Der Papst wiederum erlaubte die Absolutionserteilung und Beichte von nicht „Geweihten“, um die eigenen Priester zu schützen. Und so mancher Monarch nutzte die Pest, damit beschlossene Steuererhöhungen nicht zurückgenommen werden mussten, wobei die Gefahr als Vorwand galt.

Bergdolt zitiert viele Quellen, Chroniken und Berichte, was das Buch interessanter macht. Dazu gehören auch Zeugen des Unglücks wie Petrarca oder Boccaccio, der, wie schon erwähnt wurde, in seinem Dekameron davon berichtet. Typisch für diese Zeit waren auch Schuldzuweisungen und Geißelungen, Geldbußen und Wirtschaftskrisen. Das Buch erzählt mit viel Wissen von der Zeit des Schwarzen Todes, der auch in die Kunst gefunden hat, z. B. als Totentanz oder als Darstellung des heiligen Sebastians.




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#6

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 03.01.2022 17:22
von Salin • 511 Beiträge

"The Last Man" (1826) von Mary Shelley hatte ich oben versehentlich unter "Sonstige Epidemie- und Pandemieromane" einsortiert.
Bei jenen alten Geschichten fällt auf, dass wir oft lesen, die Pest habe ein Drittel oder die Hälfte einer Bevölkerung ausgelöscht, was aber dann bei näherer Betrachtung zu Teilen nicht am (für sich genommen schon hochgefährlichen) Bakterium, sondern auch am von dir zitierten Hunger und anderen Folgen der damaligen Maßnahmen lag.

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#7

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 03.01.2022 18:55
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Das Thema Krankheit, Tod und Zerstörung der Menschheit ist altbewährt, in neueren Werken wohl auch durch die Gefahr von Viren, Biowaffen, Geheimdienst, Genetik und den Fortschritt im wissenschaftlichen Bereich stärker geprägt. Die Angst, dass etwas im Labor gezüchtet und auf die Menschheit losgelassen wird, ist groß. Dabei gibt es schon immer etliche Bakterien, die, wenn sie in bestimmten Bereichen auftreten, eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit darstellen, weitaus gefährlicher als Coronaviren und ähnliche.

Die Pest ist das Urbild des Horrors und der Angst. Auch zeigt sie sehr deutlich die Machtlosigkeit des Menschen in solchen Situationen, vor denen sich jeder am meisten fürchtet, wenn Äcker an Toten entstehen und das Überleben vom Zufall abhängt, während Medizin und Politik nichts tun können. Hauptsächlich betroffen waren in Pestzeiten vor allen Dingen die Armen, Menschen, die nichts hatten, nicht flüchten oder Kontakte vermeiden konnten, hungerten oder jene Träger- oder Totengräberjobs übernahmen. Wenn man sich das ganze Elend einer solchen durch Pest gezeichneten Stadt vorstellt, mit der Verkommenheit, dem Schmutz, der Übertragung durch Unreinheit und Wassernot, von Toten geklauter und weiter veräußerter Kleidung, dann verwundern hohe Todeszahlen durchaus nicht. Reiche Menschen konnten ihre Flucht dagegen in der Regel ganz gut organisieren und sind höchstens im Roman dann vom Tod bedroht, weil es jeden treffen kann und das Schicksal nicht zwischen Armut und Reichtum unterscheidet, ein beliebtes Thema der Moral.

Defoe wiederum erwähnt etliche Gerüchte und Falschmeldungen, die über die Pest von London kursierten und die am Ende nicht der Wahrheit entsprachen. Die Angst hat das Geschehen deutlich gezeichnet und mit vielen Schreckensszenarien gewürzt, die so nicht stattgefunden haben. Andererseits war der „zivile Ungehorsam“ immer ähnlich oder die strikte Reglementierung durch Regierungen, die mit einer Situation überfordert waren oder auch durch ihre Anordnungen das Leben gesunder Menschen gefährdeten. Eine Frage solcher Zeiten war auch immer das moralische Verhalten der Menschen untereinander, obwohl eine Einflussnahme auf die Zustände nur schwer möglich war. Und auch heute, würde so etwas Extremes drohen, wären wir wahrscheinlich relativ machtlos und müssten hohe Todeszahlen hinnehmen. Wenn dagegen extrem gegen übliche Vorgehensweisen agiert wird, wundern sich entsprechend gerade die Virologen und Wissenschaftler, siehe Maskenpflicht, Lockdown oder Impfpflicht.

Mir persönlich sind Endzeitromane dann willkommen, wenn poetisch etwas geboten ist, wie z. B. in „Die Straße“ von McCarthy, wo alles mehr oder weniger durchschimmert als explizit ins Wort gefasst zu sein. Heutige Bücher über die aktuelle Pandemie schrecken mich wohl eher ab, da, wie bei allen modernen Geschehen, das Fiktive die Wirklichkeit verzerrt, der Roman der Propaganda dient oder lediglich auf Action und Zerstörung setzt. Die Literatur richtet sich stark auf aktuelle politische Themen, so waren in den letzten Jahren Flüchtlings- und Emigrantenromane populär, nun folgt das Pandemie-Geschehen. Einerseits benötigt die Aktualität eine Auseinandersetzung mit diesen Dingen, andererseits traue ich der Verlagsveröffentlichung keinen Meter, und schon gar nicht Romanen, die von einem Killervirus reden. Ähnliches zeichnet sich auch in Drehbüchern, Filmen und Serien ab, diese Ausrichtung auf Virus, Erreger, Zerstörung, Pandemie, Maskennotwendigkeit und Gesellschaftszerstörung. Das Thema ist also schon länger aktuell, ähnlich wie Dean Koontz' eigenartige Umbenennung.

Auf ältere Schriften greife ich dagegen gerne zurück, auch wenn es sich um ein Teilmotiv handelt oder Pest, Virus und Epidemie im Grunde für etwas anderes stehen, als Wegweiser philosophischer Auseinandersetzungen mit Sein und Mensch. Rückblicke dieser Art sind immer sehr lehrreich. Auch Science-Fiction kann solche Dinge bieten, wobei Autoren sich oft an Katastrophen, Umweltzerstörung oder Krankheit bedienen, siehe Autoren wie Philip K. Dick, Dimitri Glukhovsky, Frank Schätzling oder Liu Cixin. Ich mag auch Science-Fiction-Bücher, die gesellschaftliche Zustände hinterfragen, indem die Zukunftswelt nur als Scheinelement verwendet wird.




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#8

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 03.01.2022 20:19
von Salin • 511 Beiträge

Da du Liu Cixin erwähntest, fällt mir zu Ling Ma noch ein, dass "New York Ghost" (2018; zunächst unter dem Titel "Severance" veröffentlicht) ein satirischer Science-Fiction-Roman über eine von China ausgehende Pandemie ist.

Ergänzt sei auch "Survivor: Grahams Prüfung" (2016; mit Nachfolgeromanen) von A. R. Shaw.
In "Todesbrut" (2010) von Klaus Peter-Wolf wird auf beide Seiten der Bedrohung geschaut.
Im "Tagebuch der Apokalypse 1-4" (2010-17) von J. L. Bourne geht es Richtung Horror.

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#9

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 03.01.2022 23:35
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ja, der Ausgangspunkt China ist häufig vertreten, sogar in Horrorromanen. Wohl auch, weil es Ende des 19. Jahrhunderts in China zu dramatisch verlaufenden Seuchen mit extrem rascher Ausbreitung kam, die Millionen Tote forderten und deutliche Parallelen zum Mittelalter aufwiesen.

In Sachen Schriften und Werke lässt sich natürlich auch noch viel weiter zurückgehen. So waren schon die alten Griechen in der Antike von Epidemien und Seuchen betroffen. Der griechische Historiker Thukydides (454 v. Chr.), einer der wichtigsten Überlieferer des Peloponnesischen Krieges, verfasste eine der ältesten und bewegensten Beschreibungen der Pest und der mit ihr verbundenen schwierigen Alltagsbedingungen in Athen. Erst viel später fanden Forscher heraus, dass es sich in den Aufzeichnungen nicht um den Pesterreger "Yersinia pestis"* handelte, sondern um eine andere Seuche.

Die früh geprägte Bezeichnung "pestis" (griech. loitnós, lat. magna mortalitas) und auch die seit der frühen Neuzeit im Deutschen mit Pest, im Englischen mit plague, im Französischen und Italienischen mit peste bezeichneten Varianten stehen nicht immer für die eigentliche Pest, sondern für ganz verschiedene Seuchen. In der Bibel ist z. B. von der Pest der Philister (1 Samuel 5–6) die Rede.

Lukrez schrieb in seinem Lehrgedicht "De natura rerum" über den Seuchenalltag in Athen mit Bezug auf Thukydides: "Aneinandergepfercht lag da im Innern der Hütte Körper an Körper..."
Und Boccaccio wiederum nutzte für sein Werk ebenfalls dieselbe Quelle.



---
(* Verschwunden ist der echte Pesterreger übrigens durch Mutationen, die irgendwann ohne Schwierigkeiten antibiotisch behandelt werden konnten.)




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#10

RE: Epidemie- und Pandemieromane

in An der Literatur orientierte Gedanken 08.01.2022 00:12
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zitat von Salin
Zu den jüngeren literarisch ambitionierten gehört Mario Bellatin. Was ich über seine als experimentell geltenden Werke fand, konnte mich allerdings bislang nicht überzeugen.



Das kann ich nur unterschreiben. Ich habe mir seinen "Blinden Dichter" (ein eher kleines Buch mit 144 Seiten) angetan und habe es als reine Zeitverschwendung empfunden.
Noch nie habe ich einen Roman gelesen, der so unnötig ist, obwohl mir der Schreibstil gefällt. Es geht um die Gefahr durch Sekten und den Trug der Heiligkeit des Sektenführers (jener blinde Dichter), die Auflösung der Anhänger, als das menschlich wahre Gesicht durchschimmert, und die Machtübernahme der Nachfolger mit eigenen fragwürdigen Gelüsten. Das alles ist aber so belanglos erzählt und ohne jedweden Tiefgang, dass man nur staunen kann, was an Witz und Scharfsinn dem mexikanischen Autor unterstellt wird. Die Ideen sind äußerst gewöhnlich und sicherlich kein Geniestreich, trotz des stilistisch experimentellen Versuchs alltagsorientiert und mit Wahn und Mord aufgepeppt. Einzig gut war der Anfang, der dann mit dem Werk kaum etwas zu tun hat. Erzählt wird von Internierten, die ansteckend sind und mit ihrem infizierten Blut dealen, damit andere ebenfalls in der Anstalt landen, um sich ihren Verpflichtungen im Alltag zu entziehen. Dann wechselt die Geschichte abrupt zum blinden Dichter und Sektenführer und verliert deutlich an Spannung.




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