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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Alexandro Jodorowsky

in Die schöne Welt der Bücher 07.11.2007 22:39
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Es kommt die Nacht mit ihrem wölfischen Toben
Verheißt die Geburt einer verliebten Sonne
Doch Schatten kann nur Schatten gebären
Nichts entsteht, nichts vergeht
Und das Geschaffene heißt Vergessen.

(A. Jodorowsky)



Alexandro Jodorowsky (auch: Alejandro Jodorowsky) wurde 1930 in Chile geboren und wuchs als Kind russisch-jüdischer Eltern in Iquique auf.

Zitat
Meine Großelternpaare sind beide russisch. Sie nahmen ein Schiff und versuchten aus Russland ans Ende der Welt zu fliehen...Die Kosaken machten mich zum Chilenen.



Er sagt über den Film:
Ich erwarte von Filmen das, was sich Nordamerikaner von bewusstseinserweiternden Drogen erwarten.

EL TOPO ist einer seiner wichtigsten und größten Filme, der 1970 selbst bei Jonas Mekas nur um Mitternacht gezeigt werden konnte, weil er "zu intensiv" war für andere Uhrzeiten.
Weil Jodorowsky diesen Film selbst schrieb, inszenierte, die Musik dafür komponierte und obendrein noch die Hauptrolle spielte (El Topo selbst, was übersetzt der Maulwurf heißt), war mir schon klar, dass das Buch, das er nun als Autobiographie gestaltete und mit den wunderbarsten Übertriebenheiten und Abweichungen versah, ebenso verwirrend wie interessant ist.
Im Film heißt es:
Der Maulwurf ist ein Tier, das unterirdische Tunnel gräbt,
beständig auf der Suche nach der Sonne.
Manchmal führt ihn sein Weg ans Tageslicht.
Wenn er dann in die Sonne schaut, erblindet er.


Die Suche nach Erlösung in diesem Film ist mit allerhand surrealen Bildgewalten gestaltet, absurden und makabren Situationen (eine Frau kniet vor einem Stein, als sie ihn berührt, spritzt Wasser hervor und benetzt ihr ekstatisch in die Höhe gerecktes Gesicht, El Topo durchkreuzt Siedlungen mit Tierkadavern, watet durch Blut, trifft auf verschiedene Meister, die er für die "Liebe einer Frau" besiegen muss, wobei z. B. einer erklärt, dass Kugeln seinem Körper nichts anhaben können: Ich lasse sie durch die Zwischenräume meines Fleisches gleiten, er begegnet weiteren Meistern und besiegt sie (darunter ein Blinder, in dessen Dienst ein Armloser steht, der einen Beinlosen auf dem Rücken trägt, die sich damit in ihren Einschränkungen gegenseitig ergänzen) und stellt sich beim Sterben die lustvolle Begegnung zweier Frauen vor (eine davon hat ihn zuvor niedergeschossen) usw.)
Ähnlich nimmt sich nun das schriftstellerische Werk Wo ein Vogel am schönsten singt aus.
Jodorowsky ist hier eine schöne und surreale Biographie gelungen, die mit der Großmutter beginnt, die ihren Glauben an Gott verliert und darüber einen Hass auf Mensch und Welt entwickelt. So rennt nach dem Tod eines ihrer Kinder in die Kirche und beschimpft Gott:

Zitat von Jodorowsky
Mach nur weiter in deiner Ewigkeit, baue Universen auf und wieder ab, rede und donnere, ich höre dich nicht mehr!



Auch Jodorowskys Großvater musste das Leid schon früh kennenlernen:

Zitat
Er zählte noch keine drei Jahre, als Piroschka, die ungarische Magd, den Verstand verlor, ins Schlafzimmer stürzte, wo er in den Armen seiner Mutter Lea schlummerte, und diese mit einer Axt erschlug. Das Blut spritzte heiß und färbte seinen nackten kleinen Körper rot.


… und wo sich danach sein Leben nur aus dem frühmorgendlichen Melken der Kühe und dem restlich verbrachten Tag durch Beten zusammensetzte, da lehrte er die Kühe, um zu weiblicher Zärtlichkeit zu gelangen, seinen nackten Körper mit ihrer „großen, warmen Zunge zu lecken“. Er ist von Ohnmachtsanfällen geplagt, in denen er einen „Raum ohne Ausdehnung“ und eine „Zeit ohne Dauer“ vorfindet. In dieser "Zwischenwelt" trifft er auf einen Körperlosen, einen Rabbiner, der zuvor „durch die zehn Schöpfungsebenen irrte, ohne Recht, irgendwo zu verweilen“. Er bittet, dass er von nun an im Geist des Jungen leben dürfe, und dieser sagt zu, freut sich über die neue Gemeinsamkeit.
Herrlich, wie Jodorowsky die Erfindung eines imaginären Freundes gestaltet. Über den Körperlosen heißt es:

Zitat
Dieser kaukasische Jude hatte es seinerzeit nämlich mit seinen kabbalistischen Studien übertrieben und sich auf der Suche nach den heiligen Weisen, die laut dem Sohar im Jenseits leben, im Labyrinth der Zeit verirrt.


Er hat dabei gelernt,

Zitat
… dass der Mensch ohne den Menschen geistig verhungert.



Je größer der Junge nun wird, desto mehr achten die Menschen in ihm den Rabbiner und immer weniger ihn selbst. Zum Essen lädt man den Körperlosen ein, nicht Alexej (so heißt der Großvater Jodorowskys), der neben dem anderen in seinem Geist vielmehr einen scheuen und demütigen Charakter besitzt. So lebt er in Symbiose mit dem Mann aus der Zwischenwelt, der sichtbarer ist als er selbst, bis eine Frau auf ihn zukommt, sagt, sie habe beschlossen, er solle der Vater ihrer Kinder sein, und ihm damit die Selbstachtung vermittelt:
Lerne dich achten, damit dich die andern achten.

Dies ist nur eine von vielen exzentrisch imaginären Geschichten, die sich um die Familie Jodorowsky drehen. Da ist unter anderem eine Tante, die in einem Grab geboren wurde, um den Tod, der zuvor alle anderen Frauen und Kinder genommen hatte, auszutricksen. Sie muss gräßliche Grimassen schneiden und sich verstecken, um den Tod weiterhin zu entkommen, wodurch sie andere Menschen erschreckt und ihre wahre Schönheit verborgen bleibt. Da werden Vater und Tochter zu Liebenden, die inmitten von schwirrenden Bienen eine überwältigende, nicht mehr menschliche Lust erleben und danach streben, zu einem einzigen Wesen zu werden, da ist ein Imker, der in einer Wanne voll Honig Selbstmord begeht, ein Mann, der mit Löwen lebt und ihnen bei seinem Tod zum Fraß vorgeworfen werden möchte, ein weiterer Mann, der über den Tanz die Welt begreift und für andere übersetzen will ... usw. usw.

Was ich immer an Jodorowsky bewundert habe, waren seine Ideen, die mir stets außergewöhnlich und einzigartig vorkamen. Man merkt ihm wohl den persönlichen Umgang mit jenen altehrwürdigen Surrealisten an. Jodorowsky bewunderte hier besonders Artaud, der eigentlich nur drei Jahre lang offizielles Mitglied der Surrealistengruppe war und nach einem Streit mit Breton ausschied. Trotzdem hat dieser mit seinem Werk viele radikale Ansätze des Surrealismus vermittelt.
Jodorowsky machte sich Artauds Idee eines "alchimistischen" Theaters zu eigen und erklärte auch, dass das Ziel des Theaters sein wird, den Menschen selbst direkt zu verändern. Artaud wollte ein Theater, dass sich mit dem echten Leben gleichsetzt, ein "Theater der Grausamkeit".

Man darf in seinem Werk also durchaus weitere "Sacramental Melodrama"tiken erwarten. Ein Mann, der ohne Zögern behauptet, dass ihn Kinder eines Tages an einen gigantischen Drachen fesselten, den sie dann fliegen ließen, und darüber hinaus sagt:
Es war furchtbar. In den Wolken sah ich einen Friedhof für die Flugzeuge des Kriegs von 1914. Und in den Flugzeugen waren die Leichen der Piloten. Und in den Leichen waren weiße Vampire. Und als ich näherkomme, fangen die weißen Vampire an sich zu bewegen ... das war meine Kindheit.
... dem ist schließlich alles zuzutrauen.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 13.06.2013 21:39 | nach oben springen

#2

RE: Alexandro Jodorowsky

in Die schöne Welt der Bücher 08.11.2007 18:35
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Noch ein paar Eindrücke:

Das Buch setzt sich aus den Wurzeln der Stammbaumverzweigungen zusammen und erzählt abwechselnd die jeweiligen Geschichten mit ihren Abweichungen und Nebengeschichten. Zunächst die Wurzeln des Vaters, die mir bis jetzt am besten gefallen, dann die Wurzeln der Mutter, in denen Jodorowsky ein fast monströses und brutales Menschengeschlecht aufzeigt, das zwischen fanatischem Glauben, sexuellen Trieben und blutdürstenden Bestialitäten hin und her taumelt.
Hier gilt vor allen Dingen der lächelnde Ratschlag der Verwandtschaft, der die jüdische Geschichte weiterträgt und dabei immer mehr ausschmückt und schließlich mystifiziert:
In Antwort auf:
… die Vergangenheit sei eine fortwährende Erfindung, jeder Ast ihres Stammbaums könne mit einem Stein verglichen werden, der im Lauf der Jahre und von Erzählung zu Erzählung höher steige, bis er den Himmel erreiche und wie ein Stern erstrahle.
Am Ende der Zeiten, mein Kind, werden deine sämtlichen Verwandten, Meister, Helden, Genies und Heilige sein.

Genau das gestaltet Jodorowsky hier aus seiner Familie. Ein mystisches Fest der Absurditäten. Am Anfang des Buches hat er schon vorweggenommen:
Alle Personen, Orte und Ereignisse - auch wenn manchmal die Chornologie nicht stimmt - sind wirklich. Aber diese Wirklichkeit wird umgestaltet und zum Mythos verklärt. Unser Stammbaum ist einerseits die Falle, die über unseren Gedanken, Gefühlen, Wünschen und materiellen Möglichkeiten zuschnappt, und anderseits die Schatzkammer, welche den gößten Teil unserer Werte birgt. Das vorliegende Buch ist nicht nur ein Roman, sondern es will auch als Beispiel dienen, dem, falls es gelungen ist, jeder Leser folgen soll, um durch Verzeihen seine Familienerinnerung zur Heldensage zu machen.
Das muss man sich beim Lesen dann auch immer wieder vor Augen führen. Besonders, wenn im Stammbaum der Mutter ganz oben Alexander I. steht, der für Tod erklärt wird, aber scheinbar als Einsiedler aus der Welt ausbricht und so die grausamen Einflüsse von Katharina der Großen in deftig erschreckenden Brutalitäten gegen Schafe verarbeitet und erst durch Jodorowskys Ururgroßmutter mütterlicherseits von seinem Zwang befreit und erlöst wird, um dann zu sterben.

Der Blick auf die Wurzeln des Vaters sind harmloser, wo Alexej, der Junge mit dem körperlosen Rabbiner im Geist, mit seiner Frau Teresa (die den Glauben an Gott verloren hat und die nur allzu oft von fürchterlichen Wutanfällen geplagt wird, "deren Geschrei die Möbel verrückte" …) nach Chile auswandert. Die Vertreibung und Verfolgung der Juden, die Bücherverbrennungen nötigen hier dazu, alles an Wissen in ein einziges Tarotkartenspiel fließen zu lassen, aus dem dann alles Wissen und aller Glaube spricht, getarnt als simples Kartenspiel. Ein Erbstück in der Familie Jodorowsky. Ähnliches sagt der Rabbiner in Alexejs Kopf:
In Antwort auf:
… da ich in den letzten Jahren nicht mit Ihnen sprechen konnte (Alexej musste sich als Nichtjude tarnen), habe ich wieder innerlich die heiligen Bücher durchgelesen, die ich auswendig kenne. Dabei kam ich auf die Idee, sie zusammenzufassen, in einem einzigen Band, dann in einem Kapitel, dann auf einer Seite und dann in nur einem Satz. Diese Satz ist das Höchste, was ich Sie lehren kann. Er hört sich einfach an, aber wenn Sie ihn verstehen, brauchen Sie nie wieder zu studieren.

Der Satz lautet: Wenn Gott nicht hier ist, dann ist er nirgends; genau dieser Augenblick ist die Vollkommenheit.
Man könnte ihn wohl auch umkehren, wenn Gott hier ist, dann ist er überall.

Schön auch der Anarchist, auf den die Großeltern in Chile treffen. Er erfindet, weil die Reichen immer reicher, und die Armen immer ärmer werden, Berufe für die Armen, die einzigartig sind.
In Antwort auf:
Einen normalen Beruf haben heißt die Freiheit verlieren. Man muss unbekannte Berufe ausüben, die nichts mit dem materiellen Leben zu tun haben, sondern zu Bewussteinszuständen führen. Dazu brauchen wir keinen anderen Rohstoff als die Fantasie.

Da kann es leicht passieren, dass man dann als Schattenpflanzer, Unsichtbarkeitslehrer, Körpererfinder, Begräbnisclown oder Lückensüßer endet. All das, um die Reichen bei Laune zu halten und sie, begierig ihrer Langweile entkommen zu wollen, auch immer schön bezahlen zu lassen.

Man ist hier gefesselt, möchte erfahren, was Jodorowsky noch an absurden Situationen, Mythen und Spielereien auftut. Ein bisschen ist es wie ein riesiges Theater oder eben ein surrealer Film, wo sich eine wunderbare Sprache ins Bild wandelt. Gewöhnungsbedürftig ist dabei allerdings das ständige Nebeneinander von Religion und Sexualität.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 08.11.2007 23:42 | nach oben springen

#3

RE: Alexandro Jodorowsky

in Die schöne Welt der Bücher 18.04.2008 21:53
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Arte bringt zwei Filme von ihm. Heute um 23.35 Uhr - "Der Heilige Berg"


... und nächsten Freitag um 23.30 Uhr endlich "El Topo".


Hier Genaueres.

Bin gespannt, ob diese Filme heute noch so auf mich wirken, wie früher.

Liebe Grüße
Taxine



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 18.04.2008 21:55 | nach oben springen


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