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Nassim Nicholas Taleb
in Sachen gibt's - Sachbuch 06.07.2023 23:37von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Nassim Nicholas Taleb
"Der Schwarze Schwan - Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse".
"Wir Menschen haben ein starkes Verlangen nach Regeln, weil wir die Dimension der Dinge so reduzieren müssen, dass sie in unseren Kopf passen."
In diesem knapp 500 Seiten langen Essay geht es darum zu zeigen, dass der Mensch glaubt, mehr zu wissen als ihm möglich ist, dass die Welt und das Sein, die Geschichte und der Alltag von Zufällen bestimmt sind, die sich nicht vorhersagen lassen, die als plötzliche und unvorhersehbare Ereignisse von heute auf morgen auftreten können und alles verändern. Diese nennt Taleb "Schwarze Schwäne" und aufgrund dieser glaubt er auch nicht tatsächlich an Ursache und Wirkung. Nichts ist geordnet und trotzdem meint der Mensch, sichere Kenntnisse zu haben oder das, was geschehen wird, im Voraus berechnen und entsprechend darauf reagieren zu können, um sich sicher zu fühlen, obwohl die "Schwarzen Schwäne" das Geplante ad absurdum führen. Das trifft auf alle Lebensbereiche zu. Taleb, der an der Börse als Finanzmathematiker tätig war, bringt auch seine eigenen Erkenntnisse ins Spiel, dass große Spekulanten, Finanzexperten, Risikomanager und Statistiker im Grunde nur gewiefte Spieler sind und bei großen Risiken entweder gewinnen oder verlieren, jedoch keine tatsächlichen Prognosen machen können, wie sehr sie sich auch als Experten fühlen und den Markt studieren. Das trifft auch auf Naturkatastrophen, gesellschaftliche Ereignisse, Bucherfolge oder Kriege zu, eigentlich auf alles, was in der Welt geschieht.
Geschichte wirkt für uns zunächst geordnet, weil wir die Ereignisse im Nachhinein deuten. Daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen zu können, hält Taleb für unmöglich, selbst wenn sich Menschen an Wiederholungen von Ereignissen orientieren. Er verweist auf das Induktionsproblem von Bertrand Russell, das er anhand eines Truthahns statt eines Huhns demonstriert, der 1000 Tage gefüttert bzw. gemästet wird und durch den immer gleichen Ablauf der Fütterung als freundliche Geste Vertrauen zum Menschen entwickelt, bis dann der 1001. Tag eintritt, an dem er geschlachtet wird, ein für ihn tragisches und überraschendes Ereignis (jener "Schwarze Schwan", bei dem sich für ihn das Gute ins Böse verkehrt), dagegen für den Truthahnbesitzer oder Metzger durchaus weniger überraschend kommt. Problematisch bleibt, dass der Mensch sich seine Welt zurechterklärt und nicht zulassen möchte, dass sich diese Welt nicht logisch ordnen lässt. Statt auf das Außergewöhnliche zu achten, bestätigt er sich alles anhand gewöhnlicher Vorgänge. Er sucht Bestätigung statt das, was sein Denken und seine Ansichten infrage stellt oder gar widerlegen könnte.
Taleb teilt die Welt in Extremistan und in Mediokristan. In der ersten überwiegen die unvorhersehbaren Ereignisse und verändern die Situationen gravierend, in der zweiten folgt alles vorhersehbaren Ereignissen, die von keinen Überraschungen gestört werden. Diese sind deutlich seltener. Dennoch neigt der Mensch zur Verzerrung und zur Überbewertung der faktischen Informationen. Er möchte in Mediokristan leben und verweigert den Blick auf Extremistan. Begünstigt wird das durch seine Neigungen, Narrativität und Kausalität wahrzunehmen und sie den Dingen aufzuerlegen, die jedoch nur die "Symptome ein und derselben Krankheit sind: der Reduktion der Dimension."
„Der Schwarze Schwan“ ist ein sehr interessantes Buch, auch mit literarischem Anspruch und einigen persönlichen Ansichten und Erfahrungen. Taleb hat als Kind den Krieg im Libanon miterlebt, ein Ereignis, das für die dort lebenden Menschen ebenso überraschend kam wie die Dauer des Konflikts. Vieles gibt einem nach der Lektüre zu denken.
Hier ein schöner Auszug:
Zitat von Taleb
"Der Schriftsteller Umberto Eco gehört zu der kleinen Klasse von Akademikern, die enzyklopädisch, erkenntnisreich und nicht langweilig sind. Er besitzt eine große Privatbibliothek mit 30.000 Büchern und unterteilt seine Besucher in zwei Kategorien: diejenigen, die mit „Oooooh! Signore professore dottore Eco, was für eine Bibliothek! Wie viele von diesen Büchern haben Sie denn gelesen?“ reagieren, und die anderen (eine sehr kleine Minderheit), die begreifen, dass eine Privatbibliothek kein Anhängsel zum Aufpolieren des Egos ist, sondern der Forschung dient. Gelesene Bücher sind längst nicht so wertvoll wie ungelesene. Eine Bibliothek sollte so viel von dem, was man nicht weiß, enthalten, wie der Besitzer angesichts seiner finanziellen Mittel, der Hypothekenzahlungen und des derzeit angespannten Immobilienmarkts hineinstellen kann. Je älter er wird, desto mehr Wissen und Bücher wird er anhäufen, und die wachsende Zahl der ungelesenen Bücher in den Regalen wird ihn drohend anblicken. Die Reihen der ungelesenen Bücher werden sogar umso länger, je mehr er weiß. Eine derartige Sammlung ungelesener Bücher wollen wir eine Antibibliothek nennen."
(Alle Zitate aus: Nassim Nicholas Taleb "Der Schwarze Schwan", Carl Hanser Verlag)
Art & Vibration
Wie Du auf den Taleb gekommen bist, wundert mich. . . . Doch gerade sehe ich, dass Der Schwarze Schwan hier vor 14 Jahren nach Erscheinen von Zypresserich und Larifant erwähnt wurde.
Talebs Erzählstil wechselt mühelos vom Autobiografischen zu Sachbuchthemen und zurück. Sowohl unterhaltsam als auch lehrreich sind zum Beispiel die von Dir erwähnten autobiografischen Geschichten, wie am Beginn des ersten Kapitels in Sachen Libanon, und die wiederholten Ausführungen zur Glockenkurve ("Normalverteilung"). Das mit Extremistan (mit extrem seltenen aber zugleich extrem folgenreichen Ereignissen) und Mediokristan (und den damit verbundenen narrativen Disziplinen) sollte man bei bestimmten Entscheidungen besser im Hinterkopf zu haben. Warum dies Politikern, Beamten und angestellten Manager so gut wie nie gelingt, hatte er wohl auch irgendwo erklärt.
Die Globalisierung sah/sieht Taleb kritisch. "Die Natur mag keine zu starke Spezialisierung", hatte ich notiert, und lese nun noch mal im Buch, dass sich durch sie kleine Risse an einer Stelle durch das gesamte System ausbreiten können, und "für die Schulden gilt dasselbe". Sich in diesem Maße Geld zu leihen, stehe im Widerspruch zu allen historischen Traditionen.
Beeindruckend ist zudem sein historisches Hintergrundwissen, was die philosophische und mathematische Ahnenreihe betrifft. Ihm nehme ich ab, dass er in den zahlreichen in der Bibliografie genannten Werken tatsächlich bewandert ist, wenngleich ihm kleine Fehler unterlaufen, etwa wenn er von einer deutschen Hyperinflation "ab 1924" schreibt.
RE: Nassim Nicholas Taleb
in Sachen gibt's - Sachbuch 08.07.2023 12:34von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Salin
Wie Du auf den Taleb gekommen bist, wundert mich. . . . Doch gerade sehe ich, dass Der Schwarze Schwan hier vor 14 Jahren nach Erscheinen von Zypresserich und Larifant erwähnt wurde
Tatsächlich war das Werk eine Ausbeute meines Regals beim jährlichen Aussortieren und Neuordnen und stand da noch ungelesen herum. Es war damals eine Empfehlung durch einen Freund, während einmal wieder etliche andere Bücher dazwischen kamen. Bei solchen Werken bin ich oft ein Nachzügler, ähnlich wie damals z. B. bei Hofstadter, darunter sein Werk "Gödel, Escher, Bach". Als ich vor kurzem bei Taleb hineingelesen habe, sprach mich der Inhalt sofort an. Auch oder gerade wegen der heutigen Ereignisse, die Skeptizismus in der Reflexion und Beurteilung benötigen, denn im Grunde wissen wir tatsächlich nichts sicher und können auch kaum irgendetwas abschätzen, was in naher Zukunft liegt. Trotzdem glaube ich an Ursache und Wirkung, nur dass die Ursache nicht immer sichtbar ist.
Dass Taleb die Werke kennt, die ihm zur Beweisführung dienen, kann sicherlich vorausgesetzt werden, da er auch erwähnt, immer einen Job gewählt zu haben, der ihm Zeit zum Lesen lässt.
Art & Vibration