background-repeat

Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Virtual Reality oder das Leben als Simulation

in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 05.03.2024 13:40
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

"Gott hat alles aus dem Nichts geschaffen, aber nichts behauptet sich." (Paul Valéry)

"Sim City" war eines der ersten Spiele, in dem Menschen Leben spielten. Sie konnten sich Häuser, bauen, mussten essen, arbeiten gehen, einen Freundeskreis aufbauen, ausgehen, Fitness machen und ähnliches, um die Spielfigur am Leben zu erhalten, gleichzeitig konnte man ein "besseres Leben" kreieren und der Aufbau dieses Lebens kostete Stunden, also echte Lebenszeit. Es ging nicht mehr um eine reine Fantasie-Welt, sondern um eine Welt, die die Wirklichkeit imitiert und in der es einfacher war, erfolgreich zu sein. Die Herausforderungen im Spiel waren, im Vergleich zu anderen, relativ gering und trotzdem waren viele begeistert. Sie schufen sich täglich ganze Welten und mussten gleichzeitig am Ball bleiben, um den Fortschritt zu halten.

Die Ursprünge für diese Möglichkeiten liegen in realen Bedingungen, darunter die ganz normale Beziehung zwischen zwei Menschen, in der sich jeder den anderen als Ideal erschafft und dann enttäuscht ist, wenn dieser dem Bild nicht entspricht. Wie im Spiel eine ständige Verbesserung erzielt wird, muss auch der Partner irgendwann etwas "bieten", sei es Aufmerksamkeit, Zuneigung, der Beweis der Liebe, Arbeit, Erfolg oder später Voraussetzungen, die bereits Erwartungen, Forderungen sind, um das Zusammenleben zu gewährleisten. Daran zerbrechen nicht wenige Beziehungen, wenn das Traumbild eines Lebens nicht umgesetzt wird.

Pessoa hat in seinem "Buch der Unruhe" schön gesagt, wir lieben im anderen nur uns selbst. Wir projizieren auf ihn unsere Wünsche, unser Wunsch-Gegenüber, unsere Illusion eines Menschen, wie wir ihn haben wollen, gar eine bessere Version unserer selbst. Das ist die Subjektivität, die wir nicht überwinden, so dass wir auch im echten Leben eine Wunschwelt kreieren, eine Möglichkeit zu leben, nach unseren Bedingungen, die am Gegenüber entweder scheitern oder Kompromisse verlangen. Im Grunde ist es bereits eine Simulation, die irgendwann so weit reicht, dass ein echter Mensch dazu gar nicht mehr notwendig ist, obwohl gerade die Unterschiede der Charaktere, eben das, was über unsere Imagination hinausreicht, das Interessante und die eigentliche Herausforderung ist. Aber selbst das lässt sich in der Virtual Reality kreieren, jenes Unerwartete, erschaffen durch KI und Algorithmen.

Soziale Netzwerke funktionieren wie "Sim City", wenn es darum geht, das echte Leben immer mehr in die virtuell digitale Ebene zu verschieben. Einerseits bieten sie eine weltweite Kommunikation, man lernt Menschen kennen, denen man nie begegnet wäre, andererseits ist diese Verbindung sehr brüchig und oberflächlich, wird aber todernst genommen. Dahinter steckt natürlich auch die Möglichkeit der politischen Kontrolle, während der Mensch immer mehr von sich offenbart, sich geistig entblößt und genau zeigt, was er denkt und fühlt. So werden im digitalen Bereich, wie durch die Meinungsmache mithilfe der Medien, bestimmte Richtungen vorgegeben und der Mensch in die gewünschte Richtung gelenkt.

Bedenklich bleibt, dass heutige Generationen nur noch mit diesen virtuellen Räumen aufwachsen, während unsere Generationen noch wissen, wie es war, ohne Smartphone und Internet zu sein. Wir kommunizieren, informieren, agieren in dieser virtuellen Welt, bezahlen mit unseren Geräten, die irgendwann durch den Chip ersetzt sind, der nicht aufgezwungen sein wird, sondern den sich Menschen, wie wir heute erahnen können, aus reiner Bequemlichkeit und Gewohnheit freiwillig einsetzen lassen. Das ständige und zwanghafte Online-Sein-Müssen verflacht allerdings auch die Gefühle, kreiert Unruhe und schafft neue Psychosen, wie die sehr sichtbaren narzisstischen Tendenzen einer täglichen und permanenten Selbstdarstellung. Auch das dient der Ablenkung vom Wesentlichen, beschäftigt die Menschen, die ihren Gewohnheiten folgen, die täglich, wie in "Sim City" am Ball bleiben müssen, um ihren Account zu füttern und Freundschaften zu erhalten.

Dieses virtuelle Konstrukt ist selbstredend eine Illusion und dennoch ersetzt es mehr und mehr den normalen Alltag für viele Menschen, die sich dort ganze Persönlichkeiten kreieren und sich selbst vermarkten. Statt das eigene Leben zu verbessern, flüchten sie sich ins Virtuelle, suchen den Austausch, der oftmals nur aus Liken und Kurzkommentare, nicht aus einem guten Gespräch besteht, wodurch der geistige Anspruch allgemein sinkt. Statt sich im Café miteinander zu unterhalten, schaut jeder nur auf sein Smartphone und ist permanent abrufbar. Im echten Miteinander bleibt wenig zu sagen, wie jene alten Ehepaare, die im Restaurant speisen, ohne auch nur ein Wort zu wechseln.

Dorthin soll sich die Menschheit entwickeln, in die völlige Isolation seiner selbst. Dann wird das Außen nicht mehr so wichtig, während die digitale Welt die Gefühle diktiert und verzerrt. Wenn wir alle nur noch in einem nackten Raum sitzen, der uns in seiner Beschaffenheit am Ende auch völlig egal ist, wenn wir Insekten-Müsli essen, Pillen für die Emotionen schlucken, dabei die virtuelle Brille auf der Nase, um in digitale Welten zu tauchen, verkümmern andere Sinne. Vielleicht auch unsere Menschlichkeit, denn virtuell ist alles möglich, besonders die Grenzüberschreitung.




Art & Vibration
nach oben springen

#2

RE: Virtual Reality oder das Leben als Simulation

in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 08.03.2024 01:47
von Sokolow • 189 Beiträge

Ich lese gerade Hermynia zur Mühlen, was für ein Name!
ich erwähne sie, weil mir dass was du da schreibst genau dort auffällt, sie kämpft, sie verirrt sich,
sie ist ein Kind, dass an den Anarchismus glaubt, sie gibt anarchistische Hefte heraus, mit einer Auflage von sechs Stück und
hofft auf die Weltrevolution und ich denke, scheiss drauf ob es mit der Revolution etwas geworden ist, der Traum davon kann
nie die Leere sein in der wir jetzt sitzen. Nein, es ist nicht unerträglich geworden heute, es ist viel schlimmer, es ist eine vollkommen
gleichgültige Zeit.
Die Atombombe rückt näher (ich höre sie schon stolpernd rufen, "ich bin gar nicht so schlimm") aber die Menschheit teilt sich auf
in gute Menschen, die Menschen mit anderer Hautfarbe und einer anderen Herkunft deshalb lieben, weil sie eine andere Hautfarbe
und eine andere Herkunft haben und die anderen, die Menschen hassen die eine andere Hautfarbe und eine andere Herkunft haben.
Auf die Idee zu kommen, dass man sich erst einmal kennenlernen müsste, um herauszufinden, ob man den anderen mag, kommt
keiner der beiden Gruppen.
Beide belästigen einander mit groben Weisheiten und wissen alles von dem anderen, ohne auch nur etwas zu wissen.
Ich habe noch bei Jugo Radnik Gießen Fussball gespielt, ich war in Jugoslawien gewesen, ich verliebte mich in dieses Land und
in eine Jugoslawin, die auch Bosnierin war, die Sozialistin war und die Muslimin war.
Jedes Jahr besuchte ich deren Familie, jedes Jahr verliebte ich mich mehr in dieses Land, man muss sich nicht verlieben um jemanden
zu kennen und zu schätzen, aber man konnte es. Rede ich wirr? Ich weiß nicht.
Du hast recht, durch Facebook lernt man Leute kennen, die man nie kennengelernt hätte, dich zum Beispiel, auch ein paar BosnierInnen, von einer Dirigentin aus Mexico hätte
ich sicher nie erfahren, aber man lernt auch den nichtssagenden deutschen Literaturbetrieb bei Facebook kennen und da ist schlimm, das tut weh und ich sehne mich nach meinen alten Torwarthandschuhen zurück und nach Bällen die man gar nicht fangen kann

nach oben springen

#3

RE: Virtual Reality oder das Leben als Simulation

in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 08.03.2024 12:52
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ich würde gar nicht so sehr sagen, es ist eine gleichgültige Zeit. Es ist eher eine Zeit, in der so viel Chaos passiert, dass keiner mehr durchsieht, aber jeder eine Meinung vertritt. Sie sind selten bereit, sich mit den Hintergründen zu beschäftigen, nehmen aber Position ein und verteidigen diese so verbissen als hätten sie sie selbst geistig erschlossen. Das ist nur möglich, weil über die Diskussion in Social Media und innerhalb der digitalen Welt das echte Leid und Blut nicht spürbar sind und sie auf ihrer bequemen Couch in ihrem warmen Wohnzimmer sitzen, wenn sie nach Krieg und Rache und mehr Waffen brüllen. Sie wissen nicht, warum sich Dinge so entwickelt haben und merken ebensowenig, wie sie jeden Tag weiter aufgehetzt werden, nicht nur im Tagesgeschehen, in den Daily-News und einseitig inszenierten Talkshows, sondern auch durch Kultursender, die ernsthaft diskutieren, ob Dostojewski noch lesbar ist, weil die Ukrainer ihn hassen, oder stolz berichten, dass die Theaterszene jubelt, weil ein Stück von Bulgakow Putin provoziert. Und das sind nur einige Beispiele. Wir werden auch dort manipuliert, wo wir es nicht erwarten.

Letztens empörte sich einer auf Wordpress, dass er, als er mehr Waffenlieferungen für die Ukraine forderte, Kommentare erhielt, die ihn aufforderten, dann bitteschön auch selbst an die Front zu gehen. Da war er erbost und redete von Putin-Trollen und forderte mehr Zensur. Dass er der Auslöser war, weil er unreflektiert die Kriegshetze übernahm und weitergab, war ihm nicht bewusst. Wegen solchen Menschen ist es für Politiker so einfach, fatale Entscheidungen zu treffen, und die Gemüter zum Kochen zu bringen, dass sie alles fordern und unterstützen, was als notwendig verkauft wird. Solche fürchten den Klimawandel mehr als die Atombombe, weil sie überhaupt nicht kapieren, wie sich all das auf ihre heile Welt vor dem Bildschirm real auswirken kann. Von Hass diktiertes Denken hat noch nie etwas Gutes bewirkt. Im Hass liegt bereits der Irrtum.


P. S. Nein, wir haben uns nicht über Facebook, sondern über dieses Forum kennengelernt. Du hattest es gefunden, weil du im Netz auf meine Rezension zu Sokolow und "Die Schule der Dummen" gestoßen bist. Gleichgesinnte finden sich immer. 🙂




Art & Vibration
nach oben springen

#4

RE: Virtual Reality oder das Leben als Simulation

in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 08.03.2024 15:38
von Sokolow • 189 Beiträge

du hast natürlich recht :-) hier im Forum war es

nach oben springen


Besucher
0 Mitglieder und 2 Gäste sind Online

Forum Statistiken
Das Forum hat 1115 Themen und 24631 Beiträge.

Xobor Einfach ein eigenes Forum erstellen | ©Xobor.de
Datenschutz