HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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#1
von Martinus • 3.195 Beiträge
Louis-Ferdinand Céline:
in Die schöne Welt der Bücher 27.09.2007 12:23von Martinus • 3.195 Beiträge
"Reise ans Ende der Nacht", 1932
Abenteuerliche Rezeptionsgeschichte
1932: "Voyage au bout de la nuit" erschien im Verlag Denoël. Gallimard hatte das Manuskript abgelehnt. Preis auszeichnung: Prix Renaudot. Der Münchner Verlag Piper kaufte die Rechte. Wegen unzureichend befundener Übersetzung von Isak Grünberg, wollte der Verlag den Text nicht veröffentlichen und verkaufte die rechte weiter an den Verlag Julius Kittls Nachf. in Mährisch-Ostrau bei Prag.
1933: 50000 Exemplare verkaufte Exemplare der französischen Ausgabe. In der Tschechei erschienen. Da Grünberg Jude war, wurde er in der zweiten Auflage nicht mehr erwähnt. Der Verlag kürzte und veränderte Grünbergs Übersetzung. Prostest Grünbergs in der von Klaus Mann herausgegebenen Exilzeitschrift „Die Sammlung“ (5. Heft, Januar 1934). Der Verlag erwiederte im 8. Heft, April 1934.
Nach dem Weltkrieg erschien beim Rowohlt – Verlag die vom Kittle-Verlag veränderte und gekürzte Fassung.
2003: Endlich erschien beim Rowohlt Verlag das Werk in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, welche dem Werk Célines gerecht wird.
zum Roman:
Céline lässt die Reise von dem Medizinstudenten Ferdinand Bardamu in der Ichform erzählen. In der Vorbermerkung heißt es ausdrücklich, die Reise finde in der Phantasie statt, es sei eine fiktive Geschichte. Die Themen kreisen um Eros und Thanathos und um eine deftige Kritik an die zivilisierte Welt, die die Armen ausbeutet, Menschen in den Krieg schickt und Arbeiter an Fließbändern seelenlosen Maschinerie degradiert.
Wenn wir lesen, dass manch talentierter Soldat, wenn er sich in den Kampf stürzte, ein Art Rausch, ja, lebhafte Wollust verspürte, sind wir schon mittendrin in den dunkelsten Abgründen menschlicher Triebe. Sehr unüberlegt gerät Bardamu freiwillig in den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges
Bardamu ist sich schnell im klaren, ich welch einem Irrsinn er gelandet ist:
Mit schonungsloser Offenheit fliegt dem Leser die Kritik an die Verkommenheit unserer Welt um die Ohren. In der Figur des Doktor Bestombes demaskiert Céline die Psychatrie als wichtigen Bestandteil zur „patriotischen Ethik“, d.h. Soldaten werden im Krankenhaus aufgemöbelt, damit sie wieder auf das Schlachtfeld wollen. Die Kritik richtet sich immerwieder im Verhalten gegenüber der Armen Bevölkerung. So hören wir von sinnlosen sadistischen Gewaltausbrüchen französischer Kolonialherren gegenüber Untergebenen und über ihre Raffgier. Henry Miller, der andere große wortmächtige Kritiker der amerikanischen Gesellschaft, erwähnt in seinem fantastischen Amerikabuch „Der klimatisierte Alptraum“ von Ferdinand Bardamus Erlebnissen in den Fordwerken – über die zur Seelenlosigkeit ausgebeutete Arbeiter, der in der Fabrik wie eine Maschine stumpfsinnige Arbeit verrichtet. Wunderbar wie Céline im Gegensatz zu der unmenschlichen Fabrikatmosphäre Ferdinands Liebe zur Hure Molly erzählt, wie er dadurch das wahre natürliche Menschsein, das Bedürfnis nach Liebe und Wärme höher stellt als die Ausbeutung am Fließband. Eine der zartfühlendsten Episoden des Romans.
Grandios ist die Sprachgewalt Célines, die auch in der deutschen Übersetzung durchsickert. Die Sprache ist niemals roh, auch wenn er von der Rohheit des Krieges spricht oder Vokabeln aus der Gossenliteratur verwendet. Worte stehen hier für Ehrlichkeit und Offenheit. Mit dieser Sprachgewalt, diesem Höhenrausch an Hochsprache schüttelt er im finsteren Afrika warscheinlich Joseph Conrad die Hand. Wenn hier die Sonne untergeht, wenn man von den Geräuschen des Urwalds liest, glaubt man, man lese so etwas zum ersten Mal:
Zurück in Frankreich arbeitet Bardamu in Pariser Vororten als Armenarzt. Auch hier ist alles so grau und trostlos. Die Welt ist schlecht, der Kampf um das wenige Geld für\'s tägliche Brot geht weiter. Eine zwielichte Gegenfigur Ferdinands ist Léon Robinson, der auch vor Verbrechen nicht zurückschreckt. Auf der Reise trift er immerwieder auf Ferdinand. Da die Reise der Fantasie entsprungen ist, vermute ich in Robinson die dunkleren Triebe Ferdinands.
Liebe Grüße
Martinus
Abenteuerliche Rezeptionsgeschichte
1932: "Voyage au bout de la nuit" erschien im Verlag Denoël. Gallimard hatte das Manuskript abgelehnt. Preis auszeichnung: Prix Renaudot. Der Münchner Verlag Piper kaufte die Rechte. Wegen unzureichend befundener Übersetzung von Isak Grünberg, wollte der Verlag den Text nicht veröffentlichen und verkaufte die rechte weiter an den Verlag Julius Kittls Nachf. in Mährisch-Ostrau bei Prag.
1933: 50000 Exemplare verkaufte Exemplare der französischen Ausgabe. In der Tschechei erschienen. Da Grünberg Jude war, wurde er in der zweiten Auflage nicht mehr erwähnt. Der Verlag kürzte und veränderte Grünbergs Übersetzung. Prostest Grünbergs in der von Klaus Mann herausgegebenen Exilzeitschrift „Die Sammlung“ (5. Heft, Januar 1934). Der Verlag erwiederte im 8. Heft, April 1934.
Nach dem Weltkrieg erschien beim Rowohlt – Verlag die vom Kittle-Verlag veränderte und gekürzte Fassung.
2003: Endlich erschien beim Rowohlt Verlag das Werk in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, welche dem Werk Célines gerecht wird.
zum Roman:
Céline lässt die Reise von dem Medizinstudenten Ferdinand Bardamu in der Ichform erzählen. In der Vorbermerkung heißt es ausdrücklich, die Reise finde in der Phantasie statt, es sei eine fiktive Geschichte. Die Themen kreisen um Eros und Thanathos und um eine deftige Kritik an die zivilisierte Welt, die die Armen ausbeutet, Menschen in den Krieg schickt und Arbeiter an Fließbändern seelenlosen Maschinerie degradiert.
Wenn wir lesen, dass manch talentierter Soldat, wenn er sich in den Kampf stürzte, ein Art Rausch, ja, lebhafte Wollust verspürte, sind wir schon mittendrin in den dunkelsten Abgründen menschlicher Triebe. Sehr unüberlegt gerät Bardamu freiwillig in den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges
Zitat von Céline
Man steht dem Grauen ebenso jungfräulich gegenüber wie der Lust.
Bardamu ist sich schnell im klaren, ich welch einem Irrsinn er gelandet ist:
Zitat von Céline
Ich wollte lieber meinen eigenen Tod sterben, einen späteren...In zwanzig Jahren...Dreißig Jahren...Vielleicht noch später, viel lieber als den Tod, den man mir sofort bereiten wollte, dazu als Fraß den flandrischen Dreck, den Mund gestrichen voll, mehr als den Mund voll, den Mund bis zu den Ohren, von einem Granatsplitter aufgerissen.
Mit schonungsloser Offenheit fliegt dem Leser die Kritik an die Verkommenheit unserer Welt um die Ohren. In der Figur des Doktor Bestombes demaskiert Céline die Psychatrie als wichtigen Bestandteil zur „patriotischen Ethik“, d.h. Soldaten werden im Krankenhaus aufgemöbelt, damit sie wieder auf das Schlachtfeld wollen. Die Kritik richtet sich immerwieder im Verhalten gegenüber der Armen Bevölkerung. So hören wir von sinnlosen sadistischen Gewaltausbrüchen französischer Kolonialherren gegenüber Untergebenen und über ihre Raffgier. Henry Miller, der andere große wortmächtige Kritiker der amerikanischen Gesellschaft, erwähnt in seinem fantastischen Amerikabuch „Der klimatisierte Alptraum“ von Ferdinand Bardamus Erlebnissen in den Fordwerken – über die zur Seelenlosigkeit ausgebeutete Arbeiter, der in der Fabrik wie eine Maschine stumpfsinnige Arbeit verrichtet. Wunderbar wie Céline im Gegensatz zu der unmenschlichen Fabrikatmosphäre Ferdinands Liebe zur Hure Molly erzählt, wie er dadurch das wahre natürliche Menschsein, das Bedürfnis nach Liebe und Wärme höher stellt als die Ausbeutung am Fließband. Eine der zartfühlendsten Episoden des Romans.
Grandios ist die Sprachgewalt Célines, die auch in der deutschen Übersetzung durchsickert. Die Sprache ist niemals roh, auch wenn er von der Rohheit des Krieges spricht oder Vokabeln aus der Gossenliteratur verwendet. Worte stehen hier für Ehrlichkeit und Offenheit. Mit dieser Sprachgewalt, diesem Höhenrausch an Hochsprache schüttelt er im finsteren Afrika warscheinlich Joseph Conrad die Hand. Wenn hier die Sonne untergeht, wenn man von den Geräuschen des Urwalds liest, glaubt man, man lese so etwas zum ersten Mal:
Zitat von Céline
Der Himmel vollführte eine Stunde lang Paraden, von einem Ende zum anderen mit delirierendem Scharlachrot angeklatscht, dann platzte das Grün inmitten der Bäume los und stieg in zitternden Schlieren vom Boden bis zu den ersten Sternen hinauf...
Zurück in Frankreich arbeitet Bardamu in Pariser Vororten als Armenarzt. Auch hier ist alles so grau und trostlos. Die Welt ist schlecht, der Kampf um das wenige Geld für\'s tägliche Brot geht weiter. Eine zwielichte Gegenfigur Ferdinands ist Léon Robinson, der auch vor Verbrechen nicht zurückschreckt. Auf der Reise trift er immerwieder auf Ferdinand. Da die Reise der Fantasie entsprungen ist, vermute ich in Robinson die dunkleren Triebe Ferdinands.
Zitat von Céline
Wer das Maß verliert, verliert die Kraft. So steht es geschrieben! Also geht alle Welt zum Teufel!
Liebe Grüße
Martinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 27.09.2007 12:27 |
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#2
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Louis-Ferdinand Céline:
in Die schöne Welt der Bücher 27.09.2007 13:00von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
mich hat das Buch auch sehr begeistert. Die Reise als Krankheit. Die wunderbar bildhaft und wortgewaltigen Beschreibungen Célines reißen den Leser sofort in die Zeilen.
Wie wohl könnte man sich ein Schlachtfeld besser vorstellen, als wenn Céline schreibt:
oder
Großartig, diese Zitate:
Und die schöne Hinterfragung des Ich-Erzählers direkt am Anfang:
Ja, bei Céline könnte man ewig zitieren.
Liebe Grüße
Taxine
mich hat das Buch auch sehr begeistert. Die Reise als Krankheit. Die wunderbar bildhaft und wortgewaltigen Beschreibungen Célines reißen den Leser sofort in die Zeilen.
Wie wohl könnte man sich ein Schlachtfeld besser vorstellen, als wenn Céline schreibt:
Zitat von Celine
Dies ganze Fleisch blutete gewaltig durcheinander.
oder
Zitat von Celine
Wir standen Schlange zum Krepieren.
Großartig, diese Zitate:
Zitat von Celine
Nie oder so gut wie nie fragen die kleinen Leute nach dem Warum all dessen, was sie erdulden müssen. Sie hassen einander, das reicht.
Zitat von Celine
Den größten Teil seiner Jugend vertut man mit Ahnungslosigkeiten.
Zitat von Celine
Es gibt einen Moment zwischen zwei Stadien des Menschsein, da zappelt man im Leeren.
Zitat von Celine
Ein starkes Innenleben genügt sich selbst und wäre imstande, Packeis zu schmelzen. So ist das.
Zitat von Celine
Wir sind von Natur aus so oberflächlich, dass nur Vergnügungen uns wirklich am Sterben hindern.
Und die schöne Hinterfragung des Ich-Erzählers direkt am Anfang:
Zitat von Celine
Sollte ich denn der einzige Feigling auf Erden sein?, dachte ich. Und mit so was von Angst! ... Verloren inmitten von zwei Millionen heldenmütigen, entfesselten, bis an die Zähne bewaffneten Verrückten!
Ja, bei Céline könnte man ewig zitieren.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 27.09.2007 13:01 |
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