HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Oğuz Atay
"Die Haltlosen"
"Wenn du wie ein Schwachsinniger die Maske der Gefühllosigkeit über dein Gesicht legst, wirst du für immer jung aussehen."
Wie schon erwähnt, lautet der türkische Titel dieses 760-seitigen Werkes 'Tutunamayanlar" und gehört zu den großen der modernen türkischen Literatur. In Hinblick auf den üblichen Vergleich mit Joyce erfordert auch Atays Werk viel Geduld und Zeit, ist teilweise verspielt und ernst. Erstmals veröffentlicht wurde das Buch 1972 und fand unter den Intellektuellen starke Resonanz. Die eigenwillige Gestaltung beeinflusste viele türkische Schriftsteller, darunter auch den von uns geschätzten Orthan Pamuk. Vor allem das Mathematik- bzw. Bauingenieur-Studium Atays hat sich günstig auf sein Schreiben ausgewirkt, sowohl in Bezug auf seine im Roman entwickelten Theorien als auch durch den Einblick in jene Universitätsgefilde. Der Roman ist aber vor allem eine Auseinandersetzung mit dem, was modern ist, und mit dem dahinter verschwindenden Etwas.
Wir wissen, dass die Türkei nach der Revolution der 1920er Jahre in zwei Welten zerbrach, in eine, die die Traditionen aufrechterhalten wollte, und in eine, die eine westlich geprägte Moderne förderte. Sozialisten und Liberale hatten es später in der sehr national geprägten Türkei besonders schwer, wurden teilweise auch ermordet. Die "Grauen Wölfe", die so manch ein in Deutschland aufgewachsener Türke wieder verherrlicht, haben viel Leid und Schaden über die Menschen gebracht. Noch weiter geht das Ganze zurück, wenn man das Auge auf den türkisch-griechischen Völkeraustausch oder den Genozid an den Armeniern richtet. Ähnlich wie Russland, das sich nicht mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen will, lehnt auch die Türkei diese Notwendigkeit ab. Intellektuelle wie Atay versuchten sich dieser Aufarbeitung humorvoll zu nähern. – "Und dennoch hätte er anstelle des Gesangs einen Begriff wie" Marsch" wählen können, der - wenn auch nicht türkisch - unserem Nationalcharakter besser entsprochen hätte." - Atay spricht oft in Andeutungen, übt aber auch offene Kritik daran, dass Religion und Staat zu eng verbunden sind, dass sich der Türke teilweise zu sehr auf Gott/Allah verlässt, um das Selberdenken zu vermeiden. Auch die Verarmung der Menschen, die marode Bürokratie und Ignoranz werden näher betrachtet.
Atay gehörte einer Generation an, die der verwestlichten, wissenschaftlichen und säkularen Kultur den Vorzug gab. Er blickte ohne Nostalgie auf die Taten des späten Osmanischen Reiches, sah aber auch die verheerenden Veränderungen. Einerseits schätzte er den Blick nach vorne, samt der modernen Entwicklung, andererseits empfand er den westlichen Einfluss mehr und mehr als eine Form der Annexion, die das Beste des türkischen Lebens zerstörte. Trotzdem lehnte er die Traditionalisten ab, die versuchten, die Geschichte für ihre Zwecke zu verfälschen.
"Der Körper widersetzt sich allem Neuen: Im bequemsten Bett der Welt kann er in der ersten Nacht nicht schlafen. Das Gehirn, jener grausame Diktator des Körpers, ist eigentlich ein konservativer Tyrann. Dennoch ist er den Traditionen weniger verhaftet als der Körper."
In seinem Roman nutzt Atay bewusst bestimmte Stilmittel des Westens für eine humorvolle Darstellung, darunter minderwertige historische Romane, Hollywood-Fantasyfilme, triviale Enzyklopädien, Tagebücher, Verse, Theater-Dialoge usw. Diese Zersplitterung der Sprache symbolisiert für ihn die Zersplitterung des türkischen Lebens. Erzählt wird die Geschichte von Turgut Özben, der mit Nermin verheiratet und Vater zweier Töchter ist. Dieser erfährt aus der Zeitung, dass sein Freund Selim Selbstmord begangen hat. Das trifft ihn hart und er versucht, mit seiner Trauer zurechtzukommen und herauszufinden, was geschehen ist. Bald schon befindet er sich im inneren Dialog mit dem Freund, taucht in dessen Vergangenheit ein, in sein eigenes Leben, und besucht Menschen, die seinen Freund kannten und ihm Selim aus anderen Perspektiven zeigen. Es ist nicht nur die Suche nach Antworten, sondern auch die Suche nach sich selbst.
Mithilfe eines Versepos startet die Auseinandersetzung mit Selims Leben und der türkischen bzw. osmanischen Geschichte.
Zitat von Atay
"All die gesprochenen Worte haben wir schon an so schmutzigen Orten benutzt, dass wir Angst haben, unsere Gefühle damit zu besudeln."
Ferner gibt es viel Humorvolles:
Zitat von Atay
"Turgut Özben und seine Frau. Sieht hier auf dem Foto ja noch ziemlich jung aus. Wer? Turgut natürlich. Und seine Frau? Die nicht. Wieso nicht? Sie hat sich eben zu stark geschminkt, die Wahrheit ist nicht zu erkennen."
Dennoch ist der Roman alles andere als leicht zu lesen und sinkt auch tief in die historischen Vorgänge ein. Neben der Hauptgeschichte von Turgut Özben und Selim Işik springt Atay nur zu gerne in die Vergangenheit, verballhornt die altertümlichen Gepflogenheiten und Ausdrucksweisen, zitiert eine ganz eigene Bibel oder erfindet einen Metzger Hegel, der Philosoph wird und dem das Gelesene auf die Gesundheit schlägt, um dann wieder Metzger zu werden. Auch die Geschichte um die sieben Heiligen, deren Leben einmal aus der eigenen Perspektive und schließlich aus der der anderen gezeigt wird, ist unterhaltsam und löst Gelächter aus. Ernst wiederum ist der Aufruf gegen alle, die gegen Minderheiten hetzen. Hier ist die Rede von Ausrottung. Scham, Wiedergutmachung, eine Art Jüngstes Gericht auf Erden. Und nicht zu vergessen, bleibt:
"Die Geschichte ist nichts anderes als eine Fälschung. Die Geschichte ist ein Traum, der von der Vergangenheit in die Zukunft reicht, und den wir heute träumen. Wie alle Träume kann auch die Geschichte gedeutet werden, es sei denn, man steckt mittendrin."
Die Szenen wechseln und führen unter anderem in ein Bordell, auf eine Behörde, auf eine Baustelle voller Verrückter, in eine Konditorei, kurz mitten hinein in den menschlichen Alltag. In all dem wird die türkische Mentalität wunderbar sichtbar, und auch die mediterrane Atmosphäre zaubert ihr eigenes Licht.
Die Romane des so früh verstorbenen Schriftstellers (er starb 1977 an einem Hirntumor) gelten als schwer übersetzbar, was sich durch die verschiedenen Sprachstile durchaus nachvollziehen lässt, und wo ein Applaus natürlich auch dem Übersetzer gilt, der das schwierige Unterfangen gemeistert hat, Johannes Neuner. Auch ins Griechische wurde das Werk übersetzt, von Niki Stavridi (Νίκη Σταυρίδη). Ansonsten gibt es nur noch eine Niederländische Übersetzung. Ein weiteres, ins Deutsche übertragenes Werk von Atay ist "Der Mathematiker".
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(Alle Zitate stammen aus der Ausgabe: Oğuz Atay "Die Haltlosen", binooki oHG Verlag)

Art & Vibration
Ich las mal irgendwo, dass der Roman voller Osmanismen und teilweise im türkischen Slang geschrieben sei, was das Übersetzen wohl auch nicht einfach machte.
Die Vielfalt der Stile bei derart umfangreichen Arbeiten kommt oft einfach daher, dass vom Autor verschiedene zuvor unveröffentlichte Texte miteinander verflochten werden. Aber wer weiß, wie es bei diesem Werk war, und letztlich zählt eh nur, was dabei herauskam.
Trotz des Umfangs ist die Geschichte zusammenhängend und konzentriert sich größtenteils auf den Protagonisten Turgut und sein Zwiegespräch mit Selim. Wie eine Einbindung unveröffentlichter Texte wirkt es nicht, da die verschiedenen Stile beabsichtigt sind und immer auf die Geschichte selbst anspielen. Andererseits können die Sprünge in die Vergangenheit und die fantasievollen Zwischeneinschübe durchaus aus diesem Fundus stammen.

Art & Vibration
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