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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Stefano D‘Arrigo

in Die schöne Welt der Bücher 24.01.2022 15:00
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ein Werk das lange als unübersetzbar galt, ist" "Horocynus Orca" von dem italienischen Schriftsteller Stefano D'Arrigo. Es wirkt wie ein Sog und führt mitten hinein in das Kriegsgeschehen nahe Siziliens, Ende des Zweiten Weltkriegs, dabei aber beschrieben wie ein poetischer Gesang. D'Arrigo arbeitete Jahre an der Vollendung dieses Werkes (entdeckt und gefördert durch Vittorini), dessen Schauplatz die Gegend zwischen Skylla und Charybdis ist, wo Odysseus den Gesang der Sirenen vernahm, so dass sich die realen Szenen und die homerische Welt in beeindruckender Form vermengen.

Die Veröffentlichung 1975, aber auch 2015 dann in der deutschen Übersetzung von Moshe Kahn, rief Staunen und Bewunderung über ein bisher unentdecktes Meisterwerk hervor, das mit Proust, Joyce und anderen in eine Reihe gestellt wird und als eines der wenigen Werke den Vergleich tatsächlich standhält, wenn nicht sogar übertrifft. D'Arrigo bedient sich einer so eigenen Sprache, die gleichzeitig vertraut an die Odyssee, die Bhagavad Gita und ähnliche Werke erinnert und zu keinem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit des Lesers brachliegen lässt, dass ein Vergleich kaum möglich ist oder gar eine knappe Zusammenfassung des Inhalts. Die zahlreichen Begegnungen, mit denen sich der Protagonist Ndrja Cambrìa unterwegs unterhält, sind mit viel Fantasie und Ideenreichtum beschrieben, dass man nur staunen kann, während ihre Namen nachklingen. Und die emotional geistigen Schäden, die all die Menschen durch den Krieg erschüttert haben, kommen nicht aufdringlich brutal, sondern metaphorisch oder über Umwege des Erzählten zur Geltung.

Die Sätze wachsen zudem noch in sich selbst, wie ein bodenloser Abgrund, der keinen Halt bietet. Immerhin warten hier mehr als 1.500 Seiten. Aber die Faszination dieser entstehenden bunten und lebendigen Welt, die inmitten moderner Sprache gleichzeitig uralt und malerisch schön wirkt, bleibt auch nach etlichen Seiten weiter bestehen. Ich bin erst am Anfang (gute 100 Seiten weit) und werde meine Eindrücke in Etappen schildern. Eins weiß ich jedoch schon jetzt, dass ich gefesselt bin und ein Werk gefunden habe, nach dem ich seit langer Zeit gesucht habe. Ich bin gespannt, ob meine Erwartungen erfüllt werden.




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#2

RE: Stefano D‘Arrigo

in Die schöne Welt der Bücher 27.01.2022 01:12
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

"Denn das Meer scheint wirklich ganz an jedem seiner Punkte zu sein, wenn man es so betrachtet, wie der Alte es in diesem Augenblick betrachtete, mit dem klaren, tiefen Auge, geschwollen von allen Tränen, die ein Auge zu füllen vermögen, mit dem Auge, das sie zurückhält und niemals zu vergießen vermag, geschwollen von allen Tränen, deren das menschliche Herz fähig ist, wenn es wirklich glücklich und wenn es wirklich unglücklich ist, wenn man nicht mehr genau weiß, was Glück und was Unglück ist, was das eine und was das andere, ob man glauben kann, sie durcheinandergewirbelt zu erfahren, zu empfinden und zu sehen, unentzifferbar in einem Aug, das auf einen Punkt auf dem Meer bei Sonnenuntergang starrt und vor Tränen anschwillt, anschwillt vom ganzen Meer der Tränen, auf das er blickt."


Für dieses Werk muss man sich wahrlich Zeit nehmen, um es in all seinen Klängen ganz zu erfassen. Auch wechselt das Erzählte in erstaunlicher Weise vom Festland ins Meer, vom Menschen zum Fisch und Meeressäugetier, das bei D'Arrigo teilweise sehr humane Züge annimmt, bis in die erotische Ebene hinein. Er zelebriert das Leben der Fischer ebenso wie das der Gewässer und darin lebenden Tierwelt, die aus dem realen Wesen immer auch das Fabelwesen in sich aufscheinen lässt, sei es als Metapher, Fantasie oder Deutung.

Aber zurück zum Geschehen, um es etwas zusammenzufassen. Ich denke, ich komme nicht umhin, ab und an auch zu reflektieren oder mir die Dinge zu erklären, denn D'Arrigo bedient sich nicht nur einer eigenen Sprache, sondern auch ganz eigener Bilder, die eine Sehnsucht nach "Moby Dick" wecken, dabei jedoch viel weiter gehen, fast in die intimen Gehirnwindungen des Schriftstellers hinein, der weniger philosophiert, wie es Melville tat, sondern sich eher dem eigenen Rausch des Erzählens hingibt, das dadurch selbst wie der Ozean in seinen Tiefen schwappt.

Bei der Rückkehr aus dem Krieg müssen Ndrja Cambrìa und einige Soldaten, die ihn begleiten, feststellen, dass die Überfahrt nach Sizilien nicht mehr möglich ist, da die Deutschen und Engländer die dortigen Fähren versenkt haben. Die Soldaten setzen auf ihn als Matrosen, als könne er wie Moses das Meer teilen. Für Ndrja gilt es nun, ein Boot zu finden, das die Heimkehr gestattet und damit die Verarbeitung des Krieges.

Auf dem Weg zur Küste finden etliche Begegnungen statt, mit Zigeunerinnen, Witwen, Verrückt-Gewordenen, Vagabunden, echten und vielleicht geträumten Menschen in der Jetzt-Zeit und Vergangenheit. Die Gespräche und Erinnerungen dienen dazu, um herauszufinden, wo jenes letzte Boot sein könnte, das nicht in Feindeshand ist.
Da sind Mutter und Tochter, die um ein verrückt gewordenen Sohn und Bruder trauern, ein Fischer, der das Boot gegen ein Pferd getauscht hat, um mit Aas zu handeln, und ein Herumstreuner, der erklärt, der Weg über das Meer führt über die Zigeunerinnen, die im Roman so genannten Feminotinnen, und der seine Kleidung aus allen möglichen Teilen verschiedener Uniformen zusammengestellt hat, um einigermaßen sicher zu sein.

Zitat von D'Arrigo
"Es war unangenehm, mit anzusehen, wie ein solches Bild von Mann, so statuengleich, so hautschwarz, so gelockt an Bart und Haar, so ein Grifone, so ein Ras und, mit einem Wort, so ein Soldat, bei Sonnenuntergang verdarb und verfaulte, wie er sich in den Sand einbuddelte und sich für die Nacht herrichtete wie für den Tod: mit der Nähe zum Wasser, der Uniform aus vielen Einzelteilen, wo jedes Heer das Seine finden konnte, mit dem Lanzenstab, der Erkennungsmarke, dem Überrest des noch irgendwie rohen Moschams, was, wenn man nur einen Augenblick über seine Herkunft nachdachte, die tödliche Herkunft der Fere Arm in Arm mit dem Hunger, in der Tat eher so war, wie wenn man als Toter denn als Lebendiger aß."



Die Fähre als Leitmotiv, die den Weg nach Hause durch den Untergang unmöglich macht, wechselt mit dem spirituellen Bild der Fere, einem zunächst gigantischen und hässlich wirkenden Urfisch, den der Mensch so gut wie nie besiegen, von dessen Fleisch er sich nur als Kadaver nähren kann, wenn es an die Strände gespült wird, denn das scheinbare Meeresungeheuer lebt nach eigenen Regeln und Gesetzen, die sogar bis in den Tod reichen. Die alten Tiere stürzen sich frühzeitig in die Vulkanlava auf Stromboli, wo sie durch den heißen Dampf den unangenehmen Übergang des Verfalls umgehen und direkt zu Knochengerüsten und erhabenen Ruinen werden, die sich in der großen Anzahl in den geheimen Kratern des Vulkans spiralförmig in die Höhe auftürmen, um im Ozean keine Spur zu hinterlassen, als würden sie nicht existieren.

Doch was ist echt und was nicht? Die Fere wandelt sich mit der Zeit und kehrt sich aus dem Abstrakten in die Geschmeidigkeit eines Delfins, der jedem anders erscheint. Noch ist die Fere das Unbesiegbare und ewig Wandelnde, für den einen das Böse und Sinnbild der Grausamkeit, für den anderen das Gute und das Glück, entspringt gleichzeitig dem Mythos der Fischer und ihrem Traum, sie zu fangen und nutzbar zu machen (mit vergleichbarem Hintergrund wie bei Melville oder Hemingway). Oftmals zeigt sie sogar ein menschenähnliches Gesicht, jedoch für die Sizilianer zur Grimasse oder bösartigen Fratze verkehrt, oder verwandelt sich in Sirenen, als wäre die Fere die Schattenseite des Delfins oder Daseins.

Die Fere kann auch zum feindlichen Schiff werden, das die Ufer zerbombt oder die Fischernetze zerfetzt, um den dort Lebenden die Nahrungsgrundlage zu nehmen, wie es der Krieg immer tut. Sie ist entsprechend mehr als Fisch, Säugetier oder reine Fantasie, eher eine Metapher für Leid und Tod und muss herhalten für alles, was den Fischern an Unglück zustößt.
Das alles deutet sich mir zumindest in dem kryptisch Erzählten D'Arrigos an, der seinem Roman vor der Ausarbeitung und in den ersten Fassungen den Titel "Geschichten um die Fere" gab, während der jetzige deutlich schöner ist und den Killerwal als Vorbild nimmt.

Zitat von D'Arrigo
"Einst, als er Delfin war, wir ihn aber Fere nannten, wars nur natürlich, dass wir alles, was an Schlimmstem geschah, ihm zuschrieben, wir gaben dem die Schuld, der den Ruf der Fere besaß."



Und wie ein stürmischer Ozean glättet sich das Erzählte allmählich, pendelt sich ein auf ein vertrautes Bild. Die Wahrnehmung der Fere wird auch für Ndrjas Vater ein prägendes Erlebnis. Während die Dorfgemeinschaft der Fischer die grausame Seite der Tiere kennt und fürchtet, erlebt er als Junge die Freundschaft zu den Tieren und ihren gewaltsamen Tod. Und weil das Ganze so blutig verlief und er zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert ist, hat die Fere für ihn eine andere Bedeutung als für den Rest der Fischer, einschließlich seiner Eltern, die sie als Bedrohung betrachten und ihn von seinem Mitleid heilen möchten.




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#3

RE: Stefano D‘Arrigo

in Die schöne Welt der Bücher 30.01.2022 12:21
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Was zunächst nur Gerücht war, bestätigt sich für Ndrja, als er alleine am Strand übernachtet. Die Feminotinnen besitzen tatsächlich Boote, allerdings keine seetauglichen, sondern selbst aus Wrackteilen und Segeltuch zusammengebaute. Jedoch agieren die Frauen heimlich, und eine Mitfahrgelegenheit erscheint eher fraglich. Die Frauen sind Salzschmugglerinnen, gelten als zäh und wissen sich zu helfen. Gefällt ihnen ein Mann, verbeißen sie sich in ihn, besonders in die Kriegsrückkehrer.

Zitat von D'Arrigo
"Die Feminotinnen waren so beschaffen, dass sie, auch wenn sie der Hölle entkamen, im Nu mit einem Stück Glut aus diesem Feuer in ihrer Hand wieder auftauchten, der einzigen Ware, die sie dort finden würden, um mit ihr die Herdstelle anzuzünden, damit man nur nicht sagen konnte, sie hätten die Reise völlig umsonst gemacht."



Ndrja verwirft den Gedanken, die Feminotinnen zu fragen, trifft dann aber auf eine Unscheinbare, die ihn auffordert, ihr zu helfen, ein richtiges Boot zu Wasser zu lassen, und die ihm dafür verspricht, ihn nach Sizilien zu bringen. Um die Feren zu besänftigen, benutzt sie eine kleine Glocke. Damit möchte sie sich auch gegen die Geister der Verstorbenen schützen, die der Krieg und das Meer verschlungen haben.

"Das Erbarmen ist wie die Schwangerschaft, wenn die Mutter eine Erschütterung erlebt und das, was sie erschütterte, sich herausbildet und im Gesicht des Neugeborenen abgelesen werden kann."

Die Überfahrt gelingt in Begleitung der in Ekstase gehaltenen Feren. Der Wegzoll ist das Stillen der fleischlichen Begierde, aber vielleicht auch die Zeugung eines Kindes, was Ndrja nicht richtig bewusst ist. Er hat die Geschichte der Frau erfahren, die sich Ciccina Circé nennt und kein Gesicht mehr hat, die ihren Mann zweimal verlor, einmal bei seiner Abreise nach Griechenland, wo er andere Frauen beglückte, zum anderen durch den Krieg, aus dem er nicht wiederkehrte. Die Angst der Feminotin, seinen zerfaserten Leib im Wasser zu entdecken, hält sie in ihrem Wahn gefangen, und bis zum Schluss wird nicht klar, an welcher Krankheit sie leidet, denn die Dunkelheit bewahrt sie vor der Offenlegung ihres Geheimnisses. Deutlich sichtbar werden jedoch die Anklänge zur Mythologie. Auch sie kennt das Mittel, die Sirenen in Schach zu halten und ist, wie für Odysseus, eine Wegweiserin.


(Quelle: John William Waterhouse "Circe bietet Odysseus den Becher",
Wikipedia: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Kirke#/m...to_Odysseus.jpg)


Dass Ndrja so völlig unversehrt aus dem Krieg zurückkehrt, ist eigenartig. Immer wieder ist ein Verweis darauf gegeben, dass er möglicherweise nicht mehr existiert, während alle anderen nur noch Haut und Knochen sind oder Arm und Bein verloren haben. Ndrja dagegen wirkt vital, jung und gesund, dass manchmal der Verdacht aufkommt, er wäre nur noch das Abbild seiner selbst, eine Geisterscheinung, die noch nicht verstanden hat, dass sie gefallen ist, und die sich so wahrnimmt, wie sie zu Friedenszeiten war. Alles, was er erlebt, wirkt wie ein Traum, eine illusorische Scheinwelt an Begegnungen und Schatten.
Eine Andeutung ist auch im Gespräch zwischen einer Mutter und ihrer Tochter gemacht, die nachsehen kommen, wer am Strand geflüstert hat, an der Stelle, wo Ndrja und die Feminotin unter Palmen liegen. Es sind nur Geister, gepeinigte Seelen, die hier herumirren, sagt die Mutter. Die Tochter ist das Mädchen Marosa, in das Ndrja verliebt ist. Die Überfahrt und die Ankunft in Charybdis erwecken eine Ahnung von Dantes Höllenwelt oder die Reise entlang des Hades.

Wie ein Licht in der Dunkelheit (das man für die Toten anzündet) erstrahlt das Fenster seines Familienhauses. Seine Mutter ist vor langer Zeit gestorben. Ndrja erblickt seinen Vater, der ihre Kleider aufbewahrt hat und nun eines davon auswählt, um mit ihr zu kommunizieren. Auch er kennt die Begegnung mit einer Gesichtslosen, die die Erinnerungen an sie gierig bewacht. Er verabscheut und beschimpft sie, als wäre sie sein Schuldgefühl. Am Ende ist sie jedoch der Todesengel oder das Verdrängte, die Verkörperung dessen, das sein Vater in seinem Kummer über den Verlust anbrüllen kann.
Im Laufe der Jahre ist es ihm zur Gewohnheit geworden, das Spiel zu spielen, die Nasenzerfressene, jene Nasodicane, zu beschimpfen und selbst die Rolle des Pulcinells zu übernehmen, eine in Süditalien verbreitete Maske des Narren oder des Kaspers, der, wie Goethe geschwärmt hat, mit Worten jongliert und so den täglichen Klatsch verbreitet. Ndrjas Vater dient die Maske, um den Tod seiner Frau wegzureden, ohne ihn akzeptieren zu müssen. Darum wartet er noch immer auf ihre Rückkehr und hat gelernt, sie für sich selbst wieder auferstehen zu lassen.

Zitat von D'Arrigo
"Und so strömte das Leben dahin wie das Meer, mit dem Meer, dem Meer des Lebens ohne Ufer, und der Tod, ein Tod, der Tod eines Menschen, einer Acitana, konnte diesem Meer des Lebens nichts anhaben: seine Macht endete am Ufer, doch das Meer des Lebens rann auch über die Erde, auch über die Erde mit seinen Ebben und Fluten, es löschte den Tod ein wenig aus, zumindest ließ es ihn unentzifferbar erscheinen."




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#4

RE: Stefano D‘Arrigo

in Die schöne Welt der Bücher 10.02.2022 00:00
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ein weiteres Indiz für die fragwürdige Existenz Ndrjas ist, dass der eigene Vater ihn zunächst nicht erkennt und er ihm etliche Beweise liefern muss, dass er es wirklich ist, bis hin zu den intimen Narben. Aber auch der Vater wirkt in seinem Dasein erschüttert und lebt in einer eigenen Wahnwelt. So ist nicht sicher, ob hier Traumhaftes oder Realistisches in der Begegnung liegt und wer von beiden überhaupt echt ist.

Der Vater berichtet von den Kriegserlebnissen, von toten Familien und beim Feiern erschossenen Soldaten, die durch die Sonne wie mumifiziert wirken. Mit all den Geschehnissen setzt sich in ihm der Gedanke fest, dass nicht die Bomben oder Schwarzhemden die Schuld am Leid tragen, sondern die Feren. Und so erfährt Ndrja, weshalb sein Vater, der stolze Fischer, sich dazu herabgelassen hat, wie die anderen das Aas der Fere zu lagern und in den Hungerzeiten zu verzehren. Er sieht sich als Rächer und tötet nicht aus der Not heraus, sondern aus Wut, während sich im Ozean nicht mehr nur eine Ferenart sammelt, sondern etliche aus allen Meeren zusammengekommen sind, um dem Menschen ihre Macht zu demonstrieren.
Er hat es geschafft, sich über diese Meute für einen kurzen Moment zu behaupten und die Gischt aus Hass mit einem kleinen marokkanischen Dolch zu ritzen, um nicht selbst vernichtet zu werden. Eine Fere erwischt er, bevor es ihn erwischt. Doch der Kampf ist einer gegen Windmühlen, die Fere entkommt und statt Bewunderung erntet er nur Hohn und erwirbt sich den Ruf eines Irren, denn keiner hat es gesehen und keiner will ihm glauben. Man weiß nur, dass er alleine auf dem Boot ins Wasser gepinkelt hat, und als ihn die Engländer bergen, erklärten seine Freunde, er wäre nicht ganz dicht, statt ihn als großen Seemann zu preisen.

Tief gekränkt zieht sich Ndrjas Vater zurück und weigert sich, ihnen jemals wieder die Tür zu öffnen. Lediglich für einen Freund Ndrjas macht er das Fenster auf, um Neuigkeiten über den Sohn zu erfahren. Dieser hat seine rechte Hand verloren und führt die Streithähne wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Es ist Krieg und die Eltern des Verletzten trauern weniger um die verlorene Gliedmaße als um ihre Ahnungslosigkeit, als der Sohn ein solches Schicksal erfuhr und sie vielleicht lachten oder miteinander stritten.
Das fasst D'Arrigo wunderschön ins Wort, nachdem zuvor über Seiten hinweg die langwierige Beschreibung des väterlichen Kampfes mit den Feren erfolgte, teilweise sehr ermüdend und ohne den gekonnten Spannungsrahmen des Davors. Sobald sich D'Arrigo ins Wasser begibt und auf seine Feren fixiert, verliert er sich oftmals in unzähligen Details, die zwar zum Teil fantasiereich, aber auch völlig unnötig für die Erzählung sind.
Sicherlich hätte das eine oder andere Gestrichene dem Werk mehr Struktur verliehen und den Wegfall einiger unwichtiger Seiten voller Worte, durch die sich der Leser regelrecht hindurchquält. Aber mit der Rückkehr in die Gegenwart gewinnt der Roman erneut, gerade auch durch die Geschichte der verlorenen Hand als Metapher für den viel tragescheren Verlust der Menschlichkeit.

Zitat von D'Arrigo
"Wer erwartet denn heute noch einen Händedruck, nachdem der faschistische Gruß und der Militärsalut ihn auf die unterste Stufe stieß und ihn in den Augen aller entwertete. O ja, der Mensch trat den Händedruck mit Füßen."



Was dann folgt, ist eine Reflexion über die Sirene, die für die einen Fere, für andere Nixe, für manche Fisch und für die Jugend das sexuelle Erwachen ist. Auch dieser Abschnitt ist im Grunde, da man die Geschichte von Odysseus kennt, eher ausschweifend und langatmig. Statt über Krieg und Rückkehr zu reden, schweift D'Arrigo in die Vergangenheit ab und erzählt, wie Ndrja und seine Freunde ihre Jungfräulichkeit verlieren und sich das schöne Abbild ihrer Fantasie in eine hässliche blatternarbige Hure verwandelt. Sie wiederum wurde als junges Mädchen von Beduinen auf ein Schiff entführt und vergewaltigt, um sich dann mit der Krankheit anzustecken und für ewig gezeichnet zu sein.
Weitere sexuelle Abenteuer erleben Ndrja und seine Freunde dann auch mit den Feminotinnen, die den Sex zur Ablenkung nutzen, um die Fischerjungen zu beklauen. Die Belohnung ist eine Geschlechtskrankheit, so dass D'Arrigo nun wirklich nichts auslässt.

Schließlich landet der Erzähler wieder in der Gegenwart, wo Vater und Sohn sich über den Ferenkampf ereifern. Thema ist auch Mussolini, dessen Statuenkopf am Anfang des Romans so schön als Nachttopf diente.
Der enttäuschende Kampf gerät für den Vater im Gespräch mit dem Sohn zur Trophäe. Er wartet nicht, bis sich seine Erinnerungen im Alter verfälschen, sondern benötigt nur ein Gegenüber, der ihm als Zeuge dient. Und Ndrja erkennt, dass sein Vater alt geworden ist und dass auch der Krieg ihm wichtige Jahre gestohlen hat.


(Ein Gemälde, das mich an die Stimmung in D'Arrigos Werk erinnert hat. Es stammt von Valentin Alexandrowitsch Serow und stellt den Raub der Europa dar. /Quelle: Kunstkopie)

Im Dorf erreicht ihn bald ein neues Gerücht. Im Meer ist ein Orca aufgetaucht, der innerhalb von Jahrhunderten erst dreimal an der Oberfläche erschien und als unsterblich gilt. Für D'Arrigo ist der Killerwal weiblich, gefräßig und noch gefährlicher als die Feren. Er nennt sie die Todbringerin als Zeichen des Unheils, und ihr voraus schwimmt der Feron, ein bereits gewaltiges Tier, das den Pestgestank mit sich führt, der sich auf alle überträgt, die mit ihm in Berührung kommen.

Die Beschreibung des Giganten von 50 Meter Länge und 5 Meter Breite ist phänomenal und bildgewaltig. Dass dieses Tier den Tod bringt, glaubt man dem Erzähler ungesehen, und die Geschichte ist verknüpft mit dem sterbenden Fischer, in dessen Auge sich die Iris bricht, als wäre darin die Sonne untergegangen. Er war einer der ersten, die den Tod durch den Feron erfuhren und im Sterben und mit zerschmetterten Knochen noch davon berichten konnten, dass es ihn überhaupt gibt.

Ende des ersten Weltkriegs war der Feron ein weiteres Mal gesichtet worden und entfacht das Szenario des Walkampfes im Bild eines Fischers, der versucht, ihn zu harpunieren und so seine Wut weckt. Das Boot wird mit dem Giganten und seinem Gestank meilenweit aufs offene Meer mitgerissen, bis die Fischer erkennen, dass der Feron eine gewaltige Wunde auf dem Rücken hat, die all das ausdünstet. Hier beginnt man sich als Leser zu fragen, ob ein Zusammenhang zwischen Ndrjas Vater und seiner angeritzten Fere und diesem Kaliber, das als unsterblich in der Fantasie aufgebläht ist, besteht. Auch die Fischer jagen das Viech nicht, um Beute zu machen, sondern des Kampfes wegen, der genauso sinnlos ist wie der Krieg.




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#5

RE: Stefano D‘Arrigo

in Die schöne Welt der Bücher 17.02.2022 20:53
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Die Orca steht mit ihrer Unsterblichkeit gleichzeitig für eine mächtige Einsamkeit. Und statt Tod bringt sie kurzzeitig Nahrung und damit Leben (oder zumindest eine Art Weiterleben). Während es die Frauen als Wunder betrachten und dankbar sind, glauben die Männer, dass der Fisch zufällig durch die Orca hochgetrieben wurde, der ihnen die nächsten Tage den Hunger erspart. Der Gigant taucht wieder ab, ohne die Frage zunächst beantwortet zu haben. Doch eine Ahnung flammt auf, dass wenn sich die Orca in den Gewässern wohlfühlt, der Fischbestand abnehmen wird und damit auch die Fischer ihrer Existenz und Arbeit beraubt sind. So hat der Leviathan immer zwei Gesichter und jene Licht- und Schattenseite des Bekannten.

Mit dem Fund einiger Fässer verdorbenen Weins und verschimmeltem Brot, kommen die Fischer auf die Idee, zu testen, ob die Feren darauf tatsächlich so versessen sind, wie es in der Legende heißt. Brot und Wein sind der Leib und das Blut Christi. Bei D'Arrigo bewirkt es das erneute Auftauchen der Orca als Erkenntnis, dass sie die Feren bezähmt hat und das jemand auch die Orca als Todbringerin bezähmt hat, und zwar kein anderer als Ndrjas Vater. Er trägt mit seinem Anritzen die Verantwortung für ihr Auftauchen zwischen Skylla und Charybdis, denn die Gigantin wie auch alle anderen Erscheinungen sind die Fantasiegebilde der Fischer, während dahinter die wirkliche Kriegsflotte naht. Zwar ist der Krieg an Sizilien vorbeigezogen, doch der Frieden ist noch nicht zu den Menschen gelangt.

Zitat von DÀrrigo
"... dieser Tag war der, als wir uns gegenseitig ansahen, wie wenn wir uns im Spiegel ansehen würden, und endlich den Bürgermut fanden, uns einzugestehen, dass unser Leben mit jedem weiteren Tag zu einem Kadaverleben würde, das war eben der Tag, an dem er sich hier vor uns, ja eigentlich vor unseren eigenen Augen hergesuhlt hatte, sozusagen wie eine Luftspiegelung, der uns zusieht, wie wir ihm zusehen, ihm, diesem Königskönig aller Kadaver."



Anhand der auftauchenden Orca werden sich die Fischer des traurigen Kriegszustands bewusst, sehen, wie die Frauen den hochgespülten Fischen nachjagen, sehen das Leid und den Hunger, den stets irren Blick aller, der voller Angst aufs Meer gerichtet ist, ohne die übliche Arbeit des Fischens machen zu können. Die Orca spiegelt den barbarischen Zustand und die Machtlosigkeit der Menschen.


Ndjra trifft auf seine Liebe Marosa, auf seine Jugendfreunde und auf die Dorfbewohner im näheren Umkreis. Gleichzeitig kann er Ciccina Circé nicht vergessen. Die Frauen vor den Türen kämmen sich die Haare und wirken, als ob sie nach den Nächten wieder neu zum Leben erwachen, aber alles, worauf sie begierig warten, ist eine neue Nachricht über ihre Angehörigen aus dem Krieg. So wie Marosa einen Pakt mit Gott schließt, indem sie Fische aufstickt und schwört, diese nicht zu essen, damit ihr geliebter Ndjra zu ihr zurückkehrt, hat jede ihr Ritual. Aus den vergrößerten Fotos, die Ndrja entgegengehalten werden, steigen die Lächeln der Menschen auf, die er identifizieren soll. Jedes Haus hat seinen kleinen Altar, seine Ausstellung mit Fotos und Büsten, um durch Vorübergehende in Erfahrung zu bringen, ob der Abwesende noch lebt oder um verkünden zu können: „Seht, das waren die Männer dieses Hauses“.

Obwohl der Krieg weiterhin zu spüren ist, suchen einige Dekadente Ruderer für eine Regatta. Geboten sind 500 Lire für junge Burschen und kräftige Männer. Als die Frauen nach solchen gefragt werden, antworten sie: „Nehmt ihr auch tote Männer?“ und spucken aus. Mit dem Gerücht, man würde Sizilianer zur Arbeit abkommandieren, um sie dann zu Gefangenen zu machen, werden auch Ndrja und sein Freund angesprochen. Für ihn werden sogar 1.000 Lire geboten. Gegenüber den Fotos ist er lebendig und taugt anscheinend für die Sache. Währenddessen taucht die Orca in ihrer ganzen Bedrohlichkeit vor der Küste auf und wird zum Sinnbild des Untergangs, jedoch nicht für die Menschen, sondern für die Unsterblichkeit.

Als ein verrücktgewordener Engländer Dynamit wirft, offenbart sich auf einmal die ganze Verletzlichkeit der Orca, die wahrscheinlich längst erblindet ist und ihre Instinkte eingebüßt hat. Das lassen sich die Feren nicht zweimal sagen. Sie beginnen sie zu attackieren, dass ihr die ganze Unsterblichkeit nichts mehr nützt und das, was vorher ihre Kraft war, zur Falle und Verdammnis wird, sich verletzt und dermaßen ausgeliefert durch die Ewigkeit zu schleppen. So hoffen selbst die ihr wenig gut gesinnten Fischer, dass ihre Unsterblichkeit nur ein Gerücht ist und sie den lang ersehnten Tod findet. Der Tod ist hier Erlösung, und diese steht nicht nur für den unsichtbaren Charybdis.


(Quelle: https://the-demonic-paradise.fandom.com/wiki/Charybdis)

Mag dieses Schauspiel für die zerstörte Macht, das Leiden, die Umwandlung ins mythologische Wesen, für eine Fälschung, für den Sieg des Lebens über den Tod (und umgekehrt den Tod über die Unsterblichkeit) stehen, für die gigantische Entstellung, für den Sieg der Gemeinheit über die Gutmütigkeit, der zähen Verbissenheit über die Allmacht, sogar für Schrödingers Katze, gleichzeitig tot und lebendig zu sein, oder allgemein für die dunkle Seite des Krieges im Gemetzel des Seins, es ist der gewaltige Untergang eines Giganten, der seine Macht verloren hat und der damit angreifbar wird. Auch für die Fischer kehrt er sich in ein anderes Bild, das eine Überwindung falschen Stolzes ermöglicht.


"Lang sind die Tage, die ein alter Pellesquadra an Land verbringt, auf einem Stuhl vor der Haustüre sitzend oder an der Marina: Irgendetwas muss ja eine Abwechslung für ihn darstellen, das Meer oder die Erinnerungen ans Meer."
- Lang sind auch dieser Roman und die Zeit des Lesens. Meine Erwartungen an das Buch haben sich letztendlich in Hinblick auf das Vielgelobte und den Vergleich mit anderen Werken nicht erfüllt. Zwar ist das Lesen für mich keine Zeitverschwendung gewesen, doch verliert sich das Interesse innerhalb so vieler Seiten zu häufig, die teilweise mit Nichts oder Meerwasser gefüllt sind, wenn auch in wunderschöner Sprache, weil eine tiefere Hinterfragung der Ereignisse nicht gegeben ist. Die Bilder sind und bleiben Bilder. Dazu wechseln sie ständig in ihrer Deutung. Sie stehen zwar für Erlebnisse und Lebenserfahrung, bergen jedoch kein wirkliches Geheimnis oder das philosophisch Tiefgründige. Vielmehr überlegt man ständig, wieso D'Arrigo sich in bestimmte Szenen so stark in die detaillierte Beschreibung hineinschraubt oder warum er sich so sehr auf seine Feren fixiert.

Ähnliche Gefühle wie beim Lesen dieses Romans empfinde ich in etwa, wenn ich Angler sehe, wie sie regungslos am Meer sitzen und Stunden ausharren, um einen Fisch an Land zu ziehen. Dann frage ich mich verwundert, wie sie das machen, ohne Buch, ohne andere Betätigung, einfach durch das Starren auf Wasser, während die kostbare Zeit verrinnt. Vielleicht ist dieses Buch tatsächlich für Fischer geschrieben, die mit der Weite des Meeres und der Leere der Stunden etwas besser umgehen können. Ich bin kein Fischer, auch wenn ich das Meer liebe. Aber dann doch lieber in der wirklichen Begegnung und nicht in den zuweil unheimlichen Tiefen eines Romans, der metertief wie der Ozean ist.


--
(Alle Zitate entnommen aus: Stefano D'Arrigo "Horcynus Orca", S. Fischer Verlage)




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