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Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 03.06.2011 22:38von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Philippe Ariès
Geschichte des Todes
Wie sich der Tod, die Sterberiten und Bräuche mit der Zeit entwickelt haben, um auch erklären zu können, warum das Abendland in dieser Art und Weise in Angst und Gleichgültigkeit mit dem Tod umgeht (hier wäre ein späterer Vergleich mit den Zeremonien des Ostens interessant), das also ist das Thema dieses Buches. Dafür geht Ariès weit zurück, bis ins Altertum, die Ritterzeit und das Mittelalter, vergleicht anhand der Literatur, wie die Menschen den Tod gesehen haben, wie sie mit ihm umgingen und ihn aufnahmen.
Ariès gehörte zu der französischen Historikerschule der „Annales“, die Methoden der Soziologie und der Geschichte zu verbinden trachtet und sich um die Erforschung der „civilisations“ und der „mentalités“ bemüht. Er wurde am 21. Juli 1914 in Blois geboren und starb am 8. Februar 1984 in Paris. Seine Monographien wie „Geschichte der Kindheit“, „Geschichte des Todes“ sind umstritten, trotzdem hat sein Werk über den Tod allen künftigen Historikern einen Maßstab gesetzt. Ariès war ein enger Freund von Michel Foucault, was man auch merkt. Sicherlich hat er sich ausführlich mit Foucault ausgetauscht, der ja ein ähnliches Thema für seine Schrift „Verbrechen und Strafe“ gewählt hat und gleichsam dazu neigte, in seine Überlegungen viel Literatur mit einfließen zu lassen (was seine philosophischen Werke so spannend macht). Ähnlich ist es auch bei Philippe Ariès.
Er beginnt mit dem Mittelalter, spricht von einem gezähmten Tod, wenn er in die Vergangenheit zurückkehrt, bishin zum Ritter Roland, in dessen Lied die Rede davon ist, dass der Tod gefühlt wird, vorausgeahnt. Gezähmt darum, weil der Mensch ihn nicht fürchtet. Er wird hingenommen und in aller Öffentlichkeit zelebriert. Er benötigte grundsätzlich Aufmerksamkeit, der Sterbende verabschiedete sich und gab den Zurückbleibenden seine letzten Worte mit. (Dies hielt bis in die Romane und Erzählungen von Tolstoi oder Solschenizyn (Krebsstation) an.) Auch in der Tafelrunde oder bei Tristan und Isolde klingen ähnliche Gedanken durch. Der Tod wird als Zeichen wahrgenommen, die Menschen bereiten sich auf das Ende vor.
Zitat von Ariès - S.15
Manche Vorahnungen hatten den Charakter des Wunderbaren; insbesondere eine trog nie – die Erscheinung von Verstorbenen, und sei es im Traum.
Nur für die, die sterben werden, ist der Tod sinnlich wahrnehmbar. Der Rest der Menschheit kommt mit diesen Ahnungen und Begegnungen nicht in Kontakt.
Hierbei muss man sich, im Blick von Heute auf das Mittelalter, vor Augen halten, dass die Grenzen zwischen Natürlichem und Übernatürlichen damals fließend waren. Heute würden wir bestimmte Zeichen sogar als natürlich betrachten: banale, unmittelbar einleuchtende Wahrnehmungen geläufiger und vertrauter Züge des Alltagslebens.
Damit der Tod sich ankündigen konnte, das heißt, vorgeahnt werden konnte und rechtzeitig vorbereitet, war der plötzliche Tod natürlich ein Zeichen dafür, dass der Mensch schlecht gelebt hatte und ein Sünder war. Hier gingen die Menschen vom Zorn Gottes aus, wenn ein Verstorbener einen Unfall hatte oder durch Mord umkam. So ein Tod wurde als beschämend und schimpflich aufgefasst. Doch konnte sich diese Einstellung nicht lange halten.
Zitat von Ariès - S.20
Im 13. Jahrhundert bringt der Liturgist Gulielmus Durandus, Bischof von Mende, diese Verlegenheit zum Ausdruck. Er meint, dass der plötzliche Tod nicht bedeutet, „aus irgendeiner offenkundigen Ursache gestorben zu sein, sondern einzig nach dem unergründlichen Ratschlusse Gottes“. Der Tote darf also nicht als Verdammter gelten. Er muss christlich bestattet werden, aus Mangel an Beweisen: „Wo man einen toten Menschen findet, soll man ihn ins Leichentuch hüllen und beisetzen, gerade wegen des Zweifels, in dem man sich über seine Todesursache befindet.“
Wo sich heute die Angst vor dem Tod bei den Menschen ausbreitet, so wurde damals der Tod selbst nicht als Gefahr betrachtet, nur das Danach. Man hoffte auf das ewige Leben, der bittere Tod war der Tod in Sünde, nicht der physische Tod des Sünders. Der Tod selbst wurde ohne Widerspruch in schlichter Hinnahme akzeptiert. Es herrschte die mittelalterliche Spiritualität, sokratische Weltabwendung oder stoische Verhärtung der Renaissance. Es herrschte die Gewissheit vor, dass jeder Mensch stirbt, wobei diese Auffassung durch die Zeit hindurch bis heute auch häufiger wechselte. Der Tod des mittelalterlichen Ritters ist unspektakulär. Er lebte als tapferer Edelmann, kämpfte als Held, mit herkulischer Stärke, seinem Tod aber haftete nichts Heroisches oder Außergewöhnliches an: „er hat die Banalität des Todes von jedermann“.
Die Stellung des Toten äußerte sich durch die gekreuzten Hände auf der Brust, der Tote lag auf dem Rücken, damit das Gesicht dem Himmel zugekehrt ist. Die Füße wiesen gen Osten (nach Jerusalem), der Kopf nach Westen.
Dazu, wie schon erwähnt, starb man bis Ende des 19. Jahrhunderts öffentlich, daher war die Prophezeiung Pascals, dass man allein sterben werde, so außergewöhnlich; denn man war damals im Augenblick des Todes im physischen Sinne nie allein. Heute ist der Satz Pascals zur Banalität verblasst, so Ariès, man hat neben dem Wissen, dass jeder alleine stirbt, auch im physischen Sinne die größte Aussicht, in der Einsamkeit eines Krankenhauszimmers zu sterben.
In ganz alten Zeiten wurde der Tod als Schlaf aufgefasst, was deutlich zeigt, dass die Menschen sich nicht vor dem Tod selbst fürchteten, sondern vor den Toten, den Schlafenden. Diese durften niemals dort begraben werden, wo die Lebenden wohnten. – Kein Toter darf innerhalb der Stadt bestattet oder eingeäschert werden, hieß es im Zwölftafelgesetz. Daher lagen die Friedhöfe des Altertums immer außerhalb der Stadt. Die Menschen hatten Vertrauen zum Tod, scheuten aber die Nachbarschaft der Toten. Man wollte die Totenruhe nicht stören und fürchtete den Zorn der Schlafenden, die erweckt werden könnten. Das ist besonders beeindruckend, weil sich bald darauf ein gewaltiger Wandel vollziehen wird. Doch zu diesem Zeitpunkt wurde der Tod nicht als radikaler Umschwung empfunden oder als, wie Georges Bataille es formulierte, gewaltsame Überschreitung, der man sich auch beim Geschlechtsakt annäherte. „Die Vorstellung einer absoluten Negativität, eines Bruches angesichts eines Abgrundes ohne Erinnerung gab es nicht.“ Auch glaubte man nicht an ein Nachleben, das einfach die Fortsetzung des Lebens auf Erden war.
Bei Roland, im letzten Gespräch mit Oliver, ist keine Anspielung auf ein Wiedersehen im Himmel enthalten. Der Tod war ein Über-Gang, inter–itus. Roland und Oliver verlassen einander, als hätten sie einen endlosen, langen Schlaf vor sich. Die Auferstehung der Toten wurde vorerst verneint, man hoffte auf die Erweckung durch Gott. Nur Heiligen stand sie zur Verfügung, warum besonders auserwählte Sterbende auch neben Märtyrern begraben werden wollten, um unter deren Schutz zu stehen und in ihrer Totenruhe nicht gestört zu werden, was gleichbedeutend mit dem Verlust ewigen Lebens stand: der Tote würde also in diesem Fall immer ein ewig Schlafender bleiben.
Die Hölle dachte man sich als traditionelle Bleibe der Toten, einen Raum eher von Wartenden und Ausharrenden, als der Marter und Quälerei, wie sie später dargestellt wurde, wo die Hölle zum Reich Satans verkommt.
Der Himmel wurde mit Blumen, Frische und Licht, kurz als ein Paradies empfunden, wobei die Bilder zwischen schönen Gärten und Schneelandschaften wechselten.
Rückblickend auf die Antike, war man der Auffassung, dass der Mensch zwar nicht wie ein Tier gestorben ist, dass aber die Heiden keinen besonderen Raum für ihre Grabstätten aussuchten, sondern ihre Toten an beliebigen Stellen bestatteten. Es gab heidnische Friedhöfe, die sich bis ins 18. Jahrhundert hielten und immer außerhalb der Stadt lagen, damit dort, wo sich streunendes Gesindel, Vagabunden und Soldaten herumtrieben und die Gegend unsicher machten.
Die Ansammlung der Leichname von Christen im Umkreis der Reliquien der Heiligen und die über diesen Reliquien errichteten Basiliken sind zu einem spezifischen Wesenszug der christlichen Zivilisation geworden. Sie waren damit geweihte, öffentliche und häufig besuchte Stätten, die im Gegensatz zu denen der Heiden, nicht einsam und unrein waren.
„Seit Gottes Sohn den Tod selbst nicht nur geheiligt, sondern auch aufgehoben hat“, sagte ein geistlicher Autor des 18. Jahrhunderts, „sowohl in seiner Person als auch in seinen Gliedern, sowohl um seiner Auferstehung willen als auch durch die Hoffnung, die er einflösst, indem er in unsere sterblichen Leiber seinen belebenden Geist einsenkt, der die Quelle der Unsterblichkeit ist, sind die Gräber derer, die für ihn gestorben sind, als Schoß des Lebens und der Heiligkeit aufgefasst worden.“
Der Heilige Augustinus stand dieser Verehrungskundgebung eher skeptisch gegenüber. Er bestand darauf, dass die den Toten entgegengebrachten Ehrungen vor allem der Tröstung der Lebenden zu dienen hätten.
Im 8. Jahrhundert nahm die Angst vor den Toten ab und die Friedhöfe wuchsen nach und nach in die Städte hinein. Das begann durch den Klerus, der sich bestimmte Gebeine toter Heiliger oder Märtyrer in die eigene Kirche holte, um von diesem Ruf zu profitieren. Damit wurden die damaligen Normen immer mehr aufgehoben. Bald gab es nirgendwo mehr Kirchen, die nicht auch als Gräber dienten und die nicht mit einem Friedhof verbunden waren. So ergab sich die Verbindung zwischen Kirche und Friedhof.
Da die Knochen der Märtyrer als Schutz (vor z. B. Grabschändung) galten, so dass die Auserwählten in ihrer Nähe begraben werden wollten, ließen sich nach und nach reiche Privatpersonen auf eigenem Grund und Boden beerdigen, wobei sie die Nähe der Knochen damit erzielten, dass sie sie sich kommen ließen, statt selbst neben ihnen begraben zu werden.
Der Heilige musste damit zum Toten kommen, nicht mehr der Tote zum Heiligen. Von nun an wurden diese Reliquien Grabbeilagen – im Schutze der Heiligen – und zum merowingischen und karolingischen Brauch.
Damit war den Toten endgültig der Platz unter den Lebenden gesichert.
Art & Vibration
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 04.06.2011 00:08von LX.C • 2.821 Beiträge
Zitat von Taxine
Im 18. Jahrhundert nahm die Angst vor den Toten ab und die Friedhöfe wuchsen nach und nach in die Städte hinein. Das begann durch den Klerus, der sich bestimmte Gebeine toter Heiliger oder Märtyrer in die eigene Kirche holte, um von diesem Ruf zu profitieren. Damit wurden die damaligen Normen immer mehr aufgehoben. Bald gab es nirgendwo mehr Kirchen, die nicht auch als Gräber dienten und die nicht mit einem Friedhof verbunden waren. So ergab sich die Verbindung zwischen Kirche und Friedhof.
Die Verbindung zwischen Kirche und Friedhof entstand im Mittelalter, seit der Karolingerzeit. Jeder wollte Gott so nah wie möglich sein, daher die Kirchhöfe, daher die Grabstätten an den Kirchmauern, die in den Kirchen, bis in Altarnähe; das waren natürlich die begehrtesten Plätze für ganz Auserwählte. Dieser Kult steigerte sich, mit auf und abs, teilweise sogar Verboten der innerkirchlichen Bestattung, bis Mitte des 14. Jahrhunderts. Bis zum Ausbruch der Pest. Nun bekamen die Toten ein anderes Ansehen, sie wurden als Krankheitsüberträger gesehen und aus der Mitte der Lebenden ausgeschlossen. Sie wurden vor die Stadt ausgelagert, weil sie aus hygienischen Gründen niemand mehr in der Stadt haben wollte. Aber auch, weil die Menge der Toten auf dem Kirchhof natürlich nicht mehr zu bewältigen war. Ein Mentalitätswandel gegenüber den Toten fand auch in der Familie statt, der nicht mehr rückgängig zu machen war.
"Um 900 begegnen die ersten Anordnungen, welche die Beisetzung der Toten bei der Kirche gebieten. Die Bestattung im Kirchengebäude ist im Mittelalter etwas Alltägliches, obwohl das ganze Mittelalter hindurch immer wieder zugleich auch die alten Verbote und Einschränkungen des Brauchs wiederholt wurden. […]
Durch diesen grundlegenden Wandel wurde der Kirchhof mehr und mehr auch zu einem Kernbezirk der städtischen und der ländlichen Siedlungen. Seine Bedeutung im Alltagsleben und im Recht kann kaum überschätzt werden. Der Kirchhof muß eingehegt sein. Er ist mit Asylrecht ausgestattet, er ist ein Ort für Versammlungen, für den Abschluß von Geschäften, er ist in vielen Fällen auch der befestigte, wehrhafte Mittelpunkt der Siedlung. Der Kirchhof als ein Platz, wo die Leute spielen, singen und tanzen, ist ein Gegenstand einer über Jahrhunderte hin anhaltenden kirchlichen Reglementierung." (Oexle, Otto Gerhard: Die Gegenwart der Toten, Löwen 1983, S. 56-57.)
Der zweite Teil des Zitates bestätigt noch mal, was du auch sagtest. Was die Märtyrer betrifft, die wurden meist vor den Befestigungen einer Ortschaft begraben, als Schutzheilige sozusagen, die Übel vor den Mauern einer Ortschaft abwenden sollten. Im Wandel und mit Zunahme des Heiligenkultes, der Märtyrer war salopp gesagt der Vorgänger des Heiligen, gewann die Kirchenzentrierung an Bedeutung, auch was die Bestattung betrifft. Viele Heilige wurden mit fadenscheinigen Begründungen umgebettet, um Städte als kirchliche Standorte, Höhepunkt der Stadtentwicklung im 13. Jahrhundert, bedeutsam zu machen. Das geschah aber alles schon seit dem Mittelalter. Vielleicht hast du dich nur im Jahrhundert geirrt. Dass der innerstädtische Friedhof im 18. Jahrhundert erneut an Bedeutung gewonnen hat, das kann ich mir allerdings vorstellen. Wenn man über die Stadtfriedhöfe schlendert, dann stammen auffällig viele Gräber aus dem 18., 19. Jahrhundert. In Berlin begann man Mitte des 19. Jahrhunderts schon wieder in alle Himmelsrichtungen auszulagern. Das aber allein aus Platzgründen.
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[i]Poka![/i]
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 04.06.2011 13:56von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja, das stimmt. Oben muss es natürlich - 8. Jahrhundert – heißen (ändere ich mal, damit es stimmig ist). Vielen Dank für deinen Hinweis, LX.C. Das ist bei Ariès allerdings allgemein etwas schwierig, die Daten richtig zuzuordnen, da er in der Zeit hin und her springt und man leicht den Überblick verliert.
Was du über die Pest sagst, dazu habe ich bei Ariès auch einiges gefunden (durch solche Massensterben entstanden die Massengräber, die später für die Armen beibehalten wurden), ebenso über die Wünsche der Leute, wo sie beerdigt werden wollen, bis zu solchen Festlegungen wie: Nähe Altar, Kirchenschiff, wo sie gesessen und gebetet haben, usw. Im 16. Jahrhundert kam dann erst der Trend auf, sich bei Bekannten oder Angehörigen beisetzen zu lassen, während man zuvor Wert auf die richtige Kirche legte. Die Friedhöfe dagegen waren so groß, dass ganze Wegbeschreibungen testamentarisch festgelegt wurden, am Grab so und so, dort wo die Statue des heiligen Joseph steht, (oder in der Kirche dann) unter dem Abbild der Mutter Gottes. Manche waren so fixiert darauf, wo sie begraben werden wollten, dass sie sogar mehrere weitere Möglichkeiten angaben, falls der gewünschte Platz schon vergeben sein sollte.
Aber jetzt noch einmal zurück ins frühe Mittelalter.
Ariès zeigt die Gebräuche mit den Toten auf, die sich die Ruhe auf geweihten Boden nicht verdient haben. „Die Menschen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit ließen nicht zu, dass der Lauf der Gerechtigkeit und ihre Ausübung vor dem Tode haltmachten.“ Solche wurden ohne Bestattung, mit einfachen Steinblöcken bedeckt vergraben, um die Nachbarschaft nicht zu belästigen. Hin und wieder wurden Gebeine auch exhumiert.
Dante schildert diesen Brauch:
Nun treibt der Wind sie und der Regen
Zum Land hinaus, entlang dem Verdeflusse
Wohin er (der Papst) sie gebracht hat ohne Lichter.
Es gab, nach Alain Chartier, unrechte Friedhöfe, ehrlose Gräber, wo man sich der Leichname der Verdammten entledigte.
Zitat von Chartier
„Und zwar nach Art des falschen âtre,
Und hier bettet man die Leichname der Verdammten.
Ich kannte derer mehr als vier,
Die dort, schwarz und verwest,
Auf der bloßen Erde verstreut liegen, ohne verscharrt worden zu sein.“
Ariès erklärt, dass die schreckliche Deponie häufig mit dem Galgenplatz zusammenfiel. Die Leichen der Hingerichteten blieben oft monate-, ja sogar jahrelang aufgehängt und zur Schau gestellt. Auch Jan Potocki berichtet, obwohl phantastisch angelegt und zu einem ganz anderen Zeitpunkt geschrieben, von solch einem mittelalterlichen Brauch in „Die Handschrift von Saragossa“. Dort wacht der Erzähler neben einem Galgen auf und berichtet: „Die Leichname der beiden Brüder Zoto hingen nicht mehr da. Sie waren zur Seite niedergelegt worden.“
Man band die Gehängten auch im Mittelalter los, oder sie fielen einfach von selbst herab und vermoderten zu Füßen des Galgens.
„Ich ruhte auf Seilenden, Teilen von Rädern, Resten von menschlichen Skeletten und den widerwärtigen Lumpen, die die Verwesung davon übrig gelassen hatte“, sagt Potockis Held.
Darüber, noch am gleichen Galgen befestigt, baumelten „die schrecklichen Kadaver, vom Winde bewegt, in grotesken Schwüngen hin und her, während schaurige Geier an ihnen zerrten, um ihnen Stücke Fleisches zu entreißen.“
Opfer von Hinrichtungen ließ man vermodern, verbrennen oder die Asche zerstreuen, wobei dieser die Liste der strafbaren Handlungen beigefügt wurde. Neben Verbrechern wurden auch Selbstmörder bestraft. Ihnen wurde der Friedhof verweigert. Ariès sagt, dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Bretagne Friedhöfe für Selbstmörder existierten, „wo der Sarg einfach über eine öffnungs- und türlose Mauer gehoben wurde“.
Wenn es unmöglich war, die kanonische Verdammung aufzuheben, versuchten Familien, sich den locus publicus est ecclesiasticus zu erzwingen.
Zitat von Ariès - S. 62
Weil sie nicht bestattet werden durften, wurden die Särge manchmal in den Astgabelungen der Friedhofsbäume aufbewahrt – ein bizarrer Anblick! Sie wurden heimlich verscharrt, aber die Teufel (oder Engel) ließen sie nicht immer des Platzes froh werden, den sie sich an dem von ihnen entweihten heiligen Ort widerrechtlich erschlichen hatten: sie gruben sie nachts aus und vertrieben sie entweder selbst oder riefen befremdliche Erscheinungen zur Hilfe, die den Klerus über den Betrug ins Bild setzten. Es gab Blanko-Petitionsanträge, um bei der Obrigkeit um das Recht nachzusuchen, einen Leichnam zu exhumieren und ihn aus der Kirche oder vom Friedhof zu verweisen.
Die Bäume der Friedhöfe mussten zu einem späteren Zeitpunkt übrigens auch für das Eigentum der Toten herhalten. So fand man Koffer, Schränke und anderes zwischen den Ästen über dem Grab des Toten, ein nicht weniger bizarrer Anblick.
Die Rachegedanken wutentbrannter Lebender dauerte also oft über den Tod des Verbrechers hinaus, während die Kirche sich bemühte, die heiligen Stätten einzig für Gläubige zu reservieren, wobei sie wiederum darin unterschied, wer um die Kirche und in der Kirche bestattet wurde. So sprach sie ein Verbot der Grablegung im Kirchinneren aus, überging dieses aber zugunsten von Priestern, Bischöfen und Mönchen, bis diese Ausnahme zur Regel wurde. Wo der Altar heilig war, durch die Nähe des Leibes und Blutes des Menschensohnes, galten z. B. nicht nur Priester, sondern auch Stifter der Kirche als Gesalbte des Herrn, die bald ihrerseits die gleiche Geltung wie die von Märtyrern und Heiligen genossen. So ließen sich eigene Regeln leicht durchbrechen und umformulieren. Nicht selten war nicht mehr Frömmigkeit und Verdienst ausschlaggebend, sondern Reichtum und Macht.
Eine erhaltene Kirche in Sint Bavo in Haarlem verdeutlicht das übergangene Verbot in aller Übertreibung besonders stark. Die Kirche stammt aus dem 17. Jahrhundert und ihr gesamter Fliesenboden besteht ausschließlich aus Grabplatten. Wohin auch immer man seinen Fuß setzt, darunter befinden sich die Gebeine Verstorbener. In Frankreich oder Österreich wird man weniger auf derartige Beweise stoßen, jedoch nicht, weil die kanonischen Verbote dort nicht ebenfalls umgangen wurden, sondern weil dort die im 17. und 18. Jahrhundert erfolgten Säuberungen der Geistlichkeit gewütet haben. Eher noch findet man solche in Italien und Holland.
Damit lässt sich deutlich erkennen, dass die kanonischen Verbote, wenn sie auch ihr Prinzip weiter aufrechterhielten, immer großzügiger übergangen wurden, am Ende nur noch von der geeigneten Entrichtung einer Gebühr abhingen. Das Grab wurde e r k a u f t. Aus dieser Situation heraus war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Erhebung von Bestattungspfründen ergab, die von Geistlichen erhoben wurden und vorerst als Spende, dann als Pflicht gefordert wurden, mit der doppeldeutigen Bezeichnung: löbliche Gewohnheiten.
Die Beerdingung wurde zur reinen Geschäftsmacherei, wobei nicht nur die Kirche Schuld daran trägt, sondern auch all die Überheblichen, die nach derartiger Bevorzugung innerhalb der Kirchenräume strebten, statt sich mit den öffentlichen Friedhöfen zu begnügen, auf denen die Bestattung kostenlos war. Ariès führt eine Liste von testamentarischen Wünschen von Franzosen aus dem 15. und 16. Jahrhundert an und stellt fest, dass die Wohlhabenden sich häufig eine Grabstelle in der Kirche wünschten, während die Armen und auch Säuglinge und Kinder auf dem Friedhof beerdigt wurden.
In der Kirche, dem anliegenden Kirchhof, den Beinhäuern, bis zum Rand des Friedhofes herrschte also die Hierarchie der Ehrenplätze. Das Wort „Kirche“ bezeichnete nicht nur das Bauwerk, sondern den ganzen sie umgebenden Raum.
Auch die Anordnung und der Bau sind interessant. Um die Kirche herum gab es einen kleinen Hof, der an die Kirchmauer angrenzte, um diesen herum die Galerien der Beinhäuser, die oberhalb auch offene Kammern enthielten, die von überall sichtbar waren und Blick auf die Schädel und ausgebleichten Gebeine zuließen, zugewachsene Plätze mit vereinzelten und deutlich gekennzeichneten Gräbern (Ehrenmähler), die den größten Teil des Innenhofs freiließen. Dort setzte man die Armen bei, die Bestattungen in Kirche oder Beinhaus nicht bezahlen konnten. Das waren Gemeinschaftsgräber, regelrechte Senkgruben, die bis zu 1500 Leichname fassten. Mindestens eine dieser Gruben war immer geöffnet. Nach Monaten oder Jahren, wenn sie gefüllt war, schloss man sie notdürftig (Wölfe hatten darum im Winter auch keine Mühe, Leichname auszuscharen) und hob eine neue Grube aus, an der Stelle des Friedhofes, die am längsten unbenutzt war. Diese Verfahrensweise ist auf die Zeiten großer Pestepidemien zurückzuführen, die „im Zuge des demographischen Aufschwungs des 13. Jahrhunderts bereits übermäßig aufgeblähte Städte entvölkerten“ und auf Zeiten schwerer Hungersnöte, in denen man aufgrund der großen Zahl der Opfer keine einzelnen Leichname bestatten konnte. Durch gleiche Unglücke musste man sich auch neue Stätten für die Toten ausdenken, die nicht mehr neben der Kirche lagen.
Zitat von Ariès - S.77
Aber mit Rücksicht auf das, was die Stadt ein Jahr später (1555) befürchtete, dass nämlich vorherzusehen sei, dass jene, die mit der Überführung der Leiber beauftragt seien, sie in den Fluss werfen würden, um schneller mit der Arbeit fertig zu sein, ging man (mit dem Friedhof) nicht weiter vor die Stadt hinaus.
Bei der Anzahl dieser zahlreichen Massengräber verlor man hin und wieder auch die Übersicht, so dass es passieren konnte, dass man beim Neuausheben einer nächsten Grube auf noch nicht vollständig verweste Körper traf. Auch gab es das Gegenteil, es gab Erde, die durch häufig vergrabene Leichname so faul war, dass der Leichnam eines Menschen innerhalb von neun Tagen verweste. Einige Menschen wünschten sich, dort begraben zu werden.
Die Beinhäuser dienten der Zurschaustellung. Sie waren dazu bestimmt, angeschaut zu werden. An den Gebeinen der Toten sollte die Vergänglichkeit allen materiellen Seins verdeutlicht werden, wie aus einer bretonischen Hymne (gesammelt von A. Le Braz) herauszuhören ist:
Zitat von Le Braz
„Lasst uns zum Beinhaus gehen, ihr Christen, lasst uns die Gebeine unserer Brüder betrachten (…) Führen wir uns den erbarmungswürdigen Zustand vor Augen, in den sie zurückgefallen sind. (…) Ihr seht sie, zerfallen, zerbröckelt (…) Hört also ihre Lehre, hört sie gut.“
Aber es gab neben den Beinhäusern auch andere Friedhöfe im Mittelalter. Hierbei handelt es sich um riesige Freilandfriedhöfe, auf denen die Gräber allerdings weit auseinander lagen. Hin und wieder schmückten einige Kreuze die Flächen, sie sind jedoch nicht mit den dicht gedrängten Kreuzreihen unserer Zeit zu vergleichen. Kreuze waren damals Stiftungen, später Markierungszeichen.
Der Grundriss solcher Anlagen war nicht mehr geometrisch oder rechteckig wie bei den Beinhäusern, sondern eher oval, von lockerer und unregelmäßiger Form, so dass auf alten Zeichnungen nicht immer sofort erkannt werden konnte, dass es sich bei dem Objekt tatsächlich um einen Friedhof handelte.
Dazu war der Friedhof auch (wie ja auch von Oexle gleichfalls beschrieben) nicht immer nur den Toten vorbehalten, sondern diente manchmal sogar als Asyl für Flüchtlinge. Hier war es tatsächlich verboten, auf dem Friedhof Tote zu begraben. Der Friedhof diente ausschließlich dem Schutze der Lebenden, nicht der Beisetzung von Toten.
Diese Vielfältigkeit führte so weit, dass Friedhöfe zu öffentlichen Plätzen gerieten, wo sich die Gemeinde traf, Spaziergänge gemacht, geistliche und weltliche Geschäfte getätigt wurden.
Nach einer Formulierung eines Historikers der mittelalterlichen Friedhofsrechtsprechung, A. Bernard, war der Friedhof die „geräuschvollste, belebteste, turbulenteste und geschäftigste Gegend des ländlichen oder städtischen Gemeindewesens“.
Auf Friedhöfen wurde auch gelebt, wurden ganze Häuser errichtet und Menschen untergebracht, die an gleicher Stelle dann beerdigt wurden. Sie störte weder die stattfindenden Beerdigungen noch die offenen Massengräber.
Der häufige Besuch auf dem Friedhof machte die Lebenden im Allgemeinen gleichgültig und stumpfte sie ab…
Zitat von Ariès - S. 90
Die unmittelbare Nachbarschaft von Backöfen, Gräbern, in denen die Toten oberflächlich verscharrt und aus denen sie periodisch wieder exhumiert wurden (…) hat für uns Heutige etwas Überraschendes und Abstoßendes, sie hat die Anwohner vom Mittelalter bis an die Grenze der Neuzeit jedoch kalt gelassen.
Ebenso wurden dort auch Straffällige und Prostituierte einquartiert, wie man diese Fälle wiederum auch aus Mangel an Gefängnissen in Klöstern oder im Spital unterbrachte.
Zitat von Ariès - S. 88
Die Justiz nahm damals eine Mittelstellung zwischen den im eigentlichen Sinne religiösen und den profanen Aktivitäten ein. (…) Obwohl irdische Gerichtsbarkeit, stand sie doch mit der Kirche – oder eher mit dem Friedhof – in Verbindung, denn ihr Wirken vollzog sich öffentlich, unter freiem Himmel.
Auch Kranke landeten dort (man blicke auf die Leprakranken, denen in diesem Sinne der Verlust der Bürgerrechte abgesprochen wurde), Gesetze wurden verlesen, Wahlen und Gerichtsverhandlungen gleichsam in der Nähe der Toten abgehalten.
Zitat von Ariès - S. 89
Im Mittelalter, in einer Kultur des Sichtbaren und des Auges, war die Gerichtsverhandlung Spektakel, das hinter geistlichen Mauern aufgeführt wurde…
Erst nach und nach zogen sich dann die privatrechtlichen Auseinandersetzungen und Gerichtsverhandlungen in die uns bekannten Räumlichkeiten zurück, während trotzdessen alle Prozessergebnisse weiterhin öffentlich auf dem Friedhof verlesen wurden, wo sich das Volk versammelte. Auch Händler tätigten dort ihre Geschäfte, da sie vom Andrang der Kunden profitierten. Zum Beispiel waren Wallfahrtstage immer auch Markttage.
Schließlich aber verurteilten die Synoden des 15. Jahrhunderts dieses Treiben auf geweihten Stätten, wo Brot, Geflügel, Fisch, Wein und Bier feilgeboten wurde. Nur Wachs sollte angeboten werden dürfen. Erst im 16. Jahrhundert hatte diese Verurteilung hin und wieder Erfolg, dass zuweilen kirchliches Gebiet, Gerichtssitz und Marktplatz getrennt wurden.
Zitat von Ariès - S. 91
Insgesamt gesehen sind die Verbote der Konzilien wirkungslos geblieben. In Wirklichkeit hat keine theologische Erwägung, keine juristische oder moralische Autorität verhindern können, dass Kirche und Friedhof der Gemeinde als Ort der Zusammenkunft dienten, solange sie, als lebendiges Ganzes, das Bedürfnis verspürt hat, sich in regelmäßigen Abständen zu versammeln, um sich direkt selbst zu verwalten und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter Beweis zu stellen.
Manche Beinhäuser tragen heute noch den Namen der Geschäfte, die dort getätigt wurden. Unter den Geschäftstätigkeiten gab es auch die anrüchigen, zum Beispiel Schreiber, die für Bedienstete die Rechnungen fälschten und Prostituierte, die sich dort herumtrieben, um sich an den Nächstbesten zu verkaufen.
Rabelais erzählt über das damalige Paris: „Es war eine schöne Stadt, um dort zu leben, aber nicht, um dort zu sterben“, wegen der „liederlichen Frauenzimmer, Bettler und Strolche“, die dort Tag und Nacht den Friedhof unsicher machten. (Auch im 18. Jahrhundert kam diese „Mode“ wieder auf. Erneut gab es Ausschweifungen und „Spitzbuben“, die dort Asyl fanden. Kein Wunder, dass es in einigen Klassikern heißt, neben der Kirche wären die besten Stellen zu finden, wo man Unzucht treiben konnte. Auch hatten sich an diesen Stellen (Kirche, Friedhof) Schänken und Läden eingenistet.)
So erklärt sich, dass Friedhöfe als jene Marktplätze an Umfang gewannen und sich flächenmäßig ausdehnten. (Hier tritt mir sofort der berühmte Pariser Friedhof Père Lachaise vor Augen, der wie eine Stadt, mit regelrecht angeordneten Kreuzungen und (Ab)Wegen angelegt ist, so dass man, will man sich orientieren, einen Friedhofsplan zur Hilfe nehmen muss, um zu finden, wen auch immer man sucht.)
Erst mit der Entstehung des Gemeinschaftshauses und des Bürgermeisteramtes ging der volkstümliche Charakter von Kirche und Friedhof endgültig verloren. Der Grund hierfür lag „im fortschreitenden Umsichgreifen bürokratischer Formen im öffentlichen Leben und in der Verwaltung, damit im Verblassen des umfassenden Gefühls gelebter Gemeinschaft“. Der Friedhof war nur noch Promenade, das Lebensgefühl veränderte sich und tendierte zu Boulevards und anderen öffentlichen Plätzen.
Art & Vibration
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 06.06.2011 19:39von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Wie nun wurde der Tod und das Danach im Mittelalter tatsächlich empfunden?
Führt man sich die Evangelien vor Augen, könnte man annehmen, der Sünder fürchtete sich vor dem Danach. Stattdessen, obwohl schriftlich niedergelegt, nahmen die Menschen diese im Matthäus-Evangelium angekündigte Bestrafung nicht so ernst, daher herrschte auch keine Angst und der Tod wurde als Natur gegeben hingenommen.
Hierfür führt Ariès verschiedene, aus der Zeit erhaltene Ikonen und Darstellungen an. Der Mensch empfand, wie zuvor schon angedeutet, den Tod als Schlaf, bis er in Christi auferstehen würde. Daher war seine Auffassung vom Ende der Zeiten von der Apokalypse beeinflusst. Nur Verdammten war die Auferstehung nicht möglich, ihnen blieb der „verklärte Leib der Erwählten vorenthalten“.
Hier zeigt sich, dass im christlichen Abendland die erste bildliche Vorstellung vom Ende der Zeiten durchaus noch keine Vorstellung des Jüngsten Gerichts ist, wie es das Matthäus-Evangelium verkündet. Kein Mensch fürchtete sich vor Strafe oder Rechtfertigung, stattdessen hoffte man auf das ewige Leben, in das man übergehen würde, sobald man aus dem Schlaf erweckt würde. Die Menschen des frühen Mittelalters erwarteten die Wiederkehr Christi ohne Angst vor dem Gericht.
Zitat von Ariès S. 126
Wenn es ausnahmsweise einmal vorkam, dass die Grabplastik das Jüngste Gericht darstellte, so lässt sich an diesen Darstellungen ablesen, wie wenig es gefürchtet und wie sehr es immer und ausschließlich aus der Perspektive der Wiederkehr Christi und der Erweckung der Gerechten wahrgenommen wurde, die aus ihrem Schlaf erwachen, um ins himmlische Licht einzutreten.
Insbesondere die Heiligen hatten vor dem Jüngsten Gericht nichts zu befürchten. Die Verdammten dagegen schienen weniger sichtbar als die Erwählten zu sein, weil sie ihres Seins entäußert waren, da sie nicht auferstanden. In diesem Sinne kann auch eine heutige verworfene Version der Vulgata gedeutet werden:
„Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: wir werden zwar alle auferstehen, aber nicht alle verwandelt werden.“
Es gibt Abbildungen zum Thema des Jüngsten Gerichts aus dem 11. Jahrhundert auf Taufbecken (gefunden in Belgien und in Châlons-sur-Marne). Letzteres zeigt die Auferstandenen nackt aus einem Sarkophag steigen, paarweise, jeweils Mann und Frau in enger Umarmung. Das Ende der Zeiten ist also erreicht, jedoch keine Andeutung auf ein Gericht vorhanden. Das heißt, die Auffassung war: Die Getauften sind der Auferstehung und des ewigen Heils, das sie einschließt, gewiss.
Das jüdische Gebet für die Fastenzeit ist das älteste, christliche Totengebet. Schon in der Roland-Saga spricht der sterbende Roland diese Worte:
„Errette, Herr, die Seele Deines Dieners, wie Du Henoch und Elia vom allen gemeinsamen Tod errettet hast, Hiob aus seinem Leiden, Isaak aus den Händen seines Vaters Abraham, Lot aus den Flammen von Sodom, Moses aus der Hand des ägyptischen Pharao, Daniel aus der Löwengrube, die drei Jünglinge aus dem Feuerofen, Susanna vor falscher Anklage, David aus den Händen von Saul und Goliath, die heiligen Apostel Petrus und Paulus au dem Gefängnis und die heilige Jungfrau Thekka aus ihren drei schrecklichen Prüfungen.“
Dieses Gebet war damals vertraut. Deutlich wird, dass die angerufenen Gestalten keine Sünder, sondern in Prüfungen bewährte Gerechte sind. Wenn der Christ des frühen Mittelalters also in der Stunde seines Todes dieses Gebet sprach, hatte er „den triumphierenden Eingriff Gottes vor Augen, der den Prüfungen der Heiligen ein Ende setzte“.
Diese Auffassung sollte sich bald ändern, wenn auch sehr langsam und schleichend.
Das Jüngste Gericht
In der ersten Darstellung des Jüngsten Gerichts aus dem 12. Jahrhundert überlagern sich zwei Szenen, eine alte und eine gänzlich neue.
Die ältere zeigt den (allgemein häufig übergroß dargestellten) Christus der Apokalypse in seiner Glorie. Die Darstellung symbolisiert „das Ende der vom Sündenfall Adams bewirkten Zerrissenheit der Schöpfung, die Aufhebung der Besonderheiten einer interimistischen Geschichte in den unvorstellbaren Dimensionen der Transzendenz: der Glanz dieses Lichtes lässt keinen Raum mehr für die Geschichte der Menschheit, ebenso wenig für die eigene Biographie des Einzelmenschen“.
In der neuen tritt unter der traditionellen Darstellung der zweiten Thronbesteigung eine vom 25. Kap. des Matthäus-Evangeliums beeinflusste Szene in Erscheinung: das Gericht des Jüngsten Tages und die Scheidung der Gerechten von den Verfluchten.
Zitat von Ariès S. 129
Diese Aspekte bringen im Wesentlichen drei Elemente zum Ausdruck: die Auferstehung der Leiber, den Akt der Rechtssprechung und die Scheidung der Gerechten, die zum Himmel auffahren, von den Verdammten, die ins ewige Höllenfeuer hinabgestürzt werden.
Diese Entwicklung hat sich lange vollzogen, als hätten der klassischen Vorstellung vom Jüngsten Gericht etliche Widerstände entgegengearbeitet. Himmel und Hölle sind häufiger dargestellt, das Gericht spielt derweil eine ganze Weile noch eine Nebenrolle oder wird nur angedeutet.
Dann aber wechselt die Darstellung und zeigt die Szene einer „juristischen Ermittlung“ durch den Erzengel Michael, der die Waage für die Seelen hält, wie hier z. B., von Rogier van der Weyden, bei dem mir die Darstellung besonders gefällt, da sie exakt das ausdrückt, was Ariès von anderen Darstellungen berichtet.
(„Erzengel Michael wägt die Auferstandenen“ von Rogier van der Weyden,
zu sehen auf dem Altar des Jüngsten Gerichtes im Hôtel-Dieu in Frankreich)
(Hier die Gesamtansicht des Tryptichons.)
Der Erzengel Michael entscheidet, wer Gottes würdig ist, so dass der Sterbende, wenn seine Seele den Körper verlässt, sich häufig im Gebet an ihn wendete. (Man beachte bei der Gesamtansicht des Tryptichons (15. Jahrhundert) die (besorgniserregende) zentrale Stelle der Wägung.)
Jedes Leben wird nun auf die Waagschale gelegt. Paradies und Hölle nehmen den gleichen Raum ein und auffallend ist auf vielen Darstellungen, dass auch Geistliche, Mönche und Männer der Kirche vor der Hölle nicht verschont bleiben.
Die alte Gleichstellung von Gläubigen und Heiligen ist damit zunichte geworden.
Auch werden die Sünder nicht nur durch den Heiligen Michael geschieden, sondern häufig ein zweites Mal durch das Schwert des Erzengels Gabriel.
Zitat von Ariès S. 130
Im 13. Jahrhundert hat sich der Einfluss der Apokalypse abgeschwächt und es bleiben nur in die Archivolten verwiesene Reste davon übrig. Die Vorstellung des Gerichts hat sich durchgesetzt.
Daher wechselt das Bild erneut, das Urteil der Waage kann durch den Richter aufgehoben oder verändert werden. Bittsteller (in ihrer Doppelrolle als Advokat) können um Barmherzigkeit und Gnade für den Sünder bitten. Christus sitzt nun häufig von Engeln und seinem Hofstaat (die zwölf Apostel) umgeben auf dem Richterstuhl. Seinen Heiligenschein hat er eingebüßt. Er allein spricht das Urteil.
Die um Milde Bittenden sind Maria und einige Jünger Christus, zumeist handelt es sich in Abbildungen um den Evangelisten Johannes.
Die Sünden und Handlungen der Menschen werden jetzt in einem Buch verzeichnet, später (ab dem 13. Jahrhundert) wird aus dem Buch ein Register. Man begegnet dem Symbol des Buches bereits beim Propheten Daniel, so ist es seit langem bekannt. Es wird in vielen Darstellungen als signatur liber vitae bezeichnet und enthält die Bewohner der terra viventium, das heißt, die, die berechtigt sind, ins Paradies einzugehen. Später wird das Buch nicht mehr die Auserwählten enthalten, sondern nur noch die Verdammten.
Und ein Buch wird aufgeschlagen,
Treu darin ist eingetragen
Jede Schuld aus Erdentagen.
Zitat von Ariès S. 133
Die Handlungen eines jeden Menschen verlieren sich nicht mehr im grenzenlosen Raum der Transzendenz oder – wenn man so will – im kollektiven Geschick der Gattung. Sie werden jetzt individualisiert. Das Leben wird jetzt nicht mehr nur als Hauch (anima, spiritus), als Vermögen (virtus) aufgefasst. Es setzt sich aus einer Summe von Gedanken, Handlungen und Worten zusammen.
Das Buch ist also zugleich Geschichte eines Menschen, damit seine Biographie, und die Auflistung als getrennte Spalten in gute und schlechte Taten. Deshalb hat das Buch seinen Platz unter den Symbolen des sittlichen Lebens bis ins 18. Jahrhundert behalten, während die Waage an Gehalt in den Darstellungen verliert.
Ariès verweist auf ein Gemälde von Jacopo Alberegno aus der Mitte des 14. Jahrhundert, das Christus mit dem aufgeschlagenen Buch auf den Knien zeigt, während unterhalb die Seelen als Skelette dargestellt sind.
(J.Alberegno, „Das Jüngste Gericht“)
Und man merkt:
Zitat von Ariès S. 134
Jede dieser Seelen hält ihr eigenes Buch in Händen und bringt in ihren Gesten die Bestürzung zum Ausdruck, die seine Lektüre vermittelt hat.
Gegen Ende des Mittelalters wird das Buch von demjenigen gehalten, der daraus Nutzen zieht, ... der Teufel, der sicher ist, dass das Böse den Sieg davon trägt. Er schwenkt das Buch mit Vehemenz, um seinen Teil einzuklagen.
Ab dem 17. Jahrhundert wird ihm das Buch wieder aus der Hand genommen. Stattdessen verfügt der Mensch nun über zwei Bücher, eines, das seine guten Taten enthält und von seinem Schutzengel (Michael), ein anderes, das vom Teufel geführt wird. Gehandelt wird dann wie folgt:
Beim erbärmlichen Tod lässt der betrübte Schutzengel sein Buch fallen, womit alle guten Werke ausgelöscht werden, da das Gute, das er getan hat, für den Himmel nicht zählt. Der Teufel hebt sein Buch, das die ganze Geschichte des unglücklichen Lebens zusammenfasst.
Beim heilsamen Tod verkehrt sich das Schauspiel: Der Schutzengel hält das Buch hoch und weist auf die Tugenden, guten Werke, Fasttage, Gebete usw. und der Teufel zieht sich mit seinem Buch zurück, da die Sünden durch aufrichtige Bußfertigkeit getilgt worden sind.
Der individuelle Tod
Schließlich ersetzt der individuelle Tod das Jüngste Gericht und der Mensch gerät zu seinem eigenen Richter, wobei er beim Sterben ein Spiel spielt, das er gewinnen muss, um nicht in die ewige Verdammnis der Hölle zu geraten. Hier entfaltet sich allmählich die Angst vor dem Danach. Was vorher mit Asche und Staub gleichgesetzt wurde, war nun das Makabre, was im Mittelalter nichts anderes bedeutete, als der Prozess der Verwesung und dessen ausführliche Darstellung in Literatur und Kunst.
Zitat von Ariès S. 148
Es ist übrigens nicht überraschend, das man ungefähr im 14. Jahrhundert dem Leichnam, dem „toten Körper“ (das Wort „Kadaver“ war noch nicht gebräuchlich) den Namen der Heiligen Makkabäer beilegte; sie waren seit langem als Schutzheilige der Toten verehrt worden, weil sie, zu Recht oder Unrecht, als Begründer der Totenfürbitten in hohem Ansehen standen.
Der tote Körper als Aas wurde sich mit aller Deutlichkeit vorgestellt, sowohl in Kunst als auch Literatur, wie es z. B. der Dichter Pierre de Nesson verstand, ins Wort zu fassen:
Und wenn du hinscheidest,
So wird, vom Tage deines Todes an,
Dein ekles Fleisch
Einen abscheulichen Gestank zu verbreiten beginnen.
Kein Wunder, dass die Furcht vor solchen Vorgängen erwachte, die zwar nur die Leiche selbst umgaben, jedoch erst hier richtig sichtbar gemacht wurden. Der Zerfall des Körpers fiel auch häufig mit den Warnungen vor dem Geschlechtsakt zusammen:
O sehr schmutzige Empfängnis,
O Elend, von Durchseuchung genährt
Im Bauche vor deiner Geburt.
Man suchte damals den Tod in den Tiefen des Lebens selbst. In Pisa noch sieht man ihn als lebendige Frau, unter deren Sense die Menschen sterben und ihre Seelen aushauchen, die wiederum von Engeln und Teufeln eingesammelt werden. Der letzte Atemzug ist das, was für die Menschen des 14. Jahrhunderts der Tod bedeutet. Endgültig abgelöst sind die Auferstehungsszenen und das Jüngste Gericht.
Die Darstellung neben dem universellen Tod sind zum Beispiel von Reitern umgebene drei Särge, in denen die Toten in verschiedenen Verwesungszuständen liegen, mit aufgeblähtem Bauch, mit Fleischresten und als Skelett. Auch tritt als eine kurze Erscheinungsform der „Erstarrte“ in der Grabplastik auf, als die Personifizierung des Todes. Der Ort des Todes wird in Motiven vom Sterbebett auf den Friedhof verlegt und der Tod wird Totentanz.
Zitat von Ariès S. 149
Der Totentanz ist ein tendenziell endloser Rundtanz, in dem sich jeweils ein Toter und ein Lebender abwechseln. Die Toten führen den Reigen an und sind die einzigen, die tanzen. Jedes Paar setzt sich aus einem nackten, entfleischten, geschlechteslosen und wilden Gerippe und einem je nach seinem gesellschaftlichen Stand gekleideten und gänzlich verblüfften Mann (später auch eine Frau) zusammen. Der Tod reicht seine Hand dem Lebenden, den er sich ausersehen hat, der ihm aber noch nicht Folge leistet. Die Kunstwirkung besteht im Kontrast zwischen der rhythmischen Wildheit der Toten und der Gelähmtheit der Lebenden. Der moralisch-erzieherische Zweck ist der, die Ungewissheit der Todesstunde und die Gleichheit der Menschen angesichts des Todes vor Augen zu führen.
In den vor dem 16. Jahrhundert entstehenden Bildern von Tanz, Mensch und Tod fällt auf, dass die Begegnung noch nicht gewaltsam ist, sondern nahezu sanft: Die Hand muss ich auf euch legen. Der Tod bezeichnet den Lebenden eher, als dass er blind zuschlägt:
Kommt nahe herbei, ich erwarte euch…
Noch heute nacht müsst ihr davongehen…
Auf morgen seid ihr vorgeladen…
Er lädt sein künftiges Opfer ein, ihn zu betrachten, und sein Anblick dient als Mahnung.
Die darauf folgenden Allegorien und Motive (z. B. die sehr bekannten Ausdrucksformen von Breughel) stellen den Tod auf seinem Karren da. Er ist hier die Gestalt des blind zuschlagenden Schicksals, im offensichtlichen Gegensatz zum individuellen Tod, zum Tod im Sterbebett oder zu den Totentänzen. Doch trotzdem ist diese Allegorie vom ursprünglichen und traditionellen Gedanken „Wir sterben alle!“ weiter entfernt als z. B. die Totentänze. Davor war der Mensch mit dem ihm bevorstehenden Tod vertraut und hatte Zeit, sich darein zu fügen. Nun aber lässt der Tod keine Vorahnung mehr zu:
Ich spieße und steche, wen ich weiß, woran ich bin,
Ohne Vorwarnung alle, die lange genug gelebt haben.
Der Karren ist das schwerfällige Fahrzeug (der Triumph des Todes), das die Lebenden hinstreckt und überfährt, die nichts geahnt haben. Auch fehlt diesen Darstellungen die Ironie der Motive vom Totentanz. Ganz im Gegenteil soll darauf hingewiesen werden, wie absurd und widernatürlich der Tod ist: Der Tod des Triumphes schreitet starr geradeaus, wie ein Blinder.
Ariès warnt davor, nicht vorschnell zu urteilen, will man die Epoche des Makaberen samt der traumatisierten Sensibilität des 15. Jahrhunderts ausschließlich auf die zahlreichen Pestepidemien zurückführen, warum der Kadaver so sehr in den Vordergrund gerückt ist. Viel eher fand ein Nebeneinander der Entwicklung statt. Hier schreibt der Historiker J. Heers:
So hat ein exzessives Vertrauen in manche Zeugnisse und Zeugen der Zeit – Kirchenmänner, die, häufig wenig geübt, die Zeichen entziffern, vielmehr auf ganz natürliche Weise geneigt waren, die Verluste und Nöte zu übertreiben und ein deformiertes und romanhaftes Bild zu entwerfen und die Prüfungen einer Menschheit zu beklagen, die sie vom Zorn Gottes heimgesucht sahen – dazu beigetragen, eine Art schwarzer Legende ihrer Zeit zu beglaubigen.
Vielmehr wurden die an den Kadavern entstellten Züge der äußeren Erscheinung nicht reproduziert, um Angst einzuflößen, sondern dienten als realistische Momentaufnahme, als lebenswahre Realität.
Zitat von Ariès S. 165
So bediente man sich auf dem Höhepunkt der makabren Epoche des Todes nur, um die Illusion des Lebens – im Verein mit der der Ähnlichkeit – zu erwecken. So als gäbe es zwei säuberlich getrennte Bereiche, einerseits den der makabren Effekte, mittels derer der Tod Angst einflößte, andererseits den der Porträts, in denen er seinen täuschenden Zauber entfaltete.
Die makabre Kunst machte also das sichtbar, was nicht wahrnehmbar war und sich im Verborgenen abspielte: die schleichende Verwesung. Sie ist damit kein Resultat der Beobachtung, so erklärt Ariès, sondern Produkt der Imagination.
Art & Vibration
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 06.06.2011 20:14von Roquairol • 1.072 Beiträge
Vielen Dank für diese interessanten Beiträge, liebe Taxine.
Mir fällt dazu ein, dass einige meiner eigenen Vorfahren um 1750 Mitglieder einer sogenannten "Todesangst-Bruderschaft" waren.
Leider fehlen Quellen, die darüber Aufschluss geben könnten, was die da genau gemacht haben. Ich vermute, es ging vor allem darum, nach dem Tod eines Mitgliedes durch Messen und Gebete für dessen Seelenheil zu sorgen.
Aber der Name "Todesangst-Bruderschaft" ist schon sehr eindrucksvoll ...
Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
Facebook: http://www.facebook.com/people/Klaus-Mendler/1414151458
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 06.06.2011 22:04von LX.C • 2.821 Beiträge
Ja, der Tod war einmal etwas ganz Normales. Im Mittelalter kannte man keine Furcht davor. (Sagt die Wissenschaft heute, doch wer kann schon in die Köpfe gucken.) Im 18. Jahrhundert aber erreichte die Angst vor dem Tod und vor allem, lebendig begraben zu werden, ihren vorläufigen Höhepunkt. Vielleicht kommt das daher? Auf jeden Fall ganz bezeichnend für die Zeit, diese Bruderschaft.
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RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 08.06.2011 01:05von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Roquairol
Mir fällt dazu ein, dass einige meiner eigenen Vorfahren um 1750 Mitglieder einer sogenannten "Todesangst-Bruderschaft" waren.
Dann entstammst du also katholischen Wurzeln?
Dieser Wiki-Link könnte von der Zeit doch zutreffen und trifft wiederum auch genau das momentan behandelte Thema von Ariès, da diese Bruderschaft, wie auch viele Orden und Klöster der damaligen Zeit, das Ziel hatte, für einen gnädigen Tod für sich und seine Mitbrüder zu beten. Daraus wurde später ein richtiger Handel für das eigene Seelenheil betrieben (siehe unten).
Aber zunächst noch einmal ein Stück zurück:
Durch die Angst vor dem Tode entwickelten sich zwei vorherrschende Reaktionen. Mystiker wie Suso (hat jemand etwas von ihm gelesen?) oder Prediger wie der Heilige Vincent Ferrier fühlten sich dazu getrieben, sich in der Kontemplation der Verwesung und der physischen Vernichtung zu verlieren. Sie versetzten sich in eine spirituelle Verfassung, die ihnen am geeignetsten erschien, um den Lockungen des Lebens zu widerstehen. Die anderen, Dichter wie z. B. Petrarca, zogen aus dem bedrohlichen Tod den Schluss, dass das Leben besungen und geliebt werden muss. Durch diese sich verbreitenden Auffassungen verschwand das Makabre aus der Kunst wieder. Die Humanisten des 15. Jahrhunderts ersetzten die makabren Zeichen durch eine Art innerer Präsenz des Todes: sie fühlten sich jederzeit im Begriff zu sterben und damit dem Tode nahe.
Und auch die Christen reagierten auf diese Entwicklung. Sie erkannten ihre eigene Sterblichkeit und verloren darüber ihren Glauben an das ewige Leben. Viel wichtiger als die Ewigkeit wurde nun das jetzige Dasein. Starb jemand, musste er sich von seinen geliebten Angehörigen wie auch von seinem Besitz lösen, während beide Neigungen als Abwendung gegen Gott verstanden wurden und damit sündhaft waren. Das führte darauf hinaus, dass der Besitz wichtig wurde, so dass auch in der Kunst ähnliche Motive aufkamen. Bei Hieronymus Bosch findet man den Teufel, der dem Sterbenden einen riesigen Sack mit Talern reicht, damit dieser nicht ohne seinen Besitz hinübergeht und sich damit für die Hölle bereit macht, oder doch zumindest für das Fegefeuer.
Ariès sagt klipp und klar, dass die Menschen nie wieder eine solche Liebe zum Leben an den Tag legten wie gegen Ende des Mittelalters.
Zitat von Ariès S. 171
Die Liebe zum Leben hat sich durch eine leidenschaftliche Anklammerung an die Dinge dieser Welt zum Ausdruck gebracht – eine Anklammerung, die der Vernichtung im Tode widerstand und die Auffassung der Welt und der Natur verändert hat.
Daraus erwuchs eine neue Kunstrichtung, die nach und nach aus dem Symbol ins Realistische fand. Hierbei handelt es sich um das Stillleben, darauf in liebevoller Detailarbeit das abzubilden, was Ding, was Besitz, was ohne Leben ist, sich nicht regt. So kunstvoll uns die Gemälde der z. B. größten Meister in dieser Richtung, der alten Holländer, heute erscheinen, so sehr drückten sie früher den reinen Materialismus aus. Goldbecher, Kristall, glänzende Früchte, die fünf Sinne und das schillernde Federkleid toter Vögel, alles Zeichen der satten Erstarrung einer Bewunderung, der Lebensfreude, der weltlichen Versuchungen. All das waren Gegenstände als Sinnbild für den angesammelten Reichtum, den der Mensch nicht mehr loslassen bzw. beim Sterben hinter sich lassen wollte und darum umso intensiver verehrte, während sich dieser Wandel immer gewaltiger vollzog, bis in der heutigen Industriegesellschaft das Ding keine Seele mehr besitzt, kein Mensch mehr mit „ganzer Seele“ daran hängt. Die Dinge sind nur noch Produktionsmittel, Objekte des Konsums.
Das erste Stillleben seit der Antike, das „unabhängig und ohne jeden symbolischen religiösen Charakter“ ist, wäre die Tür eines Arzneischranks, schreibt Ariès. Ich weiß nicht genau, ob er das Fresko von Taddeo Gaddi meint, denn er nennt keinen Namen. Das wäre dann dieses hier:
Nische mit Paterne, Pyxis und Ampullen, 1328-30, Fresko
Barbaris war (laut Wikipedia) wiederum der Erste, der ein Stillleben zum alleinigen Motiv erhob und so ein neues Genre begründete (der wird bei Ariès allerdings nicht erwähnt). Hier wird der Trompe-l’œil Effekt, der auch bei Gaddi schon vorhanden ist, wenn auch sehr naiv, viel sichtbarer.
Jacopo de Barbaris „Stillleben mit Rebhuhn und Eisenhandschuhen“/1504
Soweit die kleine Abweichung. (Über Stillleben könnte man unten auch einmal einen schönen Ordner eröffnen. )
Die Trauer um die Toten
Ariès umreißt auch die damaligen Reaktionen der Lebenden, die um die Toten trauern. Im frühen Mittelalter starb der Zurückgebliebene sozusagen vor Schmerz. Die Trauer war dabei fast schon übertriebene Klage bishin zur männlichen Ohnmacht (siehe Rolandlied oder Tafelrunde) und wochenlangem und öffentlich geduldetem Rückzug vor der Welt.
Im Hochmittelalter war es nicht mehr üblich, die Selbstkontrolle beim Beweinen der Toten zu verlieren. Während höchstens in Spanien die traditionelle Äußerung ungezähmter Trauer fortbestand (14. und 15 Jahrhundert), hat sie sich in der Regel wieder normalisiert. Stattdessen gab es das Ritual, berufliche Klageweiber heranzuholen, um den Schein der tiefen Trauer weiterhin zu wahren, mit wenigen Ausnahmen:
Desgleichen verlange ich,
Dass, mich zu beweinen, keine Klageweiber bestellt werden.
Die Tränen meiner Chimena genügen mir,
Ohne zusätzlich erkaufte.
(zitiert aus dem Romancero del Cid)
Jene Geliebte und Gattin reagiert darauf recht kühl, fällt aber, wie es sich gehört, gegen Ende ihrer langen Tiraden in Ohnmacht.
Die sozialen Konventionen tendierten immer mehr zu Würde und Selbstkontrolle, sowohl am Grab als auch gegenüber der Sterbenden. Die Klage über den Tod galt bald als ebenso sündig wie das Betrauern materieller Güter, weil beides, geliebter Mensch und Ding, trotz allem vergänglich waren. Hierbei legte man eine Haltung an den Tag, die sich mit der Vorstellung tröstete, dass die Seele unsterblich war und der Leib wiederauferstehen würde.
Die sich allmählich entwickelnde Angst vor der ewigen Verdammnis wirkte sich (erste Hinweise darauf sind im 8. Jahrhundert verzeichnet) so verheerend aus, dass dem Grauen Abhilfe geschafft werden musste. Die Menschen sollten nun daran glauben, dass der Tod nicht sofort in Himmel oder Hölle führte und dass Gebete der Zurückgebliebenen dem sündigen Toten helfen konnten, dass sogar, obwohl das Leben nicht im kirchlich rechten Sinne geführt, trotzdem die Aussicht auf das Paradies bestand. Um diese Möglichkeit allerdings zu gewährleisten, bedurfte es eines neuen Zwischenraums zwischen Himmel und Hölle, das Fegefeuer. Hier harrten die Seelen aus, dämmerten vor sich hin oder waren ruhelos irrende Schatten, und die Gebete der Gläubigen sollten die göttliche Barmherzigkeit bewegen, die Himmelspforten doch noch zu öffnen, damit der Sünder dem ewigen Tod durch seine Buße entrinnen konnte. Das Feuer wurde dabei nicht als Tortur verstanden, sondern eher als Reinigung.
Zitat von Ariès S. 197
Man konnte die Fürbitte der Lebenden für die Toten nur gutheißen und ihr vertrauen, wenn die Verstorbenen nicht unverzüglich den Höllenqualen augesetzt wurden. Also räumte man ein – und Gregor der Große scheint bei der Entwicklung dieses Gedankens maßgeblich beteiligt gewesen zu sein -, dass die non valde mali, die nicht ganz Bösen, und die non valde boni, die nicht vollkommen Guten, nach dem Tode einem Feuer überantwortet würden, das nicht das der ewigen Marter, sondern das der purgatio war: daher die Vorstellung und das Wort purgatorium.
Auch erschienen die Toten des Purgatoriums häufig in den Träumen der Lebenden, so Ariès, um ihnen Messen und Gebete abzuverlangen.
Die Vorstellung eines Zwischenreiches hat sich in der Praxis der lateinischen Christenheit durchgesetzt – ohne dass es ihr jedoch vor dem 17. Jahrhundert gelungen wäre, das Bild des Jenseits zu stützen.
Zitat von Ariès S. 198
Dieser Wandel muss von einem ursprünglichen Glauben an eine glückselige Zeit des Harrens vor dem Eingang ins Paradies am Tage des Jüngsten Gerichts begünstigt worden sein…
Die Fürbitte für die Toten verkam ihrerseits zu einem Geschäft an Bittstellern, die sich dadurch ihr eigenes geistiges Heil sichern wollten. Unter den Kirchen und Klöstern gab es seit dem 8. Jahrhundert einen regen Austausch von Totenregistern, die dann vorgelesen wurden. Die Äbte überboten sich gegenseitig und verpflichteten sich zu Messen, in denen die Namen der Toten nur so heruntergeleiert wurden. Ein regelrechter Totenkult machte sich breit, und der Tod wurde klerikalisiert.
Auch spannend finde ich, dass damals die Trauerkleidung nicht schwarz war. Man kennt das weiße Leichentuch, in das der Tote gehüllt wurde, manch einer schaffte es sogar, im goldbestickten Tuch begraben zu werden. Auch zu der Beerdigung brachte man, wie wir heute Blumen, Stoffe und Kerzen mit und kleidete sich in seine prächtigsten Gewänder in allen Farben, die zu Ehren der Toten angelegt wurden. Nur in Spanien trug man Schwarz und bald folgten erste Trauerkleidungen in dieser Farbe in England und Frankreich, wobei man sich hin und wieder (z. B. 1400) entschuldigte, ein so einfaches Gewand angelegt zu haben.
Im 16. Jahrhundert war die Trauerfarbe Schwarz sehr verbreitet, galt jedoch nicht verbindlich für Könige oder Würdenträger der Kirche.
Sie hatte zwei Bedeutungen, bezeichnete das düstere Wesen des Todes (wie es sich auch bei der makabren Ikonographie durchgesetzt hatte) und die ältere Ritualisierung der Trauer. Die schwarze Trauerkleidung bringt die Trauer zum Ausdruck und entbindet dabei von persönlicheren und dramatischen Gebärdesprachen, wie z. B. einer übertriebenen Klage.
Im Umkreis der Toten bleibt also kein Raum mehr für die großen und langwierigen Wehklagen. Die Hauptrollen fallen künftig, wie bereits oben erwähnt, den Priestern zu, z. B. Bettelmönchen oder Bruderschaften (ha... siehste, Roq...) – d. h. „den neuen Todesspezialisten.“
Zitat von Ariès S. 212
Von seinem letzten Seufzer an gehört der Tote weder seinen Standesgenossen oder Gefährten noch seiner Familie, sondern der Kirche.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 08.06.2011 09:01von Roquairol • 1.072 Beiträge
Zitat von Taxine
Dieser Wiki-Link könnte von der Zeit doch zutreffen
Hey, ja, das müssen die sein - cool, danke!
Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
Facebook: http://www.facebook.com/people/Klaus-Mendler/1414151458
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 08.06.2011 18:30von LX.C • 2.821 Beiträge
Zitat von Taxine
Im Umkreis der Toten bleibt also kein Raum mehr für die großen und langwierigen Wehklagen. Die Hauptrollen fallen künftig, wie bereits oben erwähnt, den Priestern zu, z. B. Bettelmönchen oder Bruderschaften (ha... siehste, Roq...) – d. h. „den neuen Todesspezialisten.“
Im Mittelalter waren die Bruderschaften noch Teil der gewerblichen Zünfte und hatten neben spirituellen vor allem organisatorische Aufgaben:
"Die Bruderschaft, die in späteren Statuten 'Seelenzunft' genannt wird. Sie übernimmt kirchliche Dienste und Pflichten, richtet die Begräbnisse aus und begeht die Jahrtage (Jahrzeiten); sie dient der Erlangung kirchlicher Gnaden. Die Seelenzunft besitzt zwar eine eigene Kasse, wird aber von der (gewerblichen) Zunftregentschaft geleitet."
(Isenmann, Eberhard: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter, Ulmer, Stuttgart 1988, S. 308.)
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RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 09.06.2011 16:41von LX.C • 2.821 Beiträge
Zitat von Taxine
Im Hochmittelalter war es nicht mehr üblich, die Selbstkontrolle beim Beweinen der Toten zu verlieren. Während höchstens in Spanien die traditionelle Äußerung ungezähmter Trauer fortbestand (14. und 15 Jahrhundert), hat sie sich in der Regel wieder normalisiert. Stattdessen gab es das Ritual, berufliche Klageweiber heranzuholen, um den Schein der tiefen Trauer weiterhin zu wahren, mit wenigen Ausnahmen
Den Ritus mit den Klageweibern bringt Norbert Ohler 1990 in: "Sterben und Tod im Mittelalter" gerade im Bezug auf Spanien an. Er schreibt außerdem zur Selbstkontrolle, dass innerhalb der Kirche die heftige Trauer verpönt war, da der Tod als Eingang zum eigentlichen Leben ein Grund zur Freude zu sein hatte.
Ohler betont aber, dass der Normalfall seit dem frühen Mittelalter die tiefe, ausdrucksstarke, emphatische Trauer der Angehörigen war, die ihren Gefühlen freien lauf ließen:
"Da sogar biblische Vorbilder und heilige über Tote geweint hatten, durften das Menschen seiner Zeit auch. Niemand musste seinen Schmerz verinnerlichen; bis ins 19. jahrhundert bekundeten Frauen und Männer hör- und sichtbar ihre Trauer. Mittelalterliche Quellen sprechen von Seufzen und Klagen, Schluchzen und Weinen. Wie Werke der biblischen Künste zeigen, äußerte sich Trauer in Worten und Gesten, die eine (Zer)Störung der Ordnung spiegelten: Man weinte, rang die Hände, zerriß die Kleider, zerkratzte Wangen und Brust; Frauen lösten ihr Haar, Männer verhüllten das Haupt, ließen Haare und Bart wachsen." (Ohler 1990: 127)
Zur Kleiderordnung schreibt Ohler, dass man Kleider in bleichen Farben anlegte oder in schwarz. Bleiche Farben nicht etwa weil sie fröhlicher gewesen wären, sondern weil sie den Gebeinen der Verstorbenen glichen und weil schwarze Kleider teuer waren. Die setzen sich seit dem Spätmittelalter durch. Das sieht man auch auf Bildern des Spätmittelalters. Immer wieder tragen die Trauernden, nur die Trauernden, nicht der Klerus, schwarze Gewänder. Als Zeichen der Trauer verhüllte man das Gesicht.
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RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 09.06.2011 20:03von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Vielen Dank für die Zitate und Rückreflektionen, LX.C.
Zitat von LX.C
Er schreibt außerdem zur Selbstkontrolle, dass innerhalb der Kirche die heftige Trauer verpönt war, da der Tod als Eingang zum eigentlichen Leben ein Grund zur Freude zu sein hatte.
Ja, aber hin und wieder und zu bestimmten Zeitpunkten haben die Forderungen der Kirche wiederum kaum Eindruck auf die Leute gemacht. Das zeigt Ariès auch so schön an einem Brief von Salutati auf, der seinen Sohn verliert und von seinem Freund gemahnt werden muss, sich in seiner Trauer nicht so gehen zu lassen und sich stattdessen dem göttlichen Willen zu fügen. Salutati erklärt daraufhin, dass selbst wenn die Seele unsterblich ist und der Leib wieder aufersteht, "diese harmonische Mischung, die Pietro zu seinem Sohn macht, für immer zerstört ist".
Da die Vorstellung an den Tod schon unerträglich war, so wurde es nach und nach auch der Anblick der Toten, dessen Angesicht man zu verhüllen begann, sofort in ein Leichentuch einnähte, außer in den mediterranen Ländern, wo das Gesicht des Toten weiter unverhüllt blieb. Weiterhin bettete man den Toten in einen Holzschrein oder Sarg, während er zuvor in einer Art Sarkophag lag und aufgebart wurde, damit die Menschen Abschied nehmen konnten.
Diese Verhüllung des Toten war keine Sehnsucht nach Anonymität. Es wurden sogar Holz- und Wachsfiguren auf dem Sarg mitgeführt und zur Schau gestellt. Diese Statuen des Toten nannten sich représentation, und durch sie entstand eine neue Tradition, das Abnehmen der Totenmaske, da die Bildhauer für diese Statuen versuchten, die genaueste Ähnlichkeit von dem Verstorbenen zu erzielen, die sie dank der Masken erhielten. Die Statuen wurden bald zu einfachen Totenmasken. (15. Jahrhundert)
Zur damaligen Zeit handhabte man diesen Brauch hauptsächlich bei Reichen und insbesondere Heiligen, deren Maske aus Wachs bestand, wobei man auf die Illusion der Unverweslichkeit solcher beinahe wie lebendig erscheinenden Statuen hoffte. Die Särge der normal sterblichen Bevölkerung schmückten eher keine Statuen.
Zitat von Aries S. 220
Die Weigerung, den Leichnam zu betrachten, war nicht Ablehnung der physischen Individualität, sondern Ausdruck des Widerstrebens angesichts des fleischlichen Todes des Leibes – ein sonderlicher Abscheu in der Hochblüte einer makabren Epoche, die sich an Bildern körperlicher Verwesung nicht genug tun konnte! Ein Beweis dafür, dass die Kunst zuweilen zeigen darf, was der Mensch in der Realität nicht wahrzunehmen bereit ist.
Hier ist noch einmal eine Version der makabren Kunstepoche. Zum Beispiel, der Totentanz:
Michael Wolgemut 1493 " Tanz der Gerippe".
Alfred Rethel (1851): "Der Tod als Erwürger. Erstes Auftreten der Cholera auf einem Maskenball in Paris 1831".
Das ist übrigens auch eine Version des Totentanzes, die gelungen ist, wie ich finde.
Sie stammt von dem deutschen Maler Max Slevogt (1896)
(Vom Totentanz gibt es natürlich etliche Motive, dagegen würde ich gerne einige Darstellungen der makabren Epoche finden, um zu sehen, wie der Aas- und Verwesungsvorgang dargestellt wurde, von dem Ariès berichtet. Leider habe ich dazu nicht viel im Netz gefunden.)
Hier noch einmal eine Reihe eines meiner Lieblingsmaler, Lovis Corinth, der den Tod und Totentanz mehrfach in Radierungen und Zeichnungen festhielt:
(Ausführlicher natürlich an dieser Stelle!)
Nicht nur der Tote wurde in der Betrachtung unangenehm, sondern bald weckte auch der Sarg Abscheu – er musste seinerseits verhüllt und unkenntlich gemacht werden. Während des Geleits wurde er – wie früher der Leichnam selbst – mit einem Tuch verhüllt, dem pallium oder poêle (Bahrtuch). Das Antlitz des Verstorbenen wurde unter einem Leichentuch verborgen, das Leichtuch im Sarg und der Sarg unter einem Katafalk (13. und 14. Jahrhundert).
Die Beerdigung wurde also eine Sache der Kirche. Die Menschen hofften, sich durch Stiftungen abzusichern, dass ihnen, wie in ihren Testamenten festgelegt, Messen gelesen wurden. Auch gingen mit diesen Hoffnungen und Stiftungen Spenden und Schenkungen an Klöster, an Krankenhäuser, Arme und Kinder. Und auch daraus wurde ein Geschäft.
Zitat von Aries S. 233
Vom 13. bzw. 14. Jahrhundert an – und bis ins 18. – waren die Testatare von der Angst besessen, dass der Klerus, die Kirchenvorsteher und die Empfänger ihrer Schenkungen sich ihrer Verpflichtungen nicht peinlich genau entledigen würden. Deshalb machten sie die Vertragsbedingungen, die Stiftungen, die sie ausgesetzt hatten, und die genaue Aufstellung der ihnen dafür zukommenden Messen, Gottesdienste und Gebete durch Anschlag in der Kirche öffentlich bekannt.
Man verlangte also dazu noch Schilder, die für jeden sichtbar an den gestifteten Orten und Kapellen angebracht wurden. 1000 Messen pro Tag waren keine Seltenheit, die per Testament gefordert wurden, und da noch eine Vorstellung von der Ewigkeit vorhanden war, ging man davon aus, dass täglich bis in alle Zeit für die Verstorbenen Messen gelesen wurden.
Andererseits hatte diese neue Großzügigkeit, wie schon angedeutet, auch ihren Vorteil und kam besonders den Hilfsbedürftigen zugute:
Zitat von Aries S. 234
In diesen Stiftungen vergegenständlichte sich (…) ein beträchtliches Kapital, das aus dem ökonomischen Kreislauf abgezogen und für das Heil der Seelen aufgewendet wurde, zu Verewigung des Andenkens ebenso wie für Mildtätigkeit und Beistand. Sie sicherten, mehr schlecht als recht, eine Art Sozialhilfe, die heute vollständig an den Staat übergegangen ist.
Diese Tradition und Praxis bleibt vom 12. Jahrhundert bis in das 18. nahezu konstant. Im 12. Jahrhundert war die verschwenderische Freigiebigkeit der Stifter allerdings wesentlich größer, im 17. Jahrhundert wird bereits vernünftiger gehandelt und eher an die Erben gedacht.
Nun zu den Bruderschaften. Diese entstanden ebenfalls durch die Veränderungen im Umgang mit dem Tod, der von da an in der Kirche zelebriert wurde. Die Bruderschaften des 14. bis 18. Jahrhunderts unterschieden sich von den Dritten Orden oder den Klostervereinigungen, unterschieden sich auch von den Zunft-Bruderschaften und den Verwaltungsbürokratien.
Die Bruderschaft widmete sich den Werken der Barmherzigkeit nach dem Matthäus-Evangelium. Sie sind Gesellschaften, die auf dem freiwilligen Zusammenschluss von Laien beruhen.
Zitat von Aries S. 237
Die Werke der Barmherzigkeit waren, nach dem Wortlaut des Matthäus-Evangeliums, sechs an der Zahl. Sie werden nun aber in den bildlichen Darstellungen der Bruderschaften vom Ende des Mittelalters um ein siebentes erweitert, das den Menschen sehr am Herzen liegen musste, wenn es denn schon Eingang in den Heiligen Text fand: mortuus sepellitur. Die Toten zu bestatten – das hat den gleichen geachteten Grad von Mildtätigkeit erreicht wie die Hungrigen zu speisen, die Durstigen zu erquicken, die Frierenden zu kleiden, die Pilger zu beherbergen und die Kranken und Gefangenen zu besuchen.
Die Bruderschaft steht für drei Bedürfnisse ein.
1) Das Bedürfnis für die Garantien fürs Jenseits. Das heißt, wie auch bei der Bruderschaft der Todesangst üblich, dass die Verstorbenen sich der Gebete ihrer Mitbrüder sicher sein konnten. Die Bruderschaften hatten ihre eigenen Kapellen und Bahrtücher.
2) Der Beistand für die Armen, die durch ihre Mittellosigkeit keine Möglichkeit hatten, sich Fürsprecher gewogen zu machen oder Messen lesen zu lassen.
„Die Sensibilität der Zeit empört sich kaum angesichts der ungeheuren Zahl von Seuchenopfern; aber sie lässt es nicht zu, dass die Toten ohne Fürbittegebet ihrem Los überlassen werden. In den ländlichen Gemeinden durften selbst die Armen der Anwesenheit ihrer Freunde und Nachbarn bei ihrem Totengeleit, sehr altem Brauch und Herkommen gemäß, völlig sicher sein. In den Städten aber, deren Aufschwung im Hochmittelalter derart ungestüm verlief, verfügte der Arme oder Alleinstehende (und das ging Hand in Hand) in den Todesliturgien nicht mehr über die Solidarität seiner Gruppe, die auf dem Lande intakt blieb, noch gar über den neuen Teilnehmerkreis der beruflichen Spender von Ablass und Anerkennung verdienstlicher Werke – Priester, Mönche und Arme der Pfarrgemeinde (…) Er wurde dort verscharrt, wo er starb, nicht einmal immer in kirchlicher Erde, wenigstens nicht vor dem 16. Jahrhundert. Deshalb belasteten sich die Bruderschaften mit der Aufgabe, ihn mit ihren Gebeten zu Grabe zu tragen.“
Es gab auch Bruderschaften (z. B. in Frankreich, die Bruderschaft vom Heiligen Abendmahl), die sich nicht nur um die Bestattung der Armen kümmerte, sondern auch Hilfe und Beistand im Augenblick des Todes leisteten.
3) Das Bedürfnis nach Ausrichtung der Leichenbegängnisse der Pfarre. Ihnen wurde das Geleit übertragen, was eine öffentliche Funktion bedeutete.
So sind Bruderschaften sehr rasch zu Institutionen des Todes geworden – und es auch sehr lange geblieben.
Ihre Entwicklung steht im 14. Jahrhundert mit den Veränderungen in Zusammenhang, die den Leichenbegängnissen und Seelenmessen damals den Charakter religiöser Feierlichkeiten und kirchlicher Ereignisse verleihen.
Die Laien nahmen inmitten der kirchlichen Rituale eine immer größere Rolle ein. Früher noch war der Abstand zu groß, alleine durch die Schriftkultur, die der Kloster- und Kirchengemeinde oblag. Ein weiteres Bindeglied, neben der Bruderschaft, war das Testament, das im 12. Jahrhundert nicht die gleiche Bedeutung hatte wie in der römischen Antike oder später, gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Dort war es ein Akt des Privatrechts, ausschließlich dazu bestimmt, den Erbgang der hinterlassenen Güter zu regeln. Im 12. Jahrhundert war das Testament in erster Linie ein religiöser Akt, den die Kirche auch den völlig Mittellosen abverlangte. Wer ohne Hinterlassung eines Testaments starb, konnte im Prinzip weder in der Kirche noch auf dem Friedhof beigesetzt werden. Die Niederschrift und Aufbewahrung lag sowohl beim Pfarrer als auch beim Notar, welcher später das alleinige Recht darauf beanspruchte.
Das Testament diente damals den Sterblichen in anderer Art. Die heftige Anklammerung ans Diesseits wie ans Jenseits und die Liebe zum Leben und zu den irdischen Dingen setzte den Sterbenden gewaltig unter Druck. Er hatte zwei Alternativen vor Augen: entweder nicht auf den Genuss der temporalia – Menschen und Dinge – zu verzichten und Schaden an seiner Seele zu nehmen, wie die Männer der Kirche und die gesamte christliche Tradition ihm einredeten, oder sich ihrer zu entäußern und sich das ewige Heil zu sichern.
Das Testament war sowohl religiöses als sakramentales Mittel, sich das Heil zu sichern, ohne gänzlich auf die Liebe zum Besitz zu verzichten. Im Testament wurde beides festgesetzt, die Seele Gott anempfohlen und der Besitz verteilt und hinterlassen. Man wusste sich damit selbst gut in der Hand wie auch das, was man besaß. Zwei Fliegen wurden mit einer Klappe geschlagen.
Zitat von Aries S. 245
Das Testament ist aber auch „Passierschein auf Erden“, und in dieser Hinsicht legitimiert und ermächtigt es zum – sonst verdächtigen – Genuss der im Laufe des Lebens erworbenen Güter. Die Prämien für diese Garantie werden in geistlicher Währung entrichtet, in Messen und mildtätigen Stiftungen als spirituellem Gegenstück zu den frommen Legaten.
Dazu kam die Mode auf, sich sein Heil auch noch kurz vor dem Tod erkaufen zu können, wenn man nur genug von dem, was man besaß, stiftete. Viele Reichtümer fielen so den Klöstern und Kirchen zu, die diese Schenkungen nur zu gerne annahmen und auch erwarteten. Die Menschen waren fast zwanghaft besessen von ihrem Seelenheil, manche gingen kurz vor ihrem Tod in ein Kloster und schenkten alles, was sie besaßen, den Mönchen, die sie pflegten, glaubten damit getan zu haben, was für das Jenseits notwendig war. Einerseits verteilten die Menschen also ihren Besitz großzügig an Kirchen und Erben, damit ihre „Dinge geordnet waren“, andererseits gab es auch solche, die stifteten, weil sie den Reichtum nicht immer unter rechten Umständen erworben haben und sich so freikaufen wollten. Die Kirche empfahl (scheinheilig):
Hütet euch schließlich davor, dass ihr, wenn ihr zu sehr für andere sorgt (d. h. wenn ihr euch bemüht, eure Güter gleichmäßig unter euren Erben zu verteilen), euch selbst in eurem Testament nicht vergesst (d. h. euer Seelenheil, dadurch, dass ihr eure Sünden sühnt, und zwar durch Almosen), indem ihr der Armen gedenkt und anderer frommer Werke...
... wie z. B. die Schenkung an die örtliche Kirchengemeinde, usw.
Schließlich hat sich "das Hauptziel des Testaments als eines religiösen Aktes von der frühen selbstlosen Opferbereitschaft in Richtung einer straffen Herrschaft über die Familie verschoben, und zugleich damit ist es zum Akt der Vorsorge und der Umsicht geworden, den man in Voraussicht des Todes auf sich nimmt, des möglichen Todes, nicht des wirklichen (non in articulo mortis)".
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 09.06.2011 20:47von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von LX.C
"Da sogar biblische Vorbilder und heilige über Tote geweint hatten, durften das Menschen seiner Zeit auch. Niemand musste seinen Schmerz verinnerlichen; bis ins 19. jahrhundert bekundeten Frauen und Männer hör- und sichtbar ihre Trauer. Mittelalterliche Quellen sprechen von Seufzen und Klagen, Schluchzen und Weinen. Wie Werke der biblischen Künste zeigen, äußerte sich Trauer in Worten und Gesten, die eine (Zer)Störung der Ordnung spiegelten: Man weinte, rang die Hände, zerriß die Kleider, zerkratzte Wangen und Brust; Frauen lösten ihr Haar, Männer verhüllten das Haupt, ließen Haare und Bart wachsen." (Ohler 1990: 127)
Ja, auch Ariès zitiert in diesem Sinne aus dem frühen Mittelalter, spricht davon, dass sich die Trauerszenen, die Gebärden und Klagerufe ähnelten, bis sie sich mit der Zeit veränderten. Zum Beispiel bei der Tafelrunde:
Als König Artus Zeuge des letzten Seufzers des Herrn Gauvain wird, sinkt er mehrere Male über den Leichnam hin, rauft sich den Bart, zerkratzt sich das Gesicht und beginnt dann die große Totenklage: "Oh du armseliger und unglücklicher König, oh Artus, du magst wohl sagen, dass du jetzt aller leiblichen Freude ebenso beraubt bist, wie der Baum seiner Blätter beraubt ist, wenn der Frost darüber hingezogen ist."
Und dann wieder Ariès:
Zitat von Ariès S. 186
Wenn auch die Trauerbekundung und das letzte Lebewohl nicht direkt religiöser Bestandteil des Leichenbegängnisses sind, so lässt die Kirche sie doch gelten. Das war anfangs durchaus nicht so: "Die Kirchenväter widersetzten sich den traditionellen Totenklagen; der Heilige Johannes Chrysostomos zeigte sich ungehalten angesichts der Christen, "die Frauen, heidnische Frauen, als Klageweiber mieteten, um die Trauer nachdrücklicher zu bekunden und das Feuer des Schmerzes zu schüren, ohne des Heiligen Paulus zu gedenken..." Er geht sogar so weit, diejenigen, die sich professioneller Klageweiber bedienen, mit der Exkommunikation zu bedrohen.
Man verurteilte an dieser Praxis weniger den kommerziellen Zug als vielmehr den Überschwang, der darin zum Ausdruck kam, weil man anderen die Last eines Schmerzes aufbürdete, den man persönlich zwar nicht intensiv genug auf sich einwirken ließ, der jedoch um jeden Preis, und zwar glanzvoll und heftig, nach außen dargetan werden musste: Die Trauer hatte grundsätzlich maßlos zu sein. Auch die kanonischen Richtlinien des Patriarchen von Alexandria belegten diese Absicht: "Die, denen Trauer beschieden ist, sollen sich in der Kirche, im Kloster, zu Hause aufhalten, still, ruhig und würdig, wie es denen ansteht, die an die Wahrheit der Auferstehung glauben."
Art & Vibration
RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"
in Sachen gibt's - Sachbuch 09.06.2011 22:42von LX.C • 2.821 Beiträge
Zitat von Taxine
Ja, aber hin und wieder und zu bestimmten Zeitpunkten haben die Forderungen der Kirche wiederum kaum Eindruck auf die Leute gemacht. Das zeigt Ariès auch so schön an einem Brief von Salutati auf, der seinen Sohn verliert und von seinem Freund gemahnt werden muss, sich in seiner Trauer nicht so gehen zu lassen und sich stattdessen dem göttlichen Willen zu fügen. Salutati erklärt daraufhin, dass selbst wenn die Seele unsterblich ist und der Leib wieder aufersteht, "diese harmonische Mischung, die Pietro zu seinem Sohn macht, für immer zerstört ist".
Ja, aber das galt, wie gesagt insbesondere in hohen und geistlichen Kreisen, wenn man Ohler folgt. Der legt auch hier den Schwerpunkt mehr auf den Beweis der echten Trauergefühle:
„Friedrich der II betont, gerechten Schmerz dürfe man nicht wehren, wer glaube, Tränen verdrängen zu können, vergrößere die Trauer“ (Ohler 1990, 130).
Dennoch mahnt auch er zur Maßhaltung. Ohler schreibt zudem:
„In fast allen Briefen begegnen harte Anklage gegen den Tod: Mitleidlos und grausam reiße er Brüder auseinander, löse zarteste Bande, zerstöre eine glückliche Ehe, störe die Ordnung“ (ebd.)
Das bezieht sich auf Kondolenzbriefe des Hohen Standes, die darin oftmals erst im Nachhinein ihre wirkliche Trauer ausgedrückt haben sollen.
Auf welchen Raum konzentriert sich Ariès überhaupt vorwiegend? Sagtest du das schon?
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[i]Poka![/i]