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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#16

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 09.06.2011 23:01
von LX.C • 2.821 Beiträge

Wir sprechen immer von der Eingemeindung der Friedhöfe in die Stadt, hin zum Kirchhof oder später, im Spätmittelalter wieder von der Auslagerung vor die Stadt. (Ich zumindest ) Was mich jetzt auch erstaunt hat und mir neu war, dass im frühen Mittelalter (500 rum) um den Gottesacker herum ganze Ortschaften, Stadtteile, Vororte neu entstanden, Ohler nennt auch das Beispiel Köln, weil die Menschen nicht nur nahe der Märtyrer begraben sein wollten, sondern auch in ihrer Nähe leben wollten. Auf die Märtyrergräber baute man Basiliken, in denen man sich zum Gottesdienst versammelte. So entstanden neue Lebensmittelpunkte.

Augustinus spricht übrigens in "Vom Gottesstaat", 5. Jh. davon, dass die ganze Totenprozession nichts als Trost für die Hinterbliebenen wäre. Dass Auferstehung auch ohne die Beerdigungsrituale vonstatten gehen würde, schon mit dem Tod, und das Beerdigungsritual sozusagen unnötig wäre.
Der Mann weiß immer wieder zu erstaunen


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zuletzt bearbeitet 10.06.2011 23:42 | nach oben springen

#17

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 10.06.2011 18:01
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zitat von LX.C
Auf welchen Raum konzentriert sich Ariès überhaupt vorwiegend? Sagtest du das schon?


Als Franzose konzentriert sich Ariès hauptsächlich auf den französischen Raum, weicht aber auch ab, streift Europa, Amerika usw. (Deutschland eher seltener, wenn er auch Beispiele z. B. in der Grabkunst anführt.) Schön daran ist, dass man hin und wieder das Gefühl beim Lesen bekommt, durch Frankreich zu reisen oder inmitten von Italien, Venedig oder Rom, landet. Man kann sich richtig vorstellen, wie der Historiker selbst reiste und sich alles genau ansah, Grabplatten, Epitaphe und Ikonen.

Das Grab
Auch die Geschichte des Grabes ist keinesfalls eine gradlinige. So galt es als Schande, ohne Sarg begraben zu werden, wie es sich z. B. in den Ländern des Islams bis heute erhalten hat, wo die Toten, ins Leichentuch eingenäht, direkt in der Erde bestattet werden. Auch gab es lange Zeit anonyme Gräber, was die Annahme zulässt, dass der Mensch sich so von seiner sterblichen Hülle befreite und jene Hülle, hatte das Leben sie einmal verlassen, für nichts mehr galt.
Während die Fürbitten wichtig, die Bruderschaften bestürzt waren, wenn z. B. Ertrunkene, Arme, durch Unglücksfälle zu Tode gekommene Menschen wie „Tiere, Hingerichtete oder Exkommunizierte auf den Schindanger geworfen wurden“, nahm keiner Anstoß daran, wenn das Grab anonym blieb.

Zitat von Ariès S. 266
Das liegt im Grunde daran, dass das Bedürfnis, der eigenen Grabstelle und der der Angehörigen öffentliche Reputation zu verschaffen, zu Beginn der Neuzeit nicht als dringlich empfunden wurde.



Das wiederum ist kein Wunder, für eine Zeit, in der die Gebeine der Toten aus den Gräbern in den Beinhäusern „auf einem Haufen kunterbunt in wirrem Durcheinander“ (Villon) aufeinander gestapelt wurden.

Wenn ich die Totenschädel alle so betrachte,
Die hier im Beinhaus ruhn, zu Haufen aufgeschichtet,
Und überlege, was ein jeder trieb und machte,
Als er noch lebend war und nicht so zugerichtet,
So dünkt es mich, sie waren Männer allesamt
Von hohem Stande, wohlversehn mit Ehren, Würde, Amt.
Ob Bischof einer war, Landstörzer oder Schmied,
Hier gibt es zwischen hoch und niedrig keinen Unterschied.


(… zitiert aus den wunderbaren Versen „Le Grant Testament“ von Villon)


Dazu lag der Leichnam nicht zwangsläufig an einem einzigen Ort, wie es noch beim antiken Grab der Fall war oder in der heutigen Zeit Voraussetzung ist.

Zitat von Ariès S. 268
Überdies war es immer möglich, das ein einziger Leichnam mehrere Grabstellen erhielt, sei es, dass er zerstückelt wurde (Grab des Fleisches, Grab der Eingeweide, Grab des Herzens, Grab der Gebeine), sei es, dass sich die Funktion des Andenkens verselbstständigte, sich von der Grabstätte löste und dass der Verstorbene so an mehreren Stellen zugleich verehrt wurde, ohne sonderliches Privileg des authentischen Grabes.



Die Menschen glaubten daran, dass ihr Leib der Erde zurückgegeben, ihre Seele aber zu den Sternen aufsteigen würde.
Diese Ewigkeit und Unsterblichkeit, einmal als aufsteigende Seele und gleichfalls in der verdienstvollen Erinnerung auf Erden, war ein fester Begriff und fand sich gerade auf Inschriften von angesehenen Menschen und Heiligen. Es galt also, sich bereits auf Erden Ansehen und Ehre zu verschaffen, um dann die ewige Seligkeit erfahren und genießen zu können. Tugenden werden den Himmel öffnen, das war die Devise.

So ist die Verehrung der Reliquien von Heiligen auch gut nachvollziehbar, von denen manche ihrer Grabstätten keine Inschrift über das aufweisen, wer sie waren, sondern nur, was sie getan und womit sie sich die Seligkeit und das ewige Andenken auf Erden verdient haben.

Zitat von Ariès S. 276
Die Schwierigkeit einer solchen reinlichen Scheidung zwischen himmlischer Unsterblichkeit und während des Lebens auf Erden erworbenem Ansehen rührt vom fehlen einer scharfen Trennlinie zwischen der Welt des Diesseits und der des Jenseits her. Der Tod bedeutete weder vollständige Trennung noch unverzügliche Vernichtung.



Darin, dass die Trennung nicht existierte, das Andenken der Lebenden vom Heil seiner Seele nicht geschieden ist, liegt die eigentliche Bedeutung des Grabes, ist sich Ariès sicher.

Es gab also zwei Hauptkategorien an Begräbnissen. Einmal die der nahezu gesamten Bevölkerung, für die der absolute Glaube an ein Leben nach dem Tod wichtiger war als das Andenken an den Leib und an das irdische Leben, die der Nachwelt jedoch nichts zu überliefern und auch nichts Bemerkenswertes geleistet hat. Zum anderen die der seltenen Individuen (Heilige und ähnlich angesehene Menschen), die eine Botschaft oder Losung zu übermitteln hatten. Die Menschen der ersten Kategorie bedurften in diesem Sinne keines Grabes, die anderen hatten sogar ein Anrecht darauf, um das Andenken an ihre außergewöhnlichen und überlieferten Verdienste zu erhalten.

Nun hätte sich die Anonymität der Gemeinschaftsgräber, wie sie die Masse der Menschen ja pflegte, in Hinblick auf den um sich greifenden Materialismus behaupten können, aber die Dinge haben sich genau ins Gegenteil verkehrt.

Zitat von Ariès S. 278
Vom 11. Jahrhundert an setzt nämlich die neue, langsam und kontinuierlich verlaufende Phase ein, in der der Gebrauch des sichtbaren, vom Leichnam häufig räumlich getrennten Grabes wieder häufiger wird. Der Wunsch nach Wahrung des Andenkens geht dann von den erlauchten Persönlichkeiten auf die Mehrheit der Sterblichen über, die, sehr zurückhaltend und ganz allmählich, ihre Anonymität hinter sich zu lassen versuchen, sich aber nichtsdestoweniger weigern, eine bestimmte Schwelle der Zurschaustellung und der realistischen Präsenz zu überschreiten…



Das Epitaph
Nachdem also wieder Wert darauf gelegt wurde, auch auf Erden zu überdauern, begann man mit ersten Grabinschriften, die die Identität und ein gelegentlich festgehaltenes Wort der Lobpreisung umfassten. Im 12. Jahrhundert ist das Epitaph nahezu immer lateinisch abgefasst. Im 14. Jahrhundert ist die lateinische Inschrift immer noch gebräuchlich, wird aber nun auch häufiger in französischer Sprache vorgebracht.

Zitat von Ariès S. 280
Bis zum 14. Jahrhundert setzt sich das allgemein verbreitete Epitaph aus zwei Abschnitten zusammen: der eine, ältere, ist eine Identitätsangabe, die den Namen, die Stellung, das Todesdatum und zuweilen ein kurzes Lobeswort mitteilt. In der Mehrzahl der Fälle wird hier innegehalten und weder das Alter noch das Geburtsdatum erwähnt.
Der zweite, im 14. Jahrhundert verbreitete Abschnitt ist ein an Gott gerichtetes Gebet für die Seele des Verstorbenen.



Dieser Abschnitt zeigt immer noch die Besorgnis angesichts des Jüngsten Gerichts. Das Gebet ist zunächst noch ein anonymes Gebet. Danach wird die Inschrift zur Lektion und zum Aufruf (für die Lebenden), zunächst (12. Jahrhundert), um am Grab über den Tod zu reflektieren und Einkehr zu halten – „Was wir einst waren, bist du jetzt, und was wir sind, wirst du sein.“ -, dann (14. Jahrhundert), um für den Verstorbenen Fürbitte zu halten:
Ihr guten Leute, die ihr hier vorüberkommt,
Werdet um Gottes willen nicht müde, zu beten,
Für die Seele des Leichnams, der hier unten ruht.


Auffällig ist die Bemühung, zwischen Seele und Körper zu unterscheiden. Auch auf die Angabe des Alters wird bei diesem Epitaph noch verzichtet.

(Kurzes Dazwischen: Dieses Wenden an die Vorübergehenden, die nachdenken sollen, gibt mir zu denken. Wenn ich da an den heutigen Brauch denke, der von Schlichtheit bishin zu fast schon leidvollen Bemerkungen, wie: Hier ruht das Mädchen … Sie wurde ermordet. – reicht, wie ich es mit einem Gruseln auf dem Friedhof gelesen habe, auf dem mein Opa begraben wurde. Was für ein Wandel und welche Vielfalt, dass jeder das Grab und dessen Aussage nutzt, wie er es für richtig befindet. Wenn dabei das Grab eine Anlaufstelle für die Lebenden und Zurückgebliebenen ist (denn was hat, aus heutiger Sicht, der Tote davon?), wie schwer muss diese ständige Erinnerung (Mord) verstärkt auf der Seele lasten? Als ob nicht die Erinnerung an das Mädchen sowieso die schreckliche Art des Todes enthält, warum also noch auf einem Grab festgehalten? Um nicht zu vergessen? Um ganz und gar zu trauern? Trost kann hier nicht zu finden sein, vielmehr erreicht mich hier ein Aufschrei. Ist diese Grabschrift also für die anderen Menschen gedacht, die vorbeikommen? Oder wollten die Eltern oder Angehörigen sich gar an den Mörder selbst richten? Wenn ich so überlege, wozu Inschriften alles genutzt wurden, ist das gar nicht so weit hergeholt. Da zeigt sich, wie vielfältig die Gräber und Epitaphe heute sind, welche Breite sie bieten, alleine aus einer langen Entwicklung mit Moden und ihren Untergängen und ihrer Wiederbelebung.)

Aber zurück zum Eigentlichen:
Derjenige, den also das Epitaph des 12. bis 14. Jahrhunderts anspricht, ist nicht, wie heute üblich, ein Angehöriger oder Freund des Verstorbenen.
Das Gefühl der Klage am Grab war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vollkommen unbekannt. Der Gesprächspartner des Toten war wirklich jeder Vorübergehende, jeder Fremde, der den Friedhof durchstreifte. Manchmal wurde dieser sogar ganz abrupt gebremst: Halt ein, Vorübergehender, hier ruht ein ehrbarer Mann (gestorben 1575). Bete für ihn, der du deines Weges gehst.
Hier gerät der Vorübergehende zum Andächtigen. Er kann aber auch einfach nur ein Spaziergänger oder Neugieriger sein:
O du, Vorübergehender, der du über ihre Asche hinschreitest,
Erstaune nicht (…),
Ich bitte dich, Vorübergehender, betrachte die edle Grabstätte.


Hier soll das Grab eine Geschichte erzählen, wobei Interesse und Gedächtnis selbstverständlich vorausgesetzt werden.

Ab dem 15. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert hinein nahm das Epitaph dann die Tendenz zur Beredsamkeit und langatmigen Ausschweifung an. Von nun an wird dem Todesdatum auch das Alter hinzugefügt.

Zitat von Ariès S. 285
Dieser Zusatz entspricht einer mehr statistischen Auffassung des menschlichen Lebens, das hinfort eher durch seine Dauer als durch seine Wirksamkeit definiert wird – eine Auffassung, die die unserer technisierten und bürokratisierten Industriegesellschaft ist.



Auch wird bald nicht nur ein Bestatteter genannt, sondern seine gesamte Familie. Hier ruhen… Der Herr nehme ihre Seelen zu sich. Amen.

Damit haben sich alle formalen Elemente der epigraphischen Literatur zusammengefügt: Identitätsangabe, Anrede an die Vorübergehenden, die fromme Formel, rhetorische Weitschweifigkeit und schließlich das Einbeziehen der ganzen Familie.

Zitat von Ariès S. 285
Was früher auf einige wenige Worte oder Zeilen beschränkte fromme Ermahnung wird im 16. Jahrhundert zum erbaulichen Lebensbericht des Verstorbenen.



Dabei kam es häufig vor, dass die ausführlichen Epitaphe nicht am Grab selbst, sondern ganz woanders angebracht waren (Andachtstafeln z. B.), dass sie gar literarisch in einem Buch veröffentlicht oder eigens Gräber ausschließlich für das Epitaph errichtet wurden.
Ariès lässt einige Epitaphe (zum wahren Vergnügen des Lesers) noch einmal auferstehen, wo Menschen sich die Mühe machten, ihre ganze Lebensgeschichte zu berichten, darunter auch ihren Mut, ihre Erfolge, ihre Schlachten ins Wort fassten, dass sie in einer bestimmten zwei Pferde verloren haben, in Kriegsgefangenschaft gerieten, sich wieder befreien konnten… usw., also mit Details versahen, die so nebensächlich sind, für den Verstorbenen scheinbar aber über-wichtig waren, dass man das eine oder andere Lachen beim Lesen nicht unterdrücken kann (besonders auch mit den wunderbar ironischen Anmerkungen und Hinweisen Ariès’). Als Beispiel sei hier diese lustige Grabschrift eines Ehepaars zitiert:

Hier ruht, der reinen und unversehrten Herzens war,
Meister Mathieu Chartier (…),
Jeanne Brunon nahm er zur Frau,
Die züchtig bei ihm ruhte,
Und fünfzig Jahre einander treu,
Teilten sie das Bett ohne Zank und Streit.


(Da werden die beiden Menschen durch ihre Hinterlassenschaft in Worten allerdings wirklich wieder sehr lebendig. Man kann sich bestens vorstellen, wie die beiden züchtig beieinander ruhten (das mag stimmen) und ohne Zank und Streit miteinander lebten, denn wer dies noch im Tode betonen muss, der hat wohl gerne ausführlich gezankt und gestritten. )

Ariès führt aber auch Beispiele an, in denen sogar für Menschen, die sehr arm waren und in einem Gemeinschaftsgrab landeten, ellenlange Epitaphe verfasst wurden. Manch einer nutzte die Grabsteinfläche sogar zum Protest und verwies so auf all die Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren sind. Der Tod sollte wohl den Ruhm bringen, der im Leben verwehrt wurde. (Allerdings ist diese Art des vorwurfsvollen Klagens eher selten, häufiger ist das heroische Epitaph.)
Hier findet übrigens auch ein interessanter Wechsel statt. Während sich ein Jedermann besingen ließ, wurden die Epitaphe der Kleriker, denen sonst so viel Aufmerksamkeit gebührte, im Zuge der Gegenreformation immer schlichter. Die einzigen Kleriker, die sich dieser weltlichen Mode der Grabepigraphie anschließen, sind Soldaten – die Malteserritter.

Die meisten Epitaphe wurden von den Menschen als ein „Wenn es soweit ist…“ verfasst. Sich das Epitaph auszuarbeiten, war im 16. Jahrhundert eine Art Meditation über den Tod. Später oblag es der Familie, dem Verstorbenen eine Grabinschrift zu verfassen, auch scheuten sich einige nicht, darauf zu verweisen, dass sie das Grab samt des Epitaphs bezahlt haben und nennen sich daher namentlich auch an erster Stelle, noch vor dem Namen des Toten. Wie aufwendig das Verfassen eines damaligen Epitaphs war, zeigen manche Inschriften, die vom Tod eines Sohnes handeln und dann vier Jahre später auch den Tod der Ehefrau in selbiger Inschrift ankündigen und mit unterbringen.

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 11.06.2011 12:25 | nach oben springen

#18

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 11.06.2011 09:26
von LX.C • 2.821 Beiträge

"Die Leichen Armer wurden in einen großen Graben gepackt und mit etwas Erde bedeckt. Wieso sollte auch jemand, der zu Lebzeiten kaum Platz zum Wohnen gehabt hatte, ein eigenes Grab erhalten?! Hier ragte eine Hand aus der Erde heraus, dort ein Fuß; veränderte diese seine Lage, weil die Leichen sich 'setzten', war der Grund gelegt für Schauermärchen vom 'lebenden' Leichnam."

(Ohler, Norbert: Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990, S. 148.)



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#19

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 11.06.2011 10:26
von LX.C • 2.821 Beiträge

Hoho - ja meine Güte, da war was los. Mein lieber Mann :

"König Alfonso IV. von Portugal hatte die Geliebte und spätere Ehefrau seines Sohnes Pedro im Jahre 1355 ermorden lassen. 1357 bestieg Pedro den Thron. Er ließ den Mördern bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust reißen. Dann soll er angeordnet haben, den einbalsamierten Leichnam der Gattin mit allen Insignien königlicher Würde – Krone, Purpurmantel und Schmuck – zu bekleiden und auf den Königsthron zu setzen. In einer gespenstischen Szene sollen der Adel des Landes und die Cortes der Toten gehuldigt und ihre starre Hand geküßt haben."

(Ohler, Norbert: Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990, S. 152.)


Ohler zieht übrigens auch Ariès "Geschichte des Todes" heran, habe ich gerade gesehen. Schreibt Ariès etwas Genaueres über die Albigenser Südfrankreichs? (12./13.Jh, zählten zu den Häretikern)

Was für ein spannendes Thema.


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zuletzt bearbeitet 11.06.2011 10:28 | nach oben springen

#20

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 14.06.2011 16:54
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Wenn du beim Thema "Kannibalismus" bei Ohler angelangt bist, berichte mal.

Bisher, bin etwa 600 Seiten weit, waren keine Albigenser in Sicht. Kommt vielleicht noch.



Ariès berichtet, nachdem er die Art der Gräber (Flach-, Vertikal-, Horizontalgrab u. a.) umrissen hat, wobei letzteres bei den Christen Voraussetzung wurde, da man davon ausging, dass die vertikal aufrechte Lage den Eingang in die Hölle vereinfachte, von der Bildhauerei und Grabkunst, über die er als einen ausführlichen Gang durch eine Art imaginäres Museum die meisten historischen Schlüsse zieht. Es gibt Darstellungen, die zeigen den Toten kurz vor dem Tod, währenddessen oder kurz danach. Ariès unterscheidet zwischen der zunächst aufkommenden Darstellung des Ruhenden und der später auftretenden Darstellung des Betenden , bis beide Richtungen wieder ganz verschwinden. Häufig wird der Tote mit übereinander gekreuzten Händen dargestellt. Sind die Hände nicht zusammengefügt, so war das ein Verstoß gegen das Schema, das dann seine Bedeutung verlor (… erinnert an die betenden Hände heutiger Zeit). Hier eine Darstellung von Tullio Lombardo. Der Bildhauer hat 1525 die große schmerzliche Verstörung eins jungen Menschen, und zwar handelt es sich um Guidarello Guidarelli, zum Ausdruck gebracht, den soeben der Tod heimgesucht hat:

(Quelle: scultura-italiana.com)

Die häufigste Abbildung war die von Lazarus als den Prototyp des Todes des Gerechten. Von diesem Thema gibt es in der Kunst natürlich etliche Varianten, so seien hier ruhig einige angeführt:

(The Raising of Lazarus, Juan de Flandes(Museo del Prado, Madrid))


(Cecchino del Salviati, Raising of Lazarus, 1545 ) (Alexandro Turchi, Raising of Lazarus)


(Caravaggio, Raising of Lazarus)


Rembrandt „Auferweckung des Lazarus“

Das Thema der wandelnden Seele löst jene Vorstellung von der Seele ab, die zu den Sternen aufersteht. Sie wird häufig als Kind-Seele dargestellt, die von Engeln geleitet wird. Sie steigt auf und soll in Abrahams Schoß (der als sitzender Greis mit einer Schar an Kindern auf den Knien dargestellt wird, die die Seelen symbolisieren) landen.

Zwischendurch wechselt die Darstellung des ruhenden Toten auch schon einmal zum leblosen Körper, zum Leichnam samt Totenstarre, wie in den Heures von Rohan zu erkennen:

(Quelle: library.arizona.edu)

Das edle Tuch, auf dem der Tote in einer angedeuteten Totenstarre ruht (vielleicht auch an der verkrampften, rechten Hand zu erkennen), ist gleichzeitig das Leichentuch.

Und nach dem Ruhenden findet, wie gesagt, der Betende Einzug in die Grabkunst. Während der Ruhende den Tod als Schlaf symbolisierte, ist der Betende ein überirdisches Wesen, kommt häufig im Innenraum der Kirche zur Geltung, da der Stifter seine Zukunft im Jenseits darstellen will. Der Betende ist, selbst wenn er noch lebt, kein Mensch dieser Erde. Er ist eine „Gestalt der Ewigkeit“, kniend vor der Majestät des ewigen Vaters, vor der Jungfrau mit dem Kinde oder vor dem auseinander fliehenden Reihen einiger großer Heiliger. Er wird nicht nur ins Paradies geleitet, sondern ist Mittelpunkt der göttlichen Handlungen, die die Heiligen Schriften darstellen. Seine Haltung bringt die Antizipation des Heils zum Ausdruck, wie der Ruhende den Genuss der ewigen Ruhe demonstriert. Bei dem einen wie bei dem anderen herrscht die gleiche Ewigkeit vor, jedoch liegt beim Betenden der Nachdruck auf der Dynamik des Heils, während beim Ruhenden die Passivität der Ruhe in den Vordergrund rückt.

Zitat von Aries S. 328
Solange die Gestalt des auf Knien Betenden mit gefalteten Händen Bestand hat, ist die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits verwischt.



Isabella von Aragon (es gab 1970 (durch R. Payne in Gang gesetzt) den Verdacht (denn die Ähnlichkeit ist verblüffend), dass sie die Mona Lisa von da Vinci sein könnte, die wirkliche Mona Lisa soll allerdings Lisa del Giocondo sein) stürzte vom Pferd, was eine Frühgeburt auslöste, woran sie starb. Es gibt von ihr eine sehr realistische représentation, die schon einige Historiker und Forscher zur Verzweiflung gebracht hat. Das Gesicht wirkt so echt und tot, dass der Verdacht aufkam, der Bildhauer hätte sich schon bei ihr der Tradition des Abnehmens einer Totenmaske bedient. Ihre „Totenmaske“ ist allerdings keine tatsächliche Totenmaske, denn diese wurden erst im 15. Jahrhundert allgemeiner Brauch. Trotzdem spekuliert auch Ariès, warum das Gesicht der eindeutig Toten so realistisch ist. Er spricht von der Darstellung einer Betenden mit ihrem Gesicht, die kniet (die ich leider nicht im Netz finden konnte). Aber an der liegenden Königin erkennt man deutlich genug, dass es sich hierbei um das Gesicht einer soeben Verstorbenen handelt:


(Quelle: kunst-fuer-alle)

… vergleicht man einmal mit den Abbildern der lebendigen Königin.

(Quelle und überhaupt eine sehr informative Seite über Isabella von Aragon:
http://www.kleio.org/de/geschichte/stamm...sforza/340.html


Ariès erklärt, der Abguss ihres Grabmonuments, von dem er spricht, würde sich im Musée du Trocadéro befinden und sagt weiterhin:

Zitat von Aries
Der Besucher kann sich der Wirkung dieses verschwollenen, durch eine Wundnaht entstellten Gesichtes mit geschlossenen Augen schwerlich entziehen. Es überrascht durchaus nicht, dass dieser Gesichtsaudruck einer unmittelbar nach Eintreten des Todes abgenommen Totenmaske zugeschrieben wurde, die der Bildhauer dann kopiert hätte.



Dafür allerdings ist, wie schon erwähnt, der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Isabella starb 1271. Das Gesicht der Frau ist das einer Toten, soll aber nicht Angst einflößen sondern nur Ähnlichkeit erzielen.
Ariès zitiert daher aus E. Erlande-Brandenburg „Le roi, la sculpture et la mort“:

Es gibt aus dieser Epoche keinerlei Zeugnis für eine Totenmaske. Sie tritt in der Tat erst im 15. Jahrhundert in Erscheinung. Die Erklärung für das Rätsel dieses Antlitzes liefert das Material: Eine Ton-Ader im kalkhaltigen Tuffstein lässt auf eine Ungeschicklichkeit des Bildhauers schließen.

Trotzdem merkt Ariès an, dass sie die Augen geschlossen hat, was für die Statue des Betenden keineswegs normal war.

Zitat von Aries S. 334
Wenn man also auch einräumt, dass kein direkter Wachs- oder Gipsabdruck vom Antlitz der Toten genommen worden ist, ließe sich denn nicht annehmen, dass das Antlitz des Grabmals trotzdem eine Nachahmung ist?


Das ist sicher nicht von der Hand gewiesen. Der Bildhauer wurde vielleicht trotz allem direkt nach ihrem Tod gerufen und sollte ihr Gesicht einfangen.

Anhand der Grabikonographien des Ruhenden und des Betenden, wobei der Ruhende mehr dem Tode verbunden zu sein scheint, lebt und doch nicht lebt, während der Betende im Himmel ist und doch nicht im Himmel, zeigt Ariès auf, das sich die Vorstellung des Todes als neutraler Zustand trotz der Abwehr der Kleriker, Moden und Glaubensrichtungen erhalten hat. Hier entdeckt man die Ablehnung eines Dualismus des Seins, des Gegensatzes von Toten und Lebenden, von der völligen Gleichstellung des menschlichen Nachlebens im Jenseits und des unaussprechlichen Ruhmes der himmlischen Gestalten.

Zitat von Aries S. 342
So hat ein mächtiger Tiefenstrom während eines halben Jahrtausends der Grabikonographie – und der kollektiven Sensibilität – massive und erstaunlich konstante Zwänge auferlegt, die die Schriftkultur nicht zum Ausdruck bringt und die sie außer acht gelassen hat – eine Vorstellung des Jenseits, die mit der der kirchlichen Lehre durchaus nicht genau zusammenfällt.



Der Ruhende ist im 17. Jahrhundert verschwunden, der Betende gegen Ende des 18. Jahrhunderts.

Zitat von Aries S. 342
In den neuen Auffassungen, die einer Gelehrtensphäre entstammen und sich dann den mündlichen Kulturen und der gemeinschaftlichen Sensibilität mitteilten, hat sich die sehr alte und sehr widerstandfähige Vorstellung eines neutralen Zwischenzustands jenseits des Todes – zwischen Leben und Himmel – verloren und ist verblasst. Sie ist durch Glaubensinhalte ersetzt worden, in den man auf die von einer spontanen Sensibilität assimilierte Idee einer Trennung von Seele und Körper stößt: das Nichts für den Leib, und für die Seele ein – je nach Auffassung – unterschiedliches Geschick, das Überleben in einem wohlorganisierten Jenseits, das irdische Überleben im Andenken oder ebenfalls das Nichts. Das ist die gänzlich neue Vorstellungswelt vom 18. bis zum 20. Jahrhundert.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 14.06.2011 17:23 | nach oben springen

#21

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 14.06.2011 17:23
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zweites Buch
Der verwilderte Tod

Als Ariès über Erasmus von Rotterdam und die Rolle der Krankheit und Erkenntnis spricht, sagt er so schön:

„Wenn wir Plato Glauben schenken wollen, so ist die Philosophie immer meditatio mortis. Es bedarf aber der Schicksalsschläge, um sich diese Philosophie zu eigen zu machen!“


Ab dem 16. Jahrhundert entwickelt sich zunehmend der Gedanke daran, dass nicht nur die Sterbenden, sondern der Mensch überhaupt sich auf den Tod vorbereiten muss und sich darin zu üben, dem Tod beizeiten entgegenzusehen. Hier wird allerdings nicht im ausschließlich positiven Sinne davon Gebrauch gemacht, wie es der Buddhismus lehrt, sondern mit und unter Zwang und Drohung der Kleriker, die mit erhobenem Finger aus diesem Wandel ihre Macht demonstrieren, dass der sterbliche Mensch nicht erst im Angesicht des Todes schnell seine Sakramente empfängt und damit glaubt, alles für sein Seelenheil arrangiert zu haben, sondern Buße zu tun, schon ein Leben lang, um ins Himmelreich eingehen zu können. Daher auch Ariès kritische Ansichten zu diesem Thema, dass mich natürlich am Anfang besonders fesselte und schnell verwunderte, aufgrund des warnenden Untertons. Grundsätzlich muss man hier ewig wiederholt festhalten, dass die Reflektion über den Tod gerade darum wichtig ist, um ihm die Macht zu nehmen und nicht ein Leben mit der Angst vor ihm zu verbringen.

Auch stößt der Zwang klerikaler Befehle einerseits zwar auf, lässt aber vermuten, dass durch diese erst moralische Reflektionen über das eigene Handeln vertieft werden konnten, bis sich daraus wiederum so manch verbissene Übertreibung entwickelte.
Überhaupt muss ich, immer kritisch in Glaubensfragen, anmerken, dass ein vernunftbegabtes und seiner selbst bewusstes Wesen grundsätzlich aus jedweder Religion das daran Geeignete herausziehen kann, dass dem eigenen Sein als auch der Menschheit dient, selbst wenn die moralischen Forderungen überladen und unter Dogma, Schwulst und Drohung verborgen liegen.
Ariès ist strikt der Überzeugung, dass die geistlichen Autoren in der Mehrzahl der Fälle eher die Tendenzen ihrer Zeit ausbeuteten als dass sie sie initiieren.
Ich finde, er lässt die sich davon unabhängig entwickelnden oder die sich notwendig daraus formenden Tendenzen außer Acht, oder eben jene, die erst durch eine solche Richtung aufkommen können, als die Reaktion und Weigerung bestehender Normen und moralischer Voraussetzungen.

Ariès schweift nun auch nach England und Amerika ab, wo eine ebenfalls makabre Epoche vorherrschte, sich allerdings erst später, im 17. Jahrhundert, herausbildete. Auch wurde hier aus Demut häufiger nach einem Grab auf dem Friedhof gestrebt, wenn sich schon jeder Dahergelaufene einen Platz in der Kirche sicherte (wie es unter Empörung in einem Testament zu lesen war).

Das Leben hatte aufgehört, so begehrenswert zu sein, als der Tod aufhörte, so in Szene gesetzt zu werden. Bei Bossuet wird deutlich, wie sehr sich allmählich das Nichts ausbreitet, ein Gefühl von Vergänglichkeit, der Kürze des Lebens vorherrscht, der Mensch winzig geworden ist:

Ich nehme wenig Raum ein in diesem großen Schlund der Jahre. (…) Ich bin nichts. Diese kleine Zwischenzeit ist nicht imstande, mich vom Nichts abzuheben, in das ich eingehen muss.

In einem neapolitanischen Epitaph heißt es:

Was ist die Welt?
Was ist die Welt? Nichts.
Wenn sie aber nichts ist, warum dann die Welt?
Das Nichts ist wie die Welt.


Noch eine Weile wurde das Nichts mit der Unsterblichkeit versüßt, jedoch entfernten sich beide Bereiche immer mehr voneinander. Zurück blieben das Nichts (ohne schon nackt zu sein), die Natur und die Materie. – Wir gehen alle wieder in den Zustand ein, in dem wir vor unserem Dasein waren.

In der Biographie von Lely nachzulesen, ordnete de Sade für ein fiktives Begräbnis in seinem Testament das an, was die Stimmung der Zeit ausmachte, wenn er auch etwas weiter ging. Nach seinem Tod, verlangt er:
„... soll ein Bote zu dem Holzhändler Le Normand in Versailles (…) geschickt werden, damit er selbst mit einem Wagen in das Gehölz auf meinem Landgute Malmaison, Gemeinde Maucé nahe bei Épernon, gebracht werde, wo sie ohne jede Zeremonie in dem ersten Gebüsch bestattet werden soll, das sich rechts in besagtem Gehölze findet, wenn man durch die große Allee von der Seite des alten Schlosses hereintritt. Die Grube soll durch den Pächter von Malmaison geschaufelt werden, unter der Aufsicht des Herrn Le Normand, der nicht vor vollendeter Bestattung fortgehen soll. Bei dieser Zeremonie können diejenigen meiner Freunde oder Verwandten zugegen sein, die mir dieses letzte Zeichen ihrer Liebe geben wollen. Wen die Grube bedeckt ist, soll der Boden mit Eicheln besäht werden, damit, wenn das Erdreich besagten Grabes wieder begrünt ist und das Unterholz sich wieder wie früher geschlossen hat, die Spuren meines Grabes von der Erdoberfläche verschwinden, wie ich hoffe, dass mein Andenken in der Erinnerung der Menschen ausgelöscht werden wird, ausgenommen gleichwohl die kleine Zahl derer, die mir bis zum letzten Augenblick ihre Liebe bezeigt haben und an die ich eine sehr sanfte Erinnerung mit ins Grab nehme.

Das ist die Rückkehr zur Natur und zur ewigen Materie, als elegische und wilde Poesie und Verromantisierung, was auch Potocki in seiner „Handschrift“ ins Bild setzte, wo auf dem Totenbett gesagt wird:
Nichts wird von mir bleiben. Ich schwinde gänzlich dahin, ebenso namenlos, wie wenn ich nie geboren worden wäre.


Der tote Körper
Ariès nimmt zwei Exemplare der Medizin des 17. Jahrhunderts zur Hand, wobei sich hier nicht mit der Krankheit, sondern mit dem Tod beschäftigt wird. Heutzutage ist der Tod der schlechte Ausgang (will man es so salopp formulieren), während die Genesung den ärztlichen Erfolg bedeutet. Man beschäftigt sich also medizinisch hauptsächlich mit der Krankheit. Im 17. Jahrhundert suchte man über den Leichnam den Tod und auch das Leben besser zu begreifen.
So stellt der deutsche Arzt Garmann zwei Thesen auf. Einmal: Leben ist eine Ausnahme von der Natur. Hier bestätigt sich die damalige Vorstellung, dass der Tod als Rückkehr zur Natur empfunden wird. Gemeint aber ist, dass der Leichnam, auch wenn er konserviert wird, trotzdem erst dann erlischt, wenn die alles zersetzende Natur über ihn die Herrschaft gewinnt. Das ist das Ende, der endgültige Tod. Daher ist Leben wider die Natur, die hier die Rolle des gefräßigen Seins spielt.
Zweitens, erklärt Garmann, sei das Leben weder Materie noch Substanz, sondern Form. Es ist Licht und Ursprung, ein Ursprung, der jedes Mal vom Schöpfer ausgeht, wie da Feuer vom Feuerstein.

Die erste These – sie wird der jüdischen Medizin zugeschrieben - impliziert die Überzeugung nach Paracelsus, dass der Tote noch Empfindungsvermögen hat. Er bewahrt eine Lebenskraft, einen Rückstand Leben. Man ordnete daher z. B. an, dass die Erde leicht sein soll, unter der der Leichnam begraben wurde. Die Argumente Tertullians, zugunsten der Unsterblichkeit der Seele, wurden hier großzügiger ausgelegt und auf den Körper projiziert.
Die zweite These leugnet das Überleben des Leichnams. Sie beruft sich auf Scaliger, Gassendi und auch Seneca. „Die Seele des Menschen kann nicht außerhalb des menschlichen Körpers wirken.“ Ein Körper ohne Seele ist nichts mehr.
Die Thesen widersprechen sich also. Die einen glauben an eine Fortdauer als eine bestimmte, undefinierte Form von Leben und Empfindungen, die anderen weisen dies zurück. Stirbt der Körper, ist auch die Seele nicht mehr. Hier stehen sich sowohl zwei Gemeinschaften von Gelehrten als auch Lebensauffassungen gegenüber.

Dadurch kommen zwei verschiedene Befürchtungen auf. Einmal wünschen die Menschen in ihrem Testament, geöffnet und konserviert zu werden, weil sie Angst davor haben, lebendig begraben zu werden, zum anderen lehnen sie diese damalige Tradition ab, aus der gleichen Befürchtung heraus.
Auch galt der Leichnam oder Teile von ihm als heilsam und als Aphrodisiakum. Knochen sollten vor Gefahr bewahren, das Berühren der Leiche oder der Schweiß des toten Körpers sollten gut gegen Hämorriden oder Warzen oder viele andere Dinge sein. Teilweise wird dem Leser bei den vielen Beispielen etwas flau im Magen, wenn es z. B. ans Zerstückeln und Einkochen de Fleisches geht, daher sei dies hier nicht so ausführlich behandelt und lediglich angedeutet.


Nach den makabren Tänzen des 14. und 15. Jahrhunderts bildete sich im 16. Jahrhundert die Hinwendung zu Eros und Thanatos heraus. Der Tod wurde mit Erotik gleichgesetzt und abgebildet, oftmals sehr makaber bishin zu sehr morbiden Darstellungen, die (z. B. in der Literatur) im Sadismus endeten.

Beispiele dafür sind in der Kunst z. B. "das Martyrium des Heiligen Erasmus" von Poussin:


... oder von Dieric Bouts "Martyrium des Hl. Erasmus":


Von letzterem Bild schreibt Ariès:

Zitat von Aries S. 472
Auf dem flämischen Gemälde, das die Ruhe einer Miniatur ausstrahlt, rollt ein gewissenhafter Henker vor dem Kaiser und seinem Hof die Eingeweide des Heiligen Erasmus um eine Haspel. Alles ist friedlich; jeder verrichtet seine Arbeit ohne Hast noch Heftigkeit, ohne Leidenschaft, mit einer Art von Gleichgültigkeit. Der Heilige selbst wohnt seinem Todespein wie ein Fremder bei, wie der Sterbende der ersten ars moriendi einem eigenen Tod beiwohnte. Nichts trübt die Ruhe der Szene.



Hier noch einmal die Gesamtansicht des Tryptichons:


Diese Darstellung war darum möglich, da die Anatomie entdeckt war, dafür sogar zum Leidwesen des Alltagsmenschen Leichen von den Friedhöfen gestohlen wurden (Ariès führt einige Beschwerden und literarische Hinweise an, wie z. B. den von Chateaubriand, der schreibt: Jede Nacht verkündete mir die Klapper des watchman, dass soeben Leichen gestohlen worden waren.), um den Körper genauer zu erforschen, häufig in privaten Häusern, zur Neugierde und Zurschaustellung.

Bei dem Maler Orazio Fidani wird Erasmus perspektivisch bereits wie ein Leichnam in einer Anatomiestunde dargestellt. Ein Knecht öffnet den Unterleib des Märtyrers und nimmt ihm die Eingeweide heraus.

Zitat von Aries S. 472
Das ist nicht mehr das einfache Aufwickeln wie bei Bouts, das ist der Anfang einer Sektion am lebenden Körper.



Hier soll nicht mehr zur religiösen Andacht eingeladen werden, dargestellt ist die aufgestachelte Erregung.
Besonders erschreckend tritt diese Nuance bei Gerard David „The Judgment of Cambyses“ zutage: (Detail):


Nichts für schwache Nerven.
Deutlich wird: Der Tod ist weder friedliches Ereignis noch moralische und psychologische Konzentration mehr. Er ist Gewalt und Leid und Agonie bishin zur morbiden Erotik als Ekstase der Leidenden. – Der Tod ist süß, der bei der Liebe kommt. Die Verwechslung von Tod und Wollust geht soweit, dass das Hochgefühl nicht unterbrochen wird, sondern weiter gesteigert. Der tote Körper wird Begierde.

Bei einem Gemälde von Donato Creti (1671-1749) ist der Kontrast zwischen dem toten Achill zu den Lebenden ergreifend:

(Quelle: griseldaonline.it)

Bei William Etty wirft sich Hero mit Leidenschaft über den Leichnam des ertrunkenen Leander:

(Quelle: darkromance.com)

Bei Füsli sitzt Brunhilde in durchsichtigem Gewand vor dem Mann, den sie Folterqualen ausgesetzt hat:

Johann Heinrich Füssli "Brunhild und Gunther (1807)" (Quelle: bilder-geschichte.de)

Und auch in der Literatur schreibt Maturin bei „Melmoth der Wanderer“ von einem jungen Mann, der, um seine Familie zu retten, sein Blut verkauft und fast daran stirbt, er läge
... in einer totenhaften Schönheit, welchem das Mondlicht einen Effekt verlieh, würdig des Pinsels eines Murillo, Salvator Rosa oder irgendeines jener Meister, die, vom Genius des Leidens inspiriert, darin zu schwelgen lieben, die schönsten menschlichen Körper in den entsetzlichsten Martern wiederzugeben. Ein geschundener Sankt Bartholomäus, welchem die in Streifen abgezogene Haut in den anmutigsten Ornamenten um den Leib drapiert ist, ein Sankt Laurentius, geröstet auf eisernem Bratrost, und dabei seinen herrlichen Körper den Blicken der mit dem Anblasen der Kohlenglut beschäftigten, nackten Folterknechte darbietend.

Aus diesen Geschmacksrichtungen heraus, die immer morbidere Züge annehmen (Leichenschändung und Nekrophilie) entwickelte sich dann sogar eine Vorliebe für den mumifizierten Leichnam, den die Menschen über Kunst und Literatur hinaus tatsächlich auch in ihren Wohnräumen lagerten. Der Verlust eines geliebten Menschen nahm gänzlich die Angst vor dem toten Körper, der wie das Skelett fast wie ein Fetisch betrachtet wurde. Die Mutter von Mme. de Staël verlangte, dass ihr Körper konserviert und in Weingeist gelagert werden sollte. Mme. de Staël dazu: „Vielleicht wissen Sie nicht, dass meine Mutter so seltsame, so außergewöhnliche Anordnungen über die verschiedenen Arten, sie einzubalsamieren, sie zu konservieren, sie unter eine Glasscheibe in Weingeist zu legen, dass, wenn ihre Gesichtszüge in so vollkommener Weise bewahrt geblieben wären, wie sie wohl annahm, mein unglücklicher Vater sein Leben damit verbracht hätte, sie zu betrachten.“

De Sade war der Auffassung, dass die Natur grausam und zerstörerisch sei, dass in jedem Menschen jene Natur verborgen und eingeengt läge, so dass diese durch Gesellschaft auferlegten Bestimmungen den Menschen seiner Natur beraubten und er sich darum daraus befreien muss, um wieder ganz Natur zu sein. Er sagt auch, dass es keinen Tod gäbe – Der Tod sei nur eingebildet. – und er würde nur symbolisch existieren und ohne jede Realität. Die Materie, die dieses anderen sublimen Teils der Materie beraubt ist, der ihr die Bewegung mitteilte, zerstört sich deswegen nicht, sie ändern nur die Form, sie zersetzt sich. Auch beim Leichnam hört sie nicht auf.
Dem gegenüber stand die andere Auffassung des Zeitgeistes, die die Meinung vertat, dass die Kraft und Zerstörung der Natur vom Menschen beherrscht und zu guten Zwecken genutzt werden muss. Man müsse ihre Gesetze studieren und sich dann daran anpassen.
Das Interesse an den Toten ließ Theorien entstehen, aus denen sich dann Literatur wie Frankenstein herausbilden konnte.

Die Allmacht der Natur wirkte sich also in zwei Bereichen besonders stark auf den Menschen aus, in dem der Sexualität und des Todes.


Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 14.06.2011 22:43 | nach oben springen

#22

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 15.06.2011 11:17
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zitat von Taxine
Wenn du beim Thema "Kannibalismus" bei Ohler angelangt bist, berichte mal.



Na ich konzentriere mich jetzt mehr auf die Aussätzigen. Pesttote, Hingerichtete, Selbstmörder, ungetaufte Säuglinge, Wöchnerinnen. An denen wollte glaube ich niemand knabbern


--------------
[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 15.06.2011 11:45 | nach oben springen

#23

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 16.06.2011 09:39
von LX.C • 2.821 Beiträge

Mal wieder ein kurzes Zwischenspiel.

Dochter jetzt ist schon hie din Stund
Bleich wirt werden din roter Mund;
Din Lyb, din Angesicht, din Har und Brüst
Mus alles werden ein fauler Mist.


Ohler berichtet auch über den Totentanz als Kunstgattung, die mit der Pest und dem damit einhergehenden neuen Verhältnis zum Tod im Spätmittelalter aufkommt. Vielerorts verloren die Menschen alle Scham und gaben sich Ausschweifungen und ihren Gelüsten hin. Selbst im klerikalen Bereich zwischen Mönchen und Nonnen sollen diese bezeugt sein.
Auch in der Kunst ist eine neue Schamlosigkeit zu beobachten. Der Respekt vor Gott und dem Tod schwand mit der Erkenntnis, dass es jeden zu jeder Stunde treffen könnte, sei er noch so fromm.
Wenn man Beulenbest nachschlägt erschreckt man tatsächlich, was für einen schnellen und gravierenden Verlauf diese Krankheit nimmt. Innerhalb von Stunden bricht die Krankheit aus, innerhalb weniger Tage, durchschnittlich vier Tage, führt sie zum Tod. Die braun-schwarzen Flecken zeigen eine Blutvergiftung im ganzen Körper an, ausgelöst durch Giftstoffe abgestorbener Bakterien im Blut. Der Kranke stirbt schließlich an einem toxischen Schock.
Die Menschen mieden sich auf der anderen Seite, Familiezugehörigkeit spielte keine Rolle mehr, Tote wurden auf die Straße geworfen, Pestknechte warfen sie in Massengräber außerhalb der Stadt. Was sie nicht wussten, der Hauptüberträger sind Flöhe, die von verendeten Nagetieren auf den Menschen übergehen. Von Mensch zu Mensch ist nur die Lungenpest übertragbar. Die letzte große Pestilenzwelle gab es Anfang des 20. Jh. in China, etwa 60.000 Menschen starben. Mit Verschlechterung hygienischer Zustände in Großstädten kann auch heute noch jeder Zeit eine neue Pestwelle ausbrechen.
Aber zurück zum Totentanz.


(Bildquelle: Kindlers Malerei Lexikon, dtv, München 1976, Bd. 8, S. 327.)

Auf Niklas Manuels (ca.1484-1530) "Der Tod als Kriegsknecht" ist zu sehen, dass der Tod nun als schamloser Geselle galt, der sich nimmt was er will:
"Das Bild schockiert nicht weniger als die Verse: Der Tod personifiziert als dürres Gerippe, küsst ein blühendes Mädchen, fasst mit den dürren Fingern der linken Hand nach ihrer Brust*, während die rechte den Oberkörper weiter entblößt. Das Mädchen klagt: Greulich greife der Tod sie an, das Herz wolle ihr im Leib zergehen; dabei sei sie doch einem jungen Burschen versprochen! Der Tod holt alle:" (Ohler, Norbert: Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990, S. 263.) Papst und Kaiser, König und Bischof, Jungfrau und Nonne, Hure, Wucherer und Dieb. Das hatte aber auch ein Gutes. Es galt nun wieder nach Lukas Kapitel 23, Zeilen 39-43, dass vor Gottes Gericht ein Jeder mit Gnade rechnen konnte.

*Schlimmer noch, er greift ihr an die Scham! - Ohler hat keine Abbildung in seinem Buch abgedruckt. Er bezieht sich entweder nur auf die dazugehörigen Verse oder auf eine verschwundene Zeichnung, die vor dem Fresko entstand.

Angefügte Bilder:
Manuel.jpg

--------------
[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 16.06.2011 10:05 | nach oben springen

#24

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 16.06.2011 12:59
von Martinus • 3.195 Beiträge

Werte Taxine,

herzlichen Dank für die wunderbare Schau in unsere Kulturgeschichte.

Zitat von Taxine


Bei dem Maler Orazio Fidani wird Erasmus perspektivisch bereits wie ein Leichnam in einer Anatomiestunde dargestellt. Ein Knecht öffnet den Unterleib des Märtyrers und nimmt ihm die Eingeweide heraus.

Zitat von Aries S. 472
Das ist nicht mehr das einfache Aufwickeln wie bei Bouts, das ist der Anfang einer Sektion am lebenden Körper.





Hierzu möchte ich einen bescheidenen Beitrag leisten und mich auf den Roman „Der Medicus“ von Noah Gordon beziehen, der im elften Jahrhundert, im Höhepunkt des Romans, in Persien spielt, damals aufgrund islamischer Vorstellungen es ein Unding war, Leichen aus medizinischer Notwendigkeit zu sezieren. Damals las man Galen, darum man wusste, dass jeder Schlächter weiß, um die Lage der Nieren und Harnleiter bei Schweinen, Rob der Protagonist und angehende Arzt aber protestierte, die Ärzte sollen sich nicht von Schlächtern beraten lassen, wie ein Mensch von innen gebaut ist, nur weil diese Schlächter Schweine ausnahmen. Man glaubte aber z.Zt. Galens, der Mensch sehe innen genauso aus wie ein Schwein. Griechische Zeitgenossen verboten Galen, Menschen aufzuschneiden, auch Juden und Christen scheuten sich davor.

Um einer Frau am Brustkrebs operieren zu können, wurde wegen der Schwere der Erkrankung das theologische Verbot aufgehoben, welches besagt, nur ein Ehemann dürfe den nackten Körper einer Frau anschauen. Dieses islamische Gebot mag heute wohl noch Ursprung der Gepflogenheit von der Verschleierung (Burka) von Frauen sein. Man darf sie nicht betrachten.

Im Roman ist Rob der erste Arzt, der, allerdings heimlich, eine Leiche seziert, um Organe zu untersuchen. 11. Jahrhundert!

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 16.06.2011 13:05 | nach oben springen

#25

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 17.06.2011 23:09
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Hallo LX.C und Martinus.

Zitat von Martinus
Dieses islamische Gebot mag heute wohl noch Ursprung der Gepflogenheit von der Verschleierung (Burka) von Frauen sein. Man darf sie nicht betrachten.


Dazu muss man aber doch sagen, dass sich die heutigen moslemischen Frauen aus eigener Überzeugung verschleiern, um ihren Körper vor fremden Augen zu verhüllen, weil es ihren Traditionen entspricht (es ist kein Zwang, sondern eine tiefe Überzeugung moslemischer Kultur), im Gegensatz zu der modernen westlichen Frau, die in dem Irrglauben lebt, weil sie sich nackt und als Sexobjekt präsentieren kann und darf, emanzipiert zu sein oder dass genau das die Emanzipation ausmacht, während sie dabei, ohne es zu bemerken, zu einem Stück Fleisch gerät und dass auch noch aus freiem Willen (oder der Annahme, dies freiwillig zu wollen). Diese Karikatur bringt jenen Konflikt gut zum Ausdruck, auch die jeweiligen Vorurteile:



Zitat von LX.C
Auf Niklas Manuels (ca.1484-1530) "Der Tod als Kriegsknecht" ist zu sehen, dass der Tod nun als schamloser Geselle galt, der sich nimmt was er will:
"Das Bild schockiert nicht weniger als die Verse: Der Tod personifiziert als dürres Gerippe, küsst ein blühendes Mädchen, fasst mit den dürren Fingern der linken Hand nach ihrer Brust*, während die rechte den Oberkörper weiter entblößt. Das Mädchen klagt: Greulich greife der Tod sie an, das Herz wolle ihr im Leib zergehen; dabei sei sie doch einem jungen Burschen versprochen! Der Tod holt alle:" (Ohler, Norbert: Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990, S. 263.)


Ah... über den berichtet Ariès, als er auf die Sexualisierung des Todes kommt, auch, aber spricht jene Szene doch offener an (toll, dass du das Gemälde dazu gefunden hast ):

Zitat von Ariès S. 472
Bei Nicklaus Manuel begnügt sich der Tod nicht damit, eine Frau, sein Opfer, zu bezeichnen, indem er sich ihr nähert und sie durch seinen Willen allein mit sich zieht, er vergewaltigt sie und stößt seine Hand in ihr Geschlecht. Der Tod ist nicht mehr Werkzeug der Notwendigkeit, er ist von Begierde nach Genuss belebt, er ist zugleich Tod und Begierde.



Seele wird Geist
Die Menschen des 19. Jahrhunderts stellten sich den Tod als schön, erhaben und besser vor, gingen davon aus, dass dort all die wiedergefunden werden, die man im Laufe des Lebens verloren hat. Der Tod wird als Trennung von den einander liebenden Wesen aufgefasst, nicht mehr als Verlust des Lebens. Er ist Tod des Anderen wie eigener Tod, und er ist eigener Tod nur für den Anderen. Gleichzeitig gesteht man den Toten auch eine Art Geisterdasein zu, dass nicht Gespenst, sondern lediglich Energie und Anwesenheit ist. Die Spiritualität findet Einzug in die Vorstellungen. Deutlich wird dieses neue Empfinden in der Literatur von den Brontë-Schwestern. Bei Emily in „Die Sturmhöhe“ versucht Heathcliff dem Grab seiner verstorbenen Geliebten nahe zu sein und wird erst von diesem Vorhaben abgebracht, als er ihre Anwesenheit spürt. Bei Charlotte Brontë in ihrem Roman „Jane Eyre“ sind es mehrere Situationen, in denen die Kommunikation mit Geistern stattfindet.
Hier öffnet sich der Glaube, dass die Toten in einen besseren Zustand finden, in den man, stirbt man selbst, ebenfalls eingehen wird. Die Hölle existiert nur noch bedingt. Die Menschen glauben zwar an sie, halten sie aber nur noch möglich für Verbrecher und bösartige Menschen, schließen sie also für sich selbst und den Durchschnitt der Welt aus.

Auch kommt Ariès ausführlich auf den berühmten französischen Friedhof Pere Lachaise zu sprechen, der Sinnbild des 19. Jahrhunderts ist und zunächst für die Reichen gedacht war, die aber den Kauf pompöser Grabstellen nicht in dem Maße wahrnahmen, wie es vorgesehen war. So wurden schließlich nach und nach die Berühmtheiten herangeschafft.
Die Friedhöfe in Frankreich (insbesondere in der Nähe von Paris) wurden im 18. Jahrhundert in der Vorstellung und Entwicklung der Medizin zur Gefahr, die Menschen fürchteten die Gifte und Ausscheidungen der Toten, fühlten sich bedroht von Seuchen und Krankheiten, die sie den Toten zuschrieben. So wurden etliche Friedhöfe aus der Stadt heraus verlagert, die Gebeine in großem Aufwand umgeschichtet, wenn auch häufig von betrunkenen Hilfskräften, die das Andenken der Toten nicht im geringsten achteten. Die Empörung der Gesellschaftsschichten hielt sich wahrhaft in Grenzen, stattdessen herrschte Gleichgültigkeit vor. Nur ein Jahrhundert später, im 19. Jahrhundert, da der Tod das Gesicht der Erhabenheit angenommen hatte, der Tote verehrt und geschätzt wurde, verhielten sich die Menschen ganz anders, als man erneut von gefährlichen Friedhöfen sprach, und begehrten auf, dass die Gebeine der Toten gefälligst in Ruhe gelassen werden sollten. Hier kam auch die Idee auf, dass man die Überreste der Toten zu Glas verarbeiten könnte, damit sich jeder seinen Toten im eigenen Heim aufstellen konnte. Die Idee wurde ernsthaft diskutiert. Ariès, als Historiker, beklagt natürlich die Gleichgültigkeit des 18. Jahrhunderts, wo z. B. die Katakomben den Friedhof ersetzten und etliche, alte Gräber durch die Verlagerung zerstört wurden, aus denen heute etwas aus der Vergangenheit zu erfahren gewesen wäre.

Schließlich waren Friedhöfe Gelegenheiten, mit den Toten zu kommunizieren, den sonntäglichen Spaziergang hierher zu verlegen, bis sich das 19. Jahrhundert erneut einem Wandel unterzog.

Anhand von Tolstois Erzählung „Der Tod des Ivan Iljitsch“ verdeutlicht Ariès sehr schön, wie der Tod zur Lüge, dann schmutzig und schließlich ganz und gar negiert wird, aus dem Bereich der Familie zum totgeschwiegenen und schließlich ins Krankenhaus abgeschobenen Zustand gerät. In seiner Krankheit sitzt Ivan Iljitsch gefangen wie ein Tier in der Falle. Auch bei Flauberts Madame Bovary wird der Tod nicht mehr als erhaben und schön beschrieben, sondern in aller Qual, die der Sterbende durchmacht, samt der Agonie und der Angst, zu sterben. Bei Tolstois Erzählung wird dem Sterbenden verheimlicht, dass er stirbt, während er es selbst herausbekommt und dann wütend auf die Familie ist, die ihn so behandelt, wie ein Kleinkind, als Teil eines mächtigen Schauspiels, an dem alle teilnehmen. Jeder macht dem anderen etwas vor, und der Sterbende fügt sich in dieses Spiel, bis er, stirbt er, noch ein letztes Mal selbst Regie führt.

Zitat von Ariès
Jeder ist also Komplize in einem Lügengewebe, das sich in eben dieser Zeit zu entwickeln beginnt und den Tod von nun an immer entschiedener in den Untergrund verdrängt. Der Kranke und seine Umgebung spielen miteinander die Komödie „Es ist alles beim alten“ oder „Das Leben geht weiter wie zuvor.“



Während der Tod also aus der Öffentlichkeit in den Privatbereich der Angehörigen verschoben wurde, entwickelte sich eine neuartige Beziehung zwischen dem Sterbenden und seiner Umgebung. Hier ist die Rede von der Abhängigkeit des Sterbenden. Das „den Tod nicht spüren“ ist an die Stelle des „Sein Ende nahe fühlen“ getreten. Die Menschen glauben daran, dem Sterbenden sein Ende zu erleichtern, indem ihm verheimlicht wird, dass er stirbt. Er hat den Tod nicht gespürt, heißt es, während im Mittelalter noch vorausgefühlt wurde, dass das Ende nahe ist und man sich in Ruhe auf den Tod vorbereiten konnte. Das ist dem Menschen des 19. und 20. Jahrhundert genommen worden.

Schon im 18. Jahrhundert zeigte sich die Veränderung, das Schweigen über den Zustand des Kranken, wobei der Priester die Aufgabe übernahm, dem Sterbenden zu vermitteln, dass sein Ende nahe ist, nicht so sehr durch Worte, sondern alleine durch sein Erscheinen. Schließlich wurde er nur noch gerufen, wenn es passiert war, diente also mehr zur Beruhigung der Anwesenden. Damit war die Letzte Ölung nicht mehr ein Sakrament für die Sterbenden, sondern für die Toten.
Im 19. Jahrhundert verschwanden die frommen Klauseln aus den Testamenten, das letzte Lebewohl, die Öffentlichkeit des Sterbens. Der Kranke wurde über seinen Zustand im Unklaren gelassen und ging schließlich dahin, ohne ein letztes Wort gesagt zu haben. Dieses Verhalten wurde im 20. Jahrhundert Voraussetzung.

Doch die Veränderungen gehen noch viel weiter. Die emotionale Anteilnahme wird vermieden und gerät in ein gewolltes Klima alltäglicher Banalität. Der Tod wird hässlich und unangenehm, unschicklich und dreckig.

Zitat von Ariès S. 727
Eben deshalb ist die Reinlichkeit zu einem bürgerlichen Wert geworden. Der Kampf gegen den Staub ist die erste Pflicht einer viktorianischen Haushälterin. Die christlichen Missionare verpflichten ihre Katechumenen ebenso sehr auf die Sauberkeit ihres Körpers wie auf die der Seele, deren Zeichen sie ist. Und noch heute beruft sich die Hetze gegen die langen Haare junger Leute sowohl auf die Hygiene als auf die moralische Sittenordnung. Ein sauberer Junge hat auch die Chance, saubere Ansichten zu entwickeln: er ist gesund.



Ein schmutziger Tod hat darin nichts mehr zu suchen. So muss der Tod verborgen werden, wird zum heimlichen Tod, weil er gemein und schmutzig ist, oder, wie Sartre es so schön in „Die Mauer“ formuliert hat: Die angeblichen Helden scheißen sich in die Hosen, und die wahren Helden sind zunächst einmal damit beschäftigt, alles zu tun, damit es ihnen nicht ebenso geht.

Zitat von Ariès S. 729
Das rasche Wachstum in Sachen Komfort, Intimität und persönlicher Hygiene hat uns alle empfindlich gemacht: ohne dass wir etwas dafür könnten, ertragen unsere Sinne nicht mehr die Anblicke und Gerüche, die, im Verein mit dem Leiden und der Krankheit, zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Bestandteil der Alltagswirklichkeit waren. Die physiologischen Begleiterscheinungen des menschlichen Lebens sind aus der Alltagwirklichkeit ausgebürgert und in die aseptische Welt der Hygiene, der Medizin und der Sittlichkeit verwiesen worden. Und diese Welt hat ein exemplarisches Modell: das Krankenhaus mit seiner Zellendisziplin.


Das Zimmer des Sterbenden hat den Ort gewechselt und ist aus dem eigenen Zuhause ins Krankenhaus verlagert worden. Diese Verlagerung wird von der Familie gebilligt und befürwortet.

Zitat von Ariès S. 730
Das Krankenhaus ist heute der einzige Ort, wo der Tod noch mit Sicherheit einer inzwischen selbst als unschicklich geltenden Öffentlichkeit (oder dem, was davon geblieben ist) entrinnen kann. Deshalb wird das Krankenhaus auch zum Ort des einsamen Todes.


Ein Herzstillstand macht keinen Lärm. So ist der Tod den Menschen des 20. Jahrhunderts lieb. Ruhig, verborgen, am besten weit vom eigenen Alltag und Leben entfernt. Selbst wenn ein Tod in der Familie auftritt, wird er abgetan, als hätte er sich auf das eigene Leben so gut wie gar nicht ausgewirkt. Die Menschen machen weiter und sind stolz darauf, wenn sie es hinbekommen, ihre Trauer zu verbergen und den Tod darin mit starkem Willen zu verkraften.

Auch die Hölle verschwindet ganz und gar aus den Vorstellungen der Menschen. Das Paradies ist eine Gegend, wo man keine Sorgen mehr hat, die Hölle beschränkt sich auf die hiesige Welt, aus der die ewige Verdammnis entschwunden ist. Man beruft sich darauf, lieber den Lebenden beizustehen als den Toten, eine neue religiöse Mentalität von nützlicher Tat und Kontemplation über den Tod.
Kurz: Der Tod wird verdrängt. Einmal wird er von denen, die mit dem Tod eines Menschen konfrontiert werden, wie eine ansteckende Krankheit aus Trauer und Mitleid empfunden, zum anderen gilt es, sich zusammennehmen zu müssen, die Trauer nicht öffentlich zur Schau zu tragen, denn im 20. Jahrhundert ist zu viel Trauer der Ansatz einer Nervenkrise. Wer trauert, sollte ärztliche Hilfe aufsuchen, statt sich gehen zu lassen.
Man sagt, ein Mensch hätte einen starken Willen oder Charakterstärke, wenn er seine Trauer nicht zum Ausdruck bringt und lobt ihn noch dafür, dass er seine Traurigkeit geheim hält. Der Tod ist komplette Verdrängung geworden und hat in der geordneten Gesellschaft keinen Platz mehr. Aber schon Freud und andere haben auf die Gefahr verwiesen, die unterdrückte Trauer auslöst, den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie deutlich gemacht. In der Gesellschaft ist Trauer morbide, während Psychologen natürlich die Verdrängung der Trauer für die Ursache der Morbidität halten. Trotzdem muss der Trauernde lernen, die Abwesenheit des Gestorbenen zu verkraften, „seine noch auf den Lebenden fixierte Libido „in sein Ich zurücknehmen“ und so den Verstorbenen „interiorisieren“. Störungen dieser „Trauerarbeit“ treten auf, wenn der Leidtragende stattdessen seinen Toten mumifiziert oder wenn ihm umgekehrt das Gedenken an ihn verwehrt wird.“

Ariès sagt, dass das Modell, das die Psychologen für naturgegeben halten (das langsame Verarbeiten der Trauer), historisch nicht weiter als ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Es ist das Modell des schönen romantischen Tods und der Friedhofsbesuche, das wir den „Tod des Anderen“ nennen.
Die Natur hat damit kaum etwas zu tun.

Durch den Fortschritt in Medizin und Technik wird das Sterben grundsätzlich zu einem Krankenhausaufenthalt, in dem nicht nur der Tod manchmal über die Maßen (durch künstliche Verlängerungen) hinausgezögert wird, sondern dabei auch zum Fehlschlag gerät.

Zitat von Ariès S. 751
Wenn der Tod eintritt, wird er als Zwischenfall aufgefasst, als Zeichen ärztlicher Unfähigkeit oder Ungeschicklichkeit, das es schleunigst zu vergessen gilt. Er darf die Krankenhausroutine nicht stören, die so viel anfälliger ist als die jeder anderen Arbeitswelt. Er muss also diskret sein, auf Zehenspitzen kommen.



Die Dauer des Todes hängt von nun an von einem Zusammenspiel zwischen Familie, Krankenhaus und Justiz (z. B., wenn sich Ärzte weigern, bei einen Komapatienten, der nie wieder aufwachen wird, die Gerätschaften abzuschalten, dass die Familie vor Gericht gehen muss) oder von einer souveränen Entscheidung des Arztes ab. Der Sterbende dankt langsam ab und überlässt seiner Familie die Entscheidung über das Ende seines Lebens. Wenn man sich, zum Vergleich, noch einmal die erhabene Geste eines Menschen des Mittelalters vor Augen führt, der den Tod spürt, sich langsam und ohne Angst darauf einstimmt, dann ist dass wirklich eine irgendwie traurige Entwicklung.

Liebe Grüße
Taxine

Angefügte Bilder:
tumblr_llpw7p8hW71qfwyc9o1_500.jpg



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 18.06.2011 10:58 | nach oben springen

#26

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 18.06.2011 10:49
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zitat von Taxine

Dazu muss man aber doch sagen, dass sich die heutigen moslemischen Frauen aus eigener Überzeugung verschleiern, um ihren Körper vor fremden Augen zu verhüllen, weil es ihren Traditionen entspricht (es ist kein Zwang, sondern eine tiefe Überzeugung moslemischer Kultur), im Gegensatz zu der modernen westlichen Frau, die in dem Irrglauben lebt, weil sie sich nackt und als Sexobjekt präsentieren kann und darf, emanzipiert zu sein oder dass genau das die Emanzipation ausmacht, während sie dabei, ohne es zu bemerken, zu einem Stück Fleisch gerät und dass auch noch aus freiem Willen (oder der Annahme, dies freiwillig zu wollen).



Du gerätst hier aber in große Widersprüche, da man die "Annahme, dies freiwillig zu wollen" ebensogut oben auf die freiwilligen Verschleierungen beziehen kann und die Handlung "aus eigener Überzeugung" ebensogut unten auf die westlichen Frauen ....
Im übrigen ist die Verschleierung keineswegs eine "tiefe Überzeugung moslemischer Kultur" (die es so auch gar nicht gibt). Ich kenne mehrere moslemische Frauen, die sich aus tiefer Überzeugung nicht verschleiern und dir auch eloquent erläutern könnten, dass dies im Islam auch gar nicht nötig ist. Und als ich mal in Izmir war, war ich doch sehr erstaunt, dass man dort die verschleierten Frauen auf der Straße an einer Hand abzählen konnte. Ich habe tatsächlich einen ganzen Nachmittag lang in der wuselnden Menschenmenge der Straßen von Izmir ganze fünf Frauen mit Kopftuch gezählt.




Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
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#27

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 18.06.2011 10:54
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ich meine natürlich die Frauen, die sich heute noch verschleiern.
In der Verschleierung liegt eine freiwillige Überzeugung, da, wie du ja auch sagst, das im Islam gar nicht nötig ist. Die westliche Versexualisierung der Frau ist keine freiwillige Entscheidung, sondern eine von der Gesellschaft aufgedrängte Richtung und Mode, die als "freier Wille" verkauft wird.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 18.06.2011 10:57 | nach oben springen

#28

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 18.06.2011 11:00
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zitat von Taxine

In der Verschleierung liegt eine freiwillige Überzeugung, da, wie du ja auch sagst, dass im Islam gar nicht nötig ist. Die westliche Versexualisierung der Frau ist keine freiwillige Entscheidung, sondern eine von der Gesellschaft aufgedrängte Richtung und Mode, die als "freier Wille" verkauft wird.



Die Verschleierung kann aber den Frauen auch durch ihre Familien (oder im Iran durch die berüchtigen Revolutionswächter) aufgezwungen sein. Ergo: Eine Frau verschleiert sich entweder aus freiem Willen, oder weil es ihr aufgedrängt wird. Und ich fürchte, bei den westlichen Frauen ist es nicht anders ...




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#29

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 18.06.2011 11:06
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Vieles, was wir z. B. über das Aufzwingen einer Verschleierung von Frauen von "berüchtigten Revoultionswächtern" hören, ist eine Verzerrung durch die Medien...

Tja, ein Thema, bei dem sich die Geister scheiden...




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 18.06.2011 11:07 | nach oben springen

#30

RE: Philippe Ariès "Geschichte des Todes"

in Sachen gibt's - Sachbuch 18.06.2011 11:10
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Und ist nicht Nacktheit der Urzustand der Menschen? Wie kann die Gesellschaft Menschen dazu "zwingen", ihren natürlichen Zustand anzunehmen? Zwingt die Gesellschaft nicht immer in die entgegengesetzte Richtung? - Aber das gehört eher in ein Thema "Geschichte der Kleidung" ...




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