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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

April bis August 2025

in Lektüreliste 28.04.2025 09:17
von Salin • 518 Beiträge

Ulf Poschardts Shitbürgertum ist nun auch in einer haptisch angenehmen gebundenen Ausgabe erschienen, nachdem es zuerst (!) als Taschenbuch rauskam.
Bemerkenswert ist seine deutlich, ja deftig formulierte strukturelle Analyse, neben Naheliegendem insbesondere bezüglich Sprache und Popkultur. In der Beschreibung von Phänomenen der Gegenwart dem Besten amerikanischer Essayistik durchaus ebenbürtig, inklusive gelegentlicher Zuspitzung. Bei seiner Diagnose spricht er unter anderen von Regression und Abspaltung, womit er Begriffe aus der Psychoanalyse verwendet. Ansonsten ist sein Blick der eines Liberalen, den man nicht teilen, aber auch nicht derart problematisieren und jenseits allem Akzeptablen stellen muss, wie es die wohlkalkulierten Verrisse aus dem von ihm angesprochenen Milieus tun.
Dieses Buch wird sicher nicht so bald vergessen werden.

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#2

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 29.04.2025 12:50
von Taxine • Admin | 6.708 Beiträge

Ich selbst bin immer wieder dankbar für den Blick von außen, den ich durch das Verlassen des Landes auf Deutschland werfen kann. Ich stelle es mir sehr schwierig vor, inmitten dieser unheilvollen Entwicklung zu leben und das Chaos zu ordnen, in dem sich Deutschland befindet und in das sich das Land durch seine fatale woke-grüne Politik (die jetzige schwarz-rote ist keinesfalls besser) und eine gerne diskutierende und empörende, aber kaum aufbegehrende Bevölkerung selbst hinein manövriert hat, mit Politikern, die satt, elitär und ungebildet auftreten und alles verfolgen, was sie kritisiert.

Jenes Verharren im bloßen "Dagegensein" trifft es auf den Punkt, denn die Substanz der Kritik reicht selten an den tiefen Kern der Problematik heran. Das berüchtigte "Teile und Herrsche" ist heute aktueller denn je, wobei Deutschland bewusst auf Links gegen Rechts setzt, das als mittlerweile leere Phrase seine einstige Bedeutung verloren hat (obwohl immer noch genügend darauf hereinfallen). Wir sehen: der Links-Grüne tritt heute faschistisch auf, präsentiert sich aber gleichzeitig als Gutmensch und zelebriert die Kunst der moralischen Inszenierung. Er will das Klima retten, den Menschen vor tödlichen Viren beschützen, die Grenzen für alle "Gleichen" öffnen (die das allerdings selbst ganz anders sehen und vor allem des Geldes wegen in Massen eintreffen, während sie die Bevölkerung der jeweiligen Länder hassen und nicht respektieren), lässt seine Politik durch Spaltung fördernde NGOs finanzieren und setzt das alles konsequent, wenn nötig, auch mit Gewalt und Zensur durch, ... kurz, er will mit seinem "Kampf für Gerechtigkeit" das eigene Land willentlich zerstören. Dabei treffen wir bei ihm auf eine Befindlichkeit, die mittlerweile bereits bei harmlosen Wörtern einsetzt und die er als politisch unkorrekt verdammt, während er gleichzeitig, ganz politisch unkorrekt, den nächsten Krieg anzettelt. Es ist schön, wenn selbst polemische Schriften das Ganze wenigstens ins Wort fassen, auch wenn sie am Ende wahrscheinlich keine Lösung bieten.

Ich habe das Buch von Poschardt nicht gelesen, bin aber durchaus durch die "wohlkalkulierten Verrisse" und die schon wieder extrem stattfindende Spaltung innerhalb der Rezensionen neugierig geworden. Während die als "rechts" diffamierte liberale Mitte das Buch lobt, hat die grün-linke Fraktion das Buch entweder nicht verstanden oder argumentiert genau mit den Schlagwörtern, aufgrund der Poschardt seine Empörung ins Wort gefasst hat, mit "Rechts", "Schwurbler", usw. Von Poschardt kannte ich bisher nur sein Buch "Cool".


Gefallen hat mir dieses Zitat:

„Unser Problem ist nicht Rechts gegen Links – sondern jene, die Gleichheit predigen, während sie ihre Privilegien schützen.“




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#3

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 02.05.2025 20:47
von Salin • 518 Beiträge

Mir fielen Sätze auf wie diese:
"Mit dem Marsch durch die Institutionen wurde das Rebellentum verbeamtet."
"Mit jedem Steuer-Euro, der in den Kulturbetrieb investiert wird, verliert die Kunst mehr Freiheit."

Beim Blick auf die von regierenden Politikern ernannten Theaterintendanten sowie deren Spielpläne und -inszenierungen wird offensichtlich, dass die gewünschte Politisierung tatsächlich stattfindet, in einer ganz bestimmten schmalen Richtung, trotz beschleunigtem Publikumsschwund. Ein solches jährlich mit Millionen Euro subventioniertes und entsprechend politisch ausgerichtetes Theater habe ich hier vor der Nase.

Vor 30 Jahren nannte sich Rebellentum links, während dieses Adjektiv heute meist mit totalitären Tendenzen und Menschenverachtung gleichzusetzen ist. Sie reden von Diversität und wollen in den gekaperten Institutionen nur jene zulassen, die auf ihrer Linie sind, also Typen wie Nils Schniederjann, der von einem streng sozialistischen Magazin zum DLF wechselte, dort nun Kulturfragen-Interviews führt und Moderator eines Literatur-Magazins ist, wenn er nicht bei X in der Vorweihnachtszeit eine "Wiedereinführung der Todesstrafe, aber nur für Superreiche" fordert.

Poschardt weist im Buch darauf hin, dass die selbstinthronisierende Verallgemeinerung der eigenen Moralvorstellungen sowohl in linken urbanen Milieus zu finden ist als auch in rechtskonservativ geprägten provinziellen Ecken.

Ebenfalls erwähnenswert ist das souveräne, schlichte, aber treffsichere Einband-Design von Marek Polewski, der in diesem Jahr nach 2020 zum zweiten Mal für einen Grammy nominiert war. Dieses wurde schon für die Erstausgaben verwendet, für Taschenbuch und E-Book.
Erstaunlich auch die Lockerheit des Autors, besonders angesichts des Themas und des Titels. Mit "Venceremos" schließt der Text, manchen vielleicht u. a. als Abschiedsgruß aus dem Prenzlauer Berg bekannt. Und dann auf der Buch-Rückseite: "MACHT / KAPUTT / WAS / EUCH / KAPUTT / MACHT", der alte Scherben-Titel.
Die bekanntesten Interpreten von Scherben-Songs im sozialistischen Osten waren André Greiner-Pol von Freygang, bis er Berufsverbot bekam, und "Kirsche" von Pasch, die gleichfalls Auftrittsverbote bekamen. Beide hatte ich auf Live-Konzerten erlebt. Bei Pasch wurde damals ab Mitte des ersten Songs die komplette Beleuchtung des Zuschauerraumes eingeschaltet und für den Rest des Konzertes schauten auf uns von einem oberen umlaufenden Gang dutzende Uniformierte herab.

zuletzt bearbeitet 03.05.2025 07:46 | nach oben springen

#4

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 11.05.2025 14:59
von Taxine • Admin | 6.708 Beiträge

Zwei Wortschöpfungen fand ich in "Shitbürgertum" besonders gelungen, das "moralische Hochrüsten" und der "Wasauchimmer-Aktivismus".

Zitat von Poschardt
"Weil man aber nicht nur dem Staat das Wort reden will, konstruiert man ein säkulares Double: das Wir." (...) Das Wir ist exklusiv, formuliert von jenen, die gerne von Inklusion sprechen. Zur Beherrschung der Sprach- und Kulturkontrolle gehört zum Wir die Definition des Nicht-Wir und damit die Ausgrenzung – mithilfe zum Teil robuster Methoden der Denunziation und mit medialen Schauprozessen. (...) Wer kritische Fragen hatte, gehörte nicht zum Wir."



Dieses „Wir“ ist mir auch verstärkt aufgefallen, je mehr der Staat versucht, die Menschen zu lenken und für die eigenen Schandtaten zu mobilisieren. Als die Rede davon war, dass" „wir wieder kriegstüchtig werden müssen“, habe ich mich gefragt, wer ständig mit diesem "Wir" gemeint ist, denn die meisten Menschen wollen keinen Krieg, sie wollen Frieden. Dieses "Wir" soll Gemeinschaftssinn suggerieren, soll an das soziale Wesen appellieren, soll zeigen, dass hinter dem, was geplant wird, eine Notwendigkeit liegt. Auch das "tüchtig" spricht Bände, vermittelt Heldentum, wo es kein Heldentum gibt. Natürlich ist es dreckige Aufrüstung (wofür soziale Bereiche vernachlässigt werden) und Kriegsvorbereitung, nichts anderes. Wie auch immer die deutsche Politik agiert, die Propaganda wirkt nicht, wie gewünscht, ganz einfach, weil wir vor allem mit Frieden, Abrüstung und Diplomatie erzogen wurden und Bücher gelesen haben, die nicht, wie heute, über Diversität, Migration und Klimakatastrophen berichten, sondern über die Zerstörung und das Leid, die durch Krieg angerichtet wurden. Bei den nachfolgenden Generationen wird das natürlich anders sein. Propaganda ist nicht nur ein lästiges Zeitphänomen, sondern hat auch die Aufgabe der Bildung künftiger „Meinungen“.

Ich teile einige Ansichten Poschardts, viele aber auch nicht, vor allem in Bezug auf seine Antisemitismus-Vorwürfe. Was er über die Gruppe 47 sagt, mag teilweise stimmen. Das erinnert mich an Sänger wie George Dalaras, der unter der griechischen Diktatur erfolgreich war, hinterher aber behauptete, er wäre überzeugter Linker gewesen, hätte sich nur getarnt und in seinen Texten geheime Botschaften versteckt, die man bis heute vergeblich sucht. Aber so heuchlerisch waren Grass, Böll, Beuys und Walser wohl eher nicht. Der Kampf gegen die stillgelegte, aber weiter existierende faschistische Seuche war bei den Linken ein echtes Anliegen und damals eine normale Nachkriegsreaktion. Dass auch der Vorzeige-Linke eine eigene Meinung haben darf und nicht immer die übersensible allgemein akzeptierte Ansicht teilt, sollte wohl erlaubt sein. Oft erinnern mich Poschardts Einwände an die von Habermas, der zu damaligen Zeiten ähnlich sprach, z. B. das Vorgehen der Studentenproteste 1968 als Scheinrevolution abtat und der Ansicht war, das würde den gesamten politischen und gesellschaftlichen Prozess schwächen.

Grass, ob man ihn nun mag oder nicht, war selbstredend kein Antisemit, nur weil er die Kriegsverbrechen Israels kritisierte. Israel handelt schließlich nicht aktuell in diesem Extrem einer vor aller Welt mit dem Argument des Terrors stattfindenden Ermordung von Palästinensern. Das geschieht dort bereits seit langer Zeit. Viel eher kommt bei ihm die Heuchelei zum Tragen, weil er nicht vorher den Mund aufgemacht hat und all das erst ansprach, als er nichts mehr zu verlieren hatte. Und Böll hat die RAF in erster Generation nicht verharmlost, sondern Baader, Meinhof und Ensslin verteidigt, weil gegen sie ein politischer Schauprozess gestartet wurde (mit Ausschlussverfahren der Verteidiger und angepassten Gesetzesänderungen, die bis heute im Sinne eines scheinheiligen Zurechtbiegens gültig sind) und weil ihre Aktionen im Vergleich zu den späteren Generationen der RAF noch relativ harmlos waren. (Zum Prozess empfiehlt sich auch das Buch von dem Augenzeugen Ulf. G. Stuberger.) Was die folgenden Generationen taten, hat mit denen der ersten nichts mehr zu tun und war bereits von der CIA unterwandert und gelenkt. Hier kam die eigentliche Gewalt dann mit den Morden an Siegfried Buback, der Entführung und Ermordung Schleyers und den späteren Verbrechen auf. Baader, Ensslin, Meinhof, Raspe und Meins galten bereits vor dem Schuldspruch offziell als Verurteilte, und jeder kennt heute die Geschichte der erschwerten Haftbedingungen, die an Folter grenzten. Dass das Empörung auslöste, gerade auch unter den linksorientierten Schriftstellern, ist verständlich. Allgemein waren die damaligen Zeiten der Studentenunruhen wesentlich radikaler, wobei das keine Entschuldigung für die Taten sein soll. Aber auch damals hat die Bundesregierung vor dem Prozess bereits jene Phrasen der „Einheit, Freiheit und Demokratie“ gegen die Empörung verwendet, wie man es heute in der Wiederholung erneut erlebt. Und ebenso neigt dieser deutsche Staat weiterhin dazu, sich seine Gesetze bei Bedarf zurechtzuzimmern.

Wie Grass war auch Walser nicht gleich antisemitisch, weil er den „Tod eines Kritikers“ schrieb. Der Roman war keine Abrechnung mit dem Juden Ranicki, sondern mit dem Kritiker Ranicki. Antisemitische Klischees entdeckt man in dem Buch nicht, zumal Reich-Ranicki genau für das stand, was dort benannt wird. Zudem hat er seine Rolle geliebt, die nicht nur den Literaturkritiker umfasste, sondern auch den Vorzeige-Juden, samt gefeierter Autobiografie. Umso einfacher ist es, jede Kritik an ihm zum Antisemitismus zu erklären. Walsers Roman mochte ich trotzdem nicht, jedoch aus anderen Gründen.

Was das politische Verhältnis Deutschlands zu Israel betrifft, spricht Poschardt ein dickes Lob aus, während er das von Amerika als wechselhaft bezeichnet und damit nicht falscher liegen könnte. Denn die USA sind absolut israelhörig, unterstützen und legitimieren das gesamte Vorgehen und behalten auch im Wechsel der Politik ihres Zweiparteiensystems die Israel-Unterwerfung beständig bei. Hier muss man kaum Biden oder Trump erwähnen, die das Geschehen in Israel vollständig stützen, während Deutschland es sogar als „gerechtfertigt“ anerkennt.

Dass Künstler ihre kreative Freiheit verlieren, wenn sie gesellschaftlich aufsteigen, ist sicherlich richtig. Wer das Gehalt bezahlt, bestimmt in der Regel das Werk und, mit zunehmendem Bekanntheitsgrad, den ganzen Menschen. Ebenso steht da ein Publikum mit Erwartungen, das nicht enttäuscht werden darf. Nichts aber ist unangenehmer als Künstler und Kulturbetriebe, die sich der Politik nicht nur unterwerfen, sondern diese auch noch stützen und sich zum Vorzeige-Fürsprecher machen. Hier stimmt das Zitat von Heiner Müller, dass Intellektuelle, die ins Zentrum der Macht drängen, ihre Kraft für Veränderungen verlieren. Dennoch sehen wir, dass gerade damalige Veränderungen erschreckend mutiert sind und in der heutigen Übersensibilität ihren Höhepunkt erreicht haben. Hinzu kommt die staatliche Vereinnahmung. Je mehr Kulturbetriebe auf diesem Weg finanziert werden, desto unfreier sind sie in ihren Ideen. Man hat das zu vertreten, was politisch verlangt wird. Gerade in der Corona-Zeit haben sich etliche "Künstler" als wahre Speichellecker offenbart (und nicht nur die, von denen man es erwartet hat), mit wenigen Ausnahmen wie Nena oder Til Schweiger.

Und dass der Durchschnittsdeutsche bis heute dem „Untertan“ Heinrich Manns entspricht, ist wohl auch eine Tatsache:

"Diederich hatte gar keine Meinung. Er war das, was die Macht und der Augenblick aus ihm machten."

Solche finden sich zuhauf, ob als politisch inszenierte Bewegung gegen Ungeimpfte, gegen Rechts oder im Kampf gegen das Klima, während sie dabei hoffnungslos fehlgeleitet sind und dabei schleichend ihre Rechte verlieren. Trotzdem ist natürlich völlig richtig, dass sich die moralische Überheblichkeit auf linker und rechter Seite die Waage hält. Denn genau diese ermöglicht den tiefen Konflikt, der politisch gewollt ist.

Das Buch habe ich jedenfalls mit Gewinn gelesen. Auch hat es mich direkt an mein „Linken-Regal“ getrieben. Ich habe ja damals Vespers „Reise“, „Siegfried“ von Herhaus/Schröder (das übrigens mit gleichem gelbem Einband herauskam und ebenfalls den Verriss als Verkaufsmasche nutzte) und viele Sachen vom März-Verlag geliebt. Die damaligen Linken, gerade in ihrer Radikalität, waren nie unsympathisch, weil hinter ihrer Bewegung noch etwas stand. Mit der Zeit ist daraus etwas immer Seichteres geworden, ohne dass dabei auch die Aggression verloren ging. (Ich finde ja, das begann schon beim Punk.) Heute kämpfen sie für jenes Wasauchimmer und verurteilen und beschimpfen jeden, der das kritisiert. Natürlich kann man nicht abstreiten, dass die Wurzeln dazu damals gelegt wurden. Viel schlimmer finde ich, dass heutige Linke, Grüne und Woke genau das machen, was staatlich akzeptiert und gewünscht ist, also keine tatsächliche Bewegung gegen Missstände sind. Ihre Aktionen verlieren sich im Nichts, sind einfach nur Gebrüll und Wichtigtuerei. Sie beschädigen Kunstwerke, kleben sich auf Straßen usw., während die Regierung längst einer fatalen Selbstzerstörungs-Klimapolitik folgt, also genau das, was sie fordern. Was ist daran dann Protest? Sie sollen einfach provozieren, um Chaos zu verursachen. Das war auch das Konzept der damaligen Linken. Aber ihr Chaos war wenigstens ein eigenes, kein gemachtes oder durch den Staat genutztes, wie es heute der Fall ist.




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#5

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 11.05.2025 21:05
von Salin • 518 Beiträge

Poschardt Blick auf Baader & Co. könnte durch seinen einstigen Chef Stefan Aust geprägt sein. Dessen Wälzer dazu, Baader-Meinhof-Komplex, hatte ich Anfang der 90er ebenfalls gelesen und die Entwicklung dort legt in meiner Erinnerung eine gewisse Folgerichtigkeit nahe, bedingt durch das Verhalten beider Seiten, wenngleich Aust beschrieb und nicht urteilte.

Mit Shitbürgertum hat Poschardt sicher einen Nerv einer Zeit getroffen (die sich hoffentlich nicht zu einer Epoche ausweiten wird). Die einst verstaubte Welt hat er immerhin ein Stück gewandelt, was aber freilich nicht auf die traditionelle Springer-Haltung zu Tel Aviv und Washington zutrifft.

Mich würde interessieren, ob auch in Griechenland israelische Politik ein derart herausragendes Thema ist, dass fass jeder Politiker oder "Kulturschaffende" (auch so ein Wort) eine felsenharte Meinung dazu hat, im Gegensatz zu Konflikten anderswo in Asien oder Afrika.

*
Da für mich nicht minder wichtig als der Inhalt, noch etwas zum Stil.
Shitbürgertum lässt sowohl als Sammlung elaborierter Essays als auch als Schmäh- und Spottschrift bezeichnen. Die Tradition letzterer ist immerhin über 3000 Jahre alt, wenn ich an die alten Griechen denke. Bei China bin ich weniger im Bilde. Später kamen die Diatribe und die Invektive. Auch die biblische Jeremiade ist damit verwandt und vieles, was seither geschrieben wurde.

Poschardt wirkt aber weder verbissen noch larmoyant. Oft ist er eher der Bonvivant, heiter und gelassen, belustigt, mit sich selbst nicht unzufrieden, in Maßen hedonistisch.
Dagegen begann die Rezension in der taz mit diesem Satz: "Wir müssen uns Ulf Poschardt als einen unglücklichen Menschen vorstellen."

zuletzt bearbeitet 12.05.2025 12:48 | nach oben springen

#6

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 12.05.2025 10:39
von Taxine • Admin | 6.708 Beiträge

Durchaus. Unglücklich wirkt das Ganze kaum, eher wie ein Luftmachen und Verweisen darauf, was falsch läuft, mit einem ausgewogenem Verhältnis zwischen intellektuellem Anspruch und Tacheles-Reden. Poschardt spricht sicherlich vielen aus der Seele, die der heutigen Politik kritisch gegenüberstehen. Auch gefiel mir seine Zitatauswahl, die bis zu Bismarck und Tocqueville zurückreichte.

Austs Bestseller las ich damals auch, der sehr detailliert war und auch einige Ungereimtheiten ansprach, obwohl Aust auf Quellenangaben verzichtet hat. Natürlich gibt es zur RAF-Geschichte mittlerweile umfassendes Material, etliche Zeugenberichte und Bücher der Kinder. Vieles ist emotional behaftet, was bei so einem Thema auch verständlich ist. Interessant sind z. B. die Briefe zwischen Vesper und Ensslin, die diese Zeit in ihren Ansichten gut heraufbeschwören, "Notstandsgesetze aus deiner Hand", wo auch die Revolte gegen Staat, Familie und Vietnam sichtbar wird. Ebenso ist die Biografie von Gleichauf über Ensslin gelungen, da sie versucht, den Menschen hinter der Terroristin aufzuspüren. Dürrenmatt wiederum schrieb 1977 über Baader: "Der Verdacht steigt auf, daß hier nicht der Grund das Mittel, sondern das Mittel den Grund, die Ideologie nicht den Krieg, sondern der Krieg die Ideologie suche."

Zitat von Salin
Mich würde interessieren, ob auch in Griechenland israelische Politik ein derart herausragendes Thema ist, dass fass jeder Politiker oder "Kulturschaffende" (auch so ein Wort) eine felsenharte Meinung dazu hat, im Gegensatz zu Konflikten anderswo in Asien oder Afrika.


Deutschland befindet sich natürlich in Bezug auf Israel in einer festgefahrenen Position, die, durch das mittlerweile 80-jährige Schuldempfinden, das Poschardt auch noch einmal als "nie wieder gutzumachendes" heraufbeschwört, keinerlei Chance für einen neutralen Blick auf das tatsächliche Geschehen gestattet. In Griechenland ist Gaza in den Medien und im kulturellen Bereich kaum präsent. Es wird entsprechend keine Partei ergriffen, eher mit Zurückhaltung bzw. Totschweigen reagiert (abgesehen von einigen kritischen Blättern). Die Sympathien gehen aber wohl allgemein in Richtung Israels. Das liegt auch an der problematischen Situation zwischen Griechenland und der Türkei. Letztere steht auf Seiten der Palästinenser, sodass Griechenland offiziell die Gegenseite einnimmt. Pauschal kann man das allerdings nicht sagen. Auch in Deutschland gibt es Stimmen, die Israels Vorgehen kritisieren, hier natürlich die Linksorientierten (NachDenkSeiten brachte zuletzt ein Interview mit einem Chirurgen, der von gezielten Kopf- und Brustschüssen auf palästinensische Kinder berichtet). Weitere kommen aus Amerika, Frankreich und anderen Ländern, z. B. hier, eine Seite, die immer mal wieder den Blick lohnt: https://antikrieg.com/inhalt.htm




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#7

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 13.05.2025 15:30
von Taxine • Admin | 6.708 Beiträge

Es gibt drei Schriftstellerinnen, die ein Boheme-Leben führten, das von Höhen und Tiefen geprägt war, und genau darüber schrieben. Das sind Jean Rhys, Lucia Berlin und Tove Ditlevsen. Von Jean Rhys hat Zweitausendeins eine wunderbare Gesamtausgabe mit vier Bänden herausgebracht. Durch Zufall habe ich sie neuwertig erstanden. Drei der vier Bücher waren sogar noch eingeschweißt. Eine Neuauflage gibt es nicht. Neben dem bekannten Werk „Sargassomeer“ und ihren unvollendeten Memoiren „Lächeln bitte!“, finde ich vor allem die Kurzromane „Quartett“, „Nach der Trennung von Mr. Mackenzie“, „Irrfahrt im Dunkel“ und „Guten Morgen, Mitternacht“ am besten. Rhys hatte u. a. ein Verhältnis mit Ford Maddox Ford, der wiederum mit der Künstlerin Stella Bowen zusammen war. In „Quartett“ wird das eigenartige Verhältnis der Abhängigkeit eindrucksvoll beschrieben. Maddox Ford schrieb über Rhys ebenfalls ein böses Buch, in dem sie als alkoholkranke hysterische Journalistin auftritt. Er heißt „When the wicked man“, soll aber misslungen sein, ganz im Gegensatz zu Rhys‘ Erzählung, die auch nicht anklagt. Es gibt zwei Biografien zu Rhys, die ich gelesen habe. „Blue Hour“ von Lilian Pizzichini, die mir nicht so gut gefallen hat, weil sie sich fast nur an Rhys Schrieb orientiert, und die deutlich bessere und ausführlichere von Miranda Seymour. Ich weiß allerdings nicht, ob es diese auf Deutsch gibt, da ich sie in englischer Ausgabe las.

Von Lucia Berlin gibt es mehrere Ausgaben ihrer Erzählungen und Kurzgeschichten. Für mich die beste ist „Was ich sonst noch alles verpasst habe“, aber auch das Autobiografische „Welcome Home“ lohnt die Lektüre. Das, was mich an ihrer Erzählweise packt, ist schon schwieriger in Worte zu fassen. Sie überrascht vor allem durch Anekdoten, durch den humorvollen Blick auf ihr eigenes Elend und verweist durch das, was sie erzählt, darauf, wie schnell sich alles von jetzt auf nachher ändern kann. Das Erzählte liest sich als ein Ganzes, mit Geschichten über Geschwisterliebe, Entzug, Suff, das Leben als Putzfrau, die Arbeit einer Krankenschwester, über Liebe, Verbrechen, Drogen, Alter, Krankheit und Tod, aber in einer so einmaligen Art, die nicht anklagt, sondern selbst traurige Momente mit einem Augenzwinkern betrachtet. Wie Rhys ist Berlin unglaublich authentisch und mitreißend.

Bei Tove Ditlevsen, die ja aktuell wiederentdeckt wurde und vor allem aufgrund ihrer Trilogie „Kindheit - Jugend - Abhängigkeit“ (erschienen in Einzelausgaben) gelobt wird, hat mir besonders ihr letztes Werk, das kurz vor ihrem Tod entstand, gefallen, mit dem Titel „Vilhelms Zimmer“. Auch Ditlevsen hat ihre eigene Geschichte zur Kunst erhoben und weiß vom eigenen Versagen mit Humor zu berichten. - "Psychiater sind es ja unglaublich leid, täglich mit Verrückten zu tun zu haben; am liebsten sind ihnen Privatpatienten, denen eigentlich nichts fehlt." - Während die Trilogie ihr tatsächliches Leben umfasst, setzt sich „Vilhelms Zimmer“ mit dem Betrug in der Ehe, mit Trennung und Nervenzusammenbruch auseinander. Das Buch ist fiktiv, orientiert sich aber am echten Erlebnis, denn Ditlevsen hat tatsächlich, wie im Roman beschrieben, eine Annonce aufgesetzt, um einen neuen Mann zu finden, damals ungewöhnlich und skandalös, wofür sie in Dänemark auch kritisiert wurde. Ebenso wird in diesem Roman der Selbstmord thematisiert, den Ditlevsen dann kurz danach selbst beging.

Alle Schriftstellerinnen fallen unter den Begriff "Frauenliteratur", wobei für mich am ehesten noch Ditlevsen in diese Schublade passen könnte. Eine ähnlich gelobte Schriftstellerin ist Grace Paley, die wiederum Berlin inspiriert haben soll. Von ihr las ich die Kurzgeschichten „Ungeheure Veränderungen in letzter Minute“. Diese konnten mich jedoch nicht packen, waren mir zu viel Alltag und rassistisches Klischee.


Weitere Bücher, die ich ansonsten noch großartig fand, waren Mishimas „Leben zu verkaufen“ und Vila-Matas „Montevideo“. Bei Mishima geht es um einen jungen Mann, der versucht, Selbstmord zu begehen und kläglich scheitert. Daher beschließt er, eine Annonce aufzusetzen, um sein Leben zu verkaufen und erlebt dann wahrlich eigenartige Dinge. Das Buch ist zugleich unterhaltsam und philosophisch, gehört für mich zu seinen besten. Vila-Matas wiederum begibt sich auf die Suche nach Cortazar, da ihn nun selbst das Bartleby-Syndrom befallen hat. Genauer geht es um Cortazars Erzählung „Die verstellte Tür“, wobei Vila-Matas als Ich-Erzähler das Hotel aufsucht, in dem diese verborgene Tür angeblich zu finden ist. Sehr schön spielt der Schriftsteller mit dem Fantastischen. Auch das Cover ist gelungen, das „Die vier Zimmer“ des Interieurmalers Hammershøi zeigt.

Daneben habe ich in meinem Regal ein noch ungelesenes Buch gefunden, das bestimmt seit vielen Jahren dort steht. Es handelt sich um „Die Sterblichen“ von Yiyun Li und befasst sich mit dem China der 70er-Jahre. Der Roman besticht durch den einzigartigen Stil und erzählt die Geschichte eines Ehepaars, deren Tochter wegen konterrevolutionären Gedanken zum Tode verurteilt wird. Schön zeigt die Autorin, was die totalitäre Erziehung mit Kindern anrichtet, wie die Menschen unter solchen Bedingungen aufeinander reagieren und wie der Staat seine Gegner bestraft, wenn sie nicht gehorchen. Das Ganze ist mit viel Fantasie erzählt, wobei auch die Charaktere einzigartig entwickelt sind.

Unter den Klassikern ist für mich vor allem der spannende fantastische Roman „Vollmondzauber“ von Ossip Schubin erwähnenswert. Unter dem Pseudonym verbirgt sich die böhmische Schriftstellerin Lola Kirchner, die in der Prager Boheme aktiv war. Die Atmosphäre im Roman ist wirklich dicht und gruselig. Das Ende hätte ich mir etwas offener gewünscht. Erstaunlich bleibt, wie sehr Kirchner noch den alten Schreibstil beibehält, der an Romane von Turgenjew oder Lermontow erinnert, während nachfolgende Werke anderer Schriftseller im gleichen Zeitfenster oft schon weitaus moderner wirkten. Inspiriert wurde er tatsächlich durch Turgenjews Erzählung „Helen“.




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#8

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 14.05.2025 07:57
von Salin • 518 Beiträge

Sargassomeer gehört zu jenen 10% der Bücher, die ich Mitte der 80er las und bis heute im Regal und in detailreicher Erinnerung geblieben sind, obwohl das sogenannte realistische Erzählen mich heute weniger vom Hocker reißt.
Also dann noch mal etwas von Vila-Matas. In Sachen Neuerscheinungen versuche ich über den New Yorker auf dem Laufenden zu bleiben, wo über Montevideo noch nichts zu lesen war, weil die englische Übersetzung erst im November erscheint. Aber wie ich gerade sehe, ist selbst bei FAZ, Spiegel, Zeit und DLF nichts dazu zu finden. Das Buch passt bei solchen Häusern offenbar nicht ins aktuell sehr eng gefasste Spektrum des Rezensionstauglichen.

Von dem, was mir an Romanen in letzter Zeit durch die Hände ging, halte ich nur einen für empfehlenswert:
Vilnius Poker von Ričardas Gavelis, Ende letzten Jahres nach 35 Jahren erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Dazu habe ich anderswo eine ausführliche Rezension geschrieben. Ganz ohne Schwächen ist es nicht, besonders was ein kurzes aus Sicht einer Frau geschriebenes Kapitel betrifft. Aber die Sprachgewalt des Hauptteils und das Buch als Ganzes ist erstaunlich.

zuletzt bearbeitet 14.05.2025 07:57 | nach oben springen

#9

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 14.05.2025 12:31
von Taxine • Admin | 6.708 Beiträge

Vila-Matas lese ich immer gerne. Er spricht keines der woken Trend-Themen an und bleibt sich selbst treu. Vielleicht hält das die Rezensenten ab. Ich mag bei ihm besonders die literarischen Bezüge. Er hatte mich in seinen Büchern auf so einige andere Schriftsteller aufmerksam gemacht. Auch Bolaño versuchte das teilweise, aber seine Bücher driften immer zu sehr ins Banale ab. Einzig gut fand ich "Die Nöte des wahren Polizisten". "2666" und "Die wilden Detektive", beides Werke, die gut anfingen und interessant vom Thema waren, schaffte ich nicht, zu Ende zu lesen, da ich mich immer fragte, warum er das Belanglose jetzt so ausführlich beschreibt, bis man selbst die Lust verliert, dem zu folgen.

Deine Rezensionen hatte ich gelesen und mir beide Bücher besorgt. Der Litauer hat ein sehr eigenes Buch verfasst, wobei ich die vier Perspektiven, einschließlich des Hundes, interessant fand. Auch die Gedanken darin ließen sich vielseitig interpretieren, während die erste Perspektive ja die eines Verrückten ist, der wiederum vieles anspricht, das man unterschreiben könnte:

"SIE saugen Phantasie, Inspiration und Verstand wie tägliche Nahrung oder Erfrischungsgetränke. (...) SIE waren es, die es so eingerichtet haben, dass im ewigen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit immer das seelenlose Grau obsiegt. SIE haben die annähernde Wahrheit erfunden, die furchtbarer ist als die schwärzeste Lüge."

Weniger schön fand ich den unsäglichen Nationalstolz (der hinter dem Geschimpfe sichtbar wurde) und den permanent zu spürenden Hass, der aus den Zeilen tropfte. Die Unterdrückung durch das Sowjetsystem macht diese Wut natürlich teilweise verständlich. Auch irrte sich Gavelis in Bezug auf die Einstellung der Litauer zu den Juden während der Nazi-Zeit. Da wurden keine Juden gerettet und beschützt, im Gegenteil. Ansonsten war die Lektüre schon aufgrund des Aufbaus lohnenswert und hat mich sehr nachdenklich zurückgelassen.

Momentan lese ich "Gute Leute" von Nir Baram, ein israelischer Schriftsteller, der dem Gaza-Geschehen kritisch gegenübersteht und sich für das Zwei-Staaten-System einsetzt. Hier geht er (ebenfalls ) in die Nazi-Zeit zurück und besticht durch einen packenden Stil.




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#10

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 14.05.2025 20:29
von Salin • 518 Beiträge

Die wilden Detektive stehen auch bei mir nach abgebrochener Lektüre zwischen zwei Regalpfosten eingeklemmt, wobei mich dort nicht nur das Abdriften störte. Ich bevorzuge Werke, bei denen ich finde, dass dies sonst keiner oder nur sehr wenige schreiben könnten. Bolaños Themen sind nicht uninteressant, aber seine Sprache ist, zumindest übersetzt, leider nichts Besonderes.

Vytautas' Nationalismus, könnte der wesentliche Grund sein, weshalb sich hierzulande erst in jüngster Zeit ein Verlag dafür fand. Allerdings sorgen die einander widersprechenden Berichte und die ramponierte geistige Gesundheit des ersten Erzählers für ausreichend Distanz beim Lesen, was die Lektüre generell recht offen gestaltet. Wer nationalistische Ideologie in politischen Sinn den Lesern nahelegen wollte, würde wohl zu anderen Mitteln greifen. Nationale Identität wird nicht nur zwei der Erzähler des Romans beschäftigt haben, ebenso das diesbezügliche Erbe. Hass auf das Sowjetsystem wurde auch Gavelis nachgesagt. Was den Roman betrifft, gilt mir mich "der Tod des Autors" wie Barthes es formulierte.

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#11

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 18.05.2025 10:15
von Salin • 518 Beiträge

Zwei erhellende Lektüren vom vorigen Frühjahr fielen mir noch ein:
Das Wörterbuch des Gutmenschen. Zur Kritik der moralisch korrekten Schaumsprache und Das Wörterbuch des Gutmenschen, Bd.2.
Einige der Autoren schrieben damals für die taz und Junge Welt, aber selbst Henryk M. Broder war dabei, der wohl damals schon kein Linker mehr war. Beide Bücher erschienen rund 15 Jahre bevor jener ursprünglich vornehmlich linke Kampfbegriff von einem staatlich finanzierten Verein zum Unwort des Jahres gekürt wurde.

Aus den letzten zwölf Monaten erwähnenswerter als 90% der von mir gelesenen Belletristik sind übrigens, auch wenn eigentlich nicht hierhergehörend:
Michael Porters Competitive Advantage of Nations in der Ausgabe von 1998, Bruce C. Greenwalds Competition Demystified, Chris Millers Chip War und Indien Superpower von Michael Braun Alexander. Derlei hilft immerhin besser aktuelle Veränderungen zu verstehen als Podcasts und Medienartikel.

Vila-Matas ist in der Tat ein Aufmerksam-Macher. Montevideo hat auch bei mir bereits zu Neuerwerbungen geführt: Die Erzählungen von Felisberto Hernández und Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend von Calvino in einer angeblich bestens erhaltenen ansehnlichen Ausgabe von 1991. Dieser Calvino-Band erschien mir früher weniger interessant, doch ein Vierteljahrhundert nach Anbruch des Jahrtausends lässt sich das von ihm Beschriebene mit heutigen Sichtweisen abgleichen.

zuletzt bearbeitet 18.05.2025 17:12 | nach oben springen

#12

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 18.05.2025 20:56
von Taxine • Admin | 6.708 Beiträge

Oh, Calvinos Buch mit den Harvard-Vorlesungen habe ich doch tatsächlich noch ungelesen in meinem Regal gefunden. Da blättere ich auch einmal drin. Überhaupt habe ich von ihm noch nichts geschafft, außer die Winternacht. Du hattest ja schon einiges empfohlen. Vila-Matas hat mich z. B. auf Elizabeth Hardwick gebracht. Ich las ihr Buch „Schlaflose Nächte“, das mir gefallen hat, weil es eine Collage aus Erinnerungsfetzen, Gedanken, Beschreibungen usw. ist, dabei das New York der 50er Jahre wieder lebendig macht, mit staubigen Hotels, Jazzclubs, Billie Holiday und Armstrong, aber auch einfache Begegnungen mit Menschen festhält. Ein Zitat, das in Erinnerung blieb, war: „Das Haus ist ein Mausoleum, auf dem schon die Namen der beiden stehen, es wartet nur noch darauf, dass die Todesdaten hinzugefügt werden.“

Gelesen habe ich auch einiges in Sachen Kunst & Literatur. Hier ist vor allem Ketil Bjørnstad zu nennen, der ein herausragendes Buch über Edvard Munch geschrieben hat. Zuerst wirkt es im Stil sehr verknappt, entwickelt dann aber einen unglaublichen Sog, zumal auch Munchs Leben sehr intensiv war. Schön sind die Begegnungen mit Strindberg (der ja völlig wahnsinnig war) und Przybyszewski, zu dem ich gleich danach gegriffen habe, um „Ferner komme ich her…“ zu lesen. Auch der Pole verärgert teilweise durch zu viel Nationalstolz, besonders bei seiner Rückkehr in das Heimatland, wo es hauptsächlich um seine Literaturzeitschrift ging. Der erste Teil über sein Leben in Berlin ist jedoch sehr unterhaltsam, wo er auf die ganze Boheme trifft, Peter Hille, Dehmel, Liliencron, die alle irrsinnig gehungert haben. Przybyszweski war ja mit der Frau zusammen, die Munch mochte und die Strindberg begehrte (auch wenn er die Frauen abgrundtief hasste) und die dann später von einem weiteren Liebhaber erschossen wurde. Er reflektiert zudem eindrucksvoll über Poe, Sucht und Wahnsinn und macht sich herrlich über Mäzene lustig, die für ihre Investition auch die „Freundschaft mit dem Künstler“ erwarten, um sich hinterher, wenn das nicht der Fall ist, zu beschweren, dass die Künstler sie völlig ausgenommen hätten. Treffend war vielleicht auch dieser Satz von ihm:

„Der Deutsche kennt nur die Empörung, nicht die Rebellion. Und wenn er schon mal rebelliert, dann packt ihn Entsetzen bei dem Gedanken, was das für Folgen haben könnte.“

Aber noch einmal zurück zu Bjørnstad. Der ist ja eigentlich Pianist und Komponist, hat aber eine ganz eigene Art der Beschreibung. Wenn einen die Musik nicht anspricht, kann man bei ihm immer zum Buch greifen. Daher habe ich mir auch seine Trilogie zugelegt, beginnend mit „Vindings Spiel“ und die folgenden Teile „Der Fluss“ und „Die Frau im Tal“.

Eine Empfehlung in Sachen Kunst ist auch der Roman von Brita Steinwendtner „Du Engel, Du Teufel“, der sich mit der Künstlerin Emmy Haesele und Alfred Kubin beschäftigt. Schon aus den Briefen Kubins mit Herzmanovsky-Orlando schimmerte eine Andeutung davon auf, dass Haesele Kubin verfolgte und nicht in Ruhe ließ. Hier ist das Ganze nun aus der Sicht der Frau dargestellt, sehr gut, wie ich finde. Schön war der Verweis auf Kubins Leben in Berlin, wo er in einer Künstlerpension lebte, in der es „so verlottert zuging, dass die Fenster des gegenüberliegenden Hauses als Aussichtsplatz vermietet wurden.“ Besser kann man es wahrscheinlich nicht ausdrücken.

Ein weiteres Buch ist das von Unica Zürn, „Der Mann im Jasmin“, das ich demnächst lesen werde. Sie war bis zu ihrem Lebensende mit dem Künstler Hans Bellmer zusammen, der, wie Kokoschka, dem Fetisch der Puppe frönte und dem teilweise obszöne, sado-masochistische und sogar pädophile Neigungen vorgeworfen wurden, wobei letzteres wohl auszuschließen ist. Seine Puppen sind zerrissen, haben das Menschliche verloren, erhalten es aber gleichzeitig durch eine Art Traurigkeit zurück. (Hier zum Beispiel.) Da ist aber schon einiges Makabres dabei, das Interpretationsspielraum lässt. Ein Versuch, sich den beiden zu nähern, macht die Kunstkritikerin Kirstine Reffstrup mit ihrem Buch „Ich, Unica“, leider nur in einer sehr äußerlichen Darstellung, wenig Innenleben und Emotion. Trotzdem schafft sie es, die Zerrissenheit Zürns, ihre schizophrenen Phasen, zu reflektieren. Diese lebte mit Bellmer viele Jahre zurückgezogen und abgeschottet von der Welt und stürzte sich nach ihrer Trennung aus dem Fenster der gemeinsamen Wohnung. Bellmer wiederum inspirierte z. B. auch Horst Janssen und starb vereinsamt in Paris. Solche Schicksale laden zum Nachdenken ein. Mich jedenfalls fasziniert das Thema „Wahnsinn“ immer wieder aufs Neue, besonders in Verbindung mit Kunst.

Als interessante Lektüre mit Sprung in die Vergangenheit ließe sich noch Ludwig Holbergs eigenartiges Buch „Niels Klims unterirdische Reise“ nennen. Dass es ihm an Fantasie gefehlt hätte, kann man kaum sagen, zumal er auf eine Welt mit lebendigen Bäumen trifft. Er gestaltet das Ganze gesellschaftskritisch, sodass dieses Buch vor allem aufgrund der Zeit interessant ist. Entdeckt habe ich ihn durch Arno Schmidt, dessen Briefe „Nun auf, zum Postauto“ ich las. Auch die Biografie von Hanuschek hatte ich gelesen, in der ich auf Thomas Glavinic stieß. Ich habe nun einige Bücher des Österreichers gelesen, die mich allerdings weniger umgehauen haben. Eine Ausnahme bildet „Die Arbeit der Nacht“, ein dystopisches Buch, in dem der Protagonist in einem menschenleeren Wien aufwacht und feststellt, dass er der einzige Überlebende in einer leeren Welt ist. Das altbewährte Thema wird von Galvinic gut umgesetzt, auch durchaus mit offenem Ende, um den Leser etwas Denkraum zu lassen.




Art & Vibration
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#13

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste Gestern 08:31
von Salin • 518 Beiträge

Über Przybyszewski hatten wir uns hier vor zwei Jahren schon mal unterhalten, wobei der Input vor allem von Deiner Seite kam.
Über Munch las ich – wie vielleicht damals schon erwähnt – die von Josef Paul Hodin verfasste Biographie, der ihn 1938 auch besuchte, also fünf Jahre nach Hodins Emigration. Hodin bot verschiedene Sichtweisen an, darunter auch tiefen-psychologische, also Munch Bilder als Autobiographie mit neurotischen Elementen und introvertierter Haltung, Munch als "feeling-intuitive type" und Farben als psychologisch wertvolle Symbole. "The Scream represents a regressive longing in conflict with the resistant figure of the 'Terrible Mother' and also with the father figure (or super ego) indicated in the eye of heaven." Wie gesagt, eine Sicht von mehreren.

Beim Stichwort Horst Janssen greife ich gern zu dem großen Katalog des nach ihm benannten Museums Licht und Linie. Horst Janssen und die Fotografie, 2004. Gerade sehe ich darin u. a. mit einem Beitrag von Gerhard Schack, dem Kunsthistoriker und Sammler, von dem hier im Regal aber nur ein lustiges Kochbuch steht. Hans Bellmer und Ketil Bjørnstad, letzterer bei Romanen wahrscheinlich sprachlich nicht mein Fall, kannte ich noch nicht.

Da Vila-Matas John Banville als "genialen Stilisten" erwähnt, fällt mir ein, dass ich letztes Jahr The Sea gelesen habe. Sehr subtil, oft wie beiläufig erzählt, mit der gewohnten Wortwahl des Gebildeten, aber weniger brillant als Ghosts oder The Book of Evidence. Der Erzähler vergleicht auch hier Erlebtes gerne mit Gemälden. Die vordergründigen Themen sind jedoch über weite Strecken recht banal: der kürzliche Tod der Frau des Erzählers, Erinnerungen und irgendetwas in der Kindheit, also Themen zu denen jeden Monat ein Roman erscheint.
Gepflegte Langeweile dacht ich und: Kein Wunder, dass er dafür den Booker-Preis erhielt. Bis die letzten zwanzig Seiten kamen. Respekt.

zuletzt bearbeitet Gestern 15:43 | nach oben springen


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