HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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"Stern der Ungeborenen"
"Die Zeit brannte von beiden Enden auf die Mitte zu, und die Mitte war mein unbeschütztes und ausgesetztes Ich."
Es ist schon erstaunlich, dass man ab und an auf Romane trifft, die einen völlig überraschen, obwohl man das Lesen wirklich lange hinausgeschoben hat, wie ich im Falle von Werfel, den ich mehr durch sein Leben mit Alma als durch seine Bücher kenne. Und nun öffnet sich hier ein fantasievoller Zukunftsroman, mit der Begegnung des Autors als zunächst Unsichtbarer in einer fernen Zukunft, der dort durch einen einstigen Schulfreund wiedererweckt und durch Zitat heraufbeschworen wird, der jedoch, im Vergleich zu ihm, bereits etliche weitere Leben hinter sich hat, während der Ich-Erzähler F. W. noch ordentlich in der Vergangenheit festhängt. Seine Einführung in die neue Welt gleicht der von Dante mit der Führung durch Vergil. So ist auch das Buch wie die "Göttliche Komödie" in drei Teile aufgeteilt.
Hunderttausend Jahre später sind die Menschen kaum noch mit materiellen Dingen beschäftigt. Sie leben in einer mit grauem Rasen überzogenen Welt, in unterirdischen Häusern mit dynamischen Tapeten voller eigener Visionen, unter einem blauen, künstlich wirkenden Himmel und laufen verschleiert und leicht verwischt nackt herum (eine unschuldige, fast paradiesisch anmutende Nacktheit). So unterscheiden sie sich kaum noch voneinander, zumindest auf den ersten Blick. Sie speisen im Stehen und kosten dabei mehr Substanz als Materie. Einzig im Hund ist die Angemenschtheit noch sichtbar, daher kann er auch sprechen. Dagegen werden negative Meinungen oder Aufrichtigkeit nicht mehr geschätzt und so verwandelt sich das Gesagte sofort in unverständliches Kauderwelsch, falls jemand meint, seine ehrlichen Ansichten verkünden zu müssen.
Bald gelingt es F. W. dann doch, die Physiognomie zu unterscheiden, so dass er mehr über die Charaktere seiner Gastgeber erfährt, bei denen er auf eine Hochzeit eingeladen ist und als Geist der Vergangenheit (von den Anfängen der Menschheit) als Geschenk für das Brautpaar dient. Um mit dieser Welt vertrauter zu werden, versucht F. W. die Gewohnheiten zu studieren und mehr über die Zeiten zwischen seiner Erinnerungswelt und der Gegenwart zu erfahren. Das gelingt durch Beobachtung, durch das Stellen von Fragen und dem gegenseitigen Austausch. So möchte der Bräutigam Io-Do, ein Sammler alter Waffen, in einer Zeit, in der Gewalt und Tod nicht mehr existieren, beispielsweise von ihm wissen, worum es im Ersten und Zweiten Weltkrieg ging. F. W. ist um eine Antwort nicht verlegen:
Zitat von Werfel
"»Ja, worum ging es in diesen zwei Weltkriegen meiner Lebenszeit, bester Io-Do? Wenn sich das so leicht sagen ließe. Es ging um ein trübes Spülicht, um ein schmutziges Gebräu von Arbeitskrisen und Ersatzreligionen. Je unechter nämlich eine Religion ist, um so fanatischer beißen ihre Anhänger um sich. Meine ehemaligen Zeitgenossen waren fanatisch darauf versessen, keine Seelen und keine Persönlichkeiten zu besitzen, sondern Ich-lose Atome materieller Großkomplexe zu sein. Die Einen hingen dem Großkomplex ›Nation‹ an, indem sie die Tatsache der Zuständigkeit, daß sie nämlich in irgendeinem Lande und unter irgendeinem Volke geboren waren, zum ewigen Wert erhoben. Die andern hingen dem Großkomplex ›Klasse‹ an, indem sie die Tatsache, daß sie arm und niedrig geboren waren und dies nicht länger sein wollten, zum ewigen Wert erhoben. Beide Großkomplexe waren jedoch für ihre Anhänger ziemlich leicht austauschbar, da beinahe jedermann sowohl arm war als auch einer Nation angehörte."
Alles in dieser Zukunftswelt ist steril und vereinfacht. Man vermeidet die gebrochene Linie, entsprechend das Sitzen, und es gebührt der Höflichkeit, sich freundlich zu geben und ein Lächeln aufzusetzen.
Zitat von Werfel
"Ich hatte schon lange begriffen, daß man sich in diesem Zeitalter immer und überall angenehm machen mußte, um weiterzukommen. Dieses Kalfaktern verpflichtete weiter zu nichts. Es war grund- und zwecklose Liebenswürdigkeit, gute Manier, freundliche Kultur, es war die unbewußte Abbitte für viele dunkle Weltalter, in denen der Mensch die Zähne nur entblößt hatte, um sie dem Feinde entgegenzufletschen, und auch für andre, spätere, doch nicht minder dunkle Weltalter, wo der photogene Mensch die Zähne nur entblößt hatte, um sich selbst als Ware anzubieten."
Hinter dieser geordneten Welt verbergen sich jedoch bereits brüchige Stellen. So gibt es die Unterwelt der Ausgestoßenen oder den "Dschungel", wo Menschen wieder zurück in die Wildnis finden.
Der Humor wechselt in diesem Roman mit philosophischen Betrachtungen. So begeistert Werfel neben den fantastischen Einfällen immer wieder mit Wissen und Deutungen seiner Zeit, durch die man viel über die damaligen Ansichten, über die Auseinandersetzung mit Gott und der Bibel oder über solche Phänomene wie die "Levitation" erfährt. Hier ein schönes Beispiel:
Zitat von Werfel
"Doch nicht nur von buddhistischen Eingeweihten, neuplatonischen Mystikern und katholischen Heiligen wird jene Raumerhebung bezeugt, sondern von ganz ordinären Leuten, wie zum Beispiel von der Bürgerin Anna Fleischer aus Freiberg, von welcher der protestantische Superintendent Möller in seiner Beschreibung der genannten Stadt Freiberg uns erzählt, »daß sie, epileptisch und von schweren Visionen heimgesucht, im Beisein der Herren Dachsel und Waldinger, urplötzlich im Bette, mit dem ganzen Leib, Haupt und Füßen, bei dritthalb Ellen hoch aufgehoben ward, so daß sie freischwebend blieb, die Anwesenden aber zu Gott schrien, sie umfingen und herabrissen, denn es hatte das Ansehen, als ob sie wolle zum offenen Fenster hinausfahren«."
Dazu scheint Werfel stark von Heidegger und seinen Wortschöpfungen inspiriert zu sein, was beim Leser das eine oder andere Lächeln auslöst. Der Roman hält eine sehr schöne Spannung aufrecht und ist allgemein von Sympathie geprägt. Zudem macht er neugierig auf weitere Werke dieses eigenartigen Schriftstellers, dem man diesen enormen Drang nach Wissen gar nicht so zugetraut hätte. Und wie lange habe ich nach genau solchen Werken gesucht, die Anregung geben oder einen mit der einen oder anderen Wissenslücke konfrontieren. Zwar ist einiges manchmal auch etwas widersprüchlich, dennoch passt es ins Gefüge.
Hervorzuheben ist auch die prophetisch anmutende Vorahnung des Todes, wenn man bedenkt, dass Werfel das Werk 1945 beendete und im gleichen Jahr verstarb. Es erschien erst posthum 1946. Im Buch wird viel über das Unausprechliche/Unausweichliche diskutiert und reflektiert. - "Hol über, Fährmann, hol über..." - Ebenso fürchtet sich F. W. davor, einzuschlafen, um sein Ich nicht vollständig einzubüßen, denn er ist lediglich ein Besucher auf Zeit.
"Den echten Tod kenne ich. Der ist einfach und schlicht und handfest, und man sollte ihn nicht als Knochen- und Sensenmann darstellen, sondern als alten Bauern, der prüfend in den Sonnenuntergang schaut."
(Alle Zitate stammen aus der Ausgabe: Franz Werfel "Der Stern der Ungeborenen", Fischer Verlag)
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