HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Michel Leiris, geboren 1901 in Paris, Zeitgenosse und Freund von Georges Bataille (dem er das Buch Mannesalter" auch gewidmet hat), Pablo Picasso, Jean Paul Sartre und Gesprächspartner und Neffe von Raymund Roussel, ist bekannt durch seine sich über fast vier Jahrzehnte (1940 -1975) erstreckende Arbeit der autobiographischen Tetralogie "La règle du jeu" (zu der ich selbstverständlich auch noch kommen werde).
Nach der Zeit des ersten Weltkriegs gewinnt er Anschluss an die avantgardistischen Künstlerzirkel der Epoche, insbesondere zum Surrealismus; rasch befreundet er sich mit Max Jacob, André Masson und anderen. Diese Verbindung hält bis ins Jahr 1929, wonach er die Gruppe verlässt, um größere künstlerische Selbständigkeit zu erlangen. Lediglich mit André Masson, den er in dieser Zeit kenngelernt hatte, verbindet ihn eine lebenslängliche Freundschaft. In dieser Zeit (nach der Trennung von den Surrealisten) entsteht auch "Mannesalter", und zwar, nachdem er sich von 1929 bis 1935 einer psychoanalytischen Therapie unter Adrien Borel unterzogen hat, in deren Verlauf er die Notwendigkeit einer intimen Autobiographie als Voraussetzung für einen Heilungserfolg erkennt.
Ein Buch also ... mit dem schonungslosen Blick auf sich selbst ... verführt auch den Leser zum eigenen Blick auf sich selbst. Darum werde ich beim Lesen von Leiris sicherlich auch einige Selbstbetrachtungen anstellen.
Leiris sagt in seinem Vorwort:
Später stellt er zum Beispiel in der Erinnerung an seine ersten Kindheitserfahrungen die Hinterfragung an, ob er seine Gefühle nicht mit dem Jetzt der Betrachtung verstärkt. Er erzählt also und hinterfragt gleichzeitig das, was er erzählt.
Und weiter:
Das Schreiben über sich selbst sollte eigentlich jeder Kritik bar sein. Denn:
Aber, warum überhaupt eine Autobiografie schreiben, wenn man dabei doch nur das eigene Unglück dem Leid der Welt gegenüber stellt? Oder in Leiris Worten:
Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist tatsächlich nur der Blick auf das Selbst wirklich aufrichtig. Was weiß man schließlich tatsächlich über die Welt? Man kann nur aus seinem Denken darüber urteilen, sich selbst aber zu betrachten und zu „schreiben“, darin liegt etwas Echtes.
Leiris vergleicht das Schreiben über sich Selbst mit einem Stierkampf. Wie der Matador kann auch der Schriftsteller viel verlieren, auch wenn es nicht die „echte“ Gefahr ist, er nicht tatsächlich sein Leben verliert, wie der Stierkämpfer, der sich erbarmungslos in die Gefahr stürzt. Der Schriftsteller verliert höchstens die Achtung anderer und seiner selbst, entblößt seine Seele, steht also nackt der Welt gegenüber, was immer eine Art Überwindung ist.
Literat ist, wer beim Denken gerne eine Schreibfeder in der Hand hält.
Und er sucht im Niederschreiben das eigene Ich zu verstehen, sich selbst zu erkennen und zu betrachten, eben ähnlich einer therapeutischen Sitzung, wo diese Aufgabe ein anderer mit Hilfe des eigenen Fortschreitens übernimmt. Gleichzeitig Therapeut und Patient zu sein, das stelle ich mir schwierig vor, wenn ich auch mittlerweile weit davon entfernt bin, zu glauben, wenn ich mich selbst entschlüssle, selbst klarer sehe, würde ich an diesen Erkenntnissen zugrunde gehen, wie ich es früher einmal gedacht habe, weil man dabei scheinbar auf seine eigenen Abgründe stößt. Als ich so dachte, wusste ich nichts von mir selbst, habe also von außen Vermutungen angestellt und damit immer die intensive Betrachtung gescheut. Doch trifft man für sich im Leben Entscheidungen, dann bleibt einem gar nichts anderes übrig, als tatsächlich das eigene Ich zu durchleuchten, um herauszufinden, was man will und was man kann, wer man ist und wie man sein Leben leben möchte.
Aber, zurück zu Leiris. Im Nachhinein sagt er über sein Schreiben:
Diese Absolution erhält man aber nicht, höchstens durch sich selbst, was nur dann ausreicht, wenn man sich selbst gefunden hat. Leiris schreibt aber, um sich zu finden, was die Schwierigkeit deutlich macht.
Und das wird dann auch zur Kunst. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und durch das Aufschreiben und die Nacktheit damit auch andere Menschen zu erreichen... eine Form der Befreiung seiner selbst, sich selbst "ganz und gar zu realisieren" und damit vielleicht den Ausschlag geben "für eine Befreiung aller Menschen".
Nach der Zeit des ersten Weltkriegs gewinnt er Anschluss an die avantgardistischen Künstlerzirkel der Epoche, insbesondere zum Surrealismus; rasch befreundet er sich mit Max Jacob, André Masson und anderen. Diese Verbindung hält bis ins Jahr 1929, wonach er die Gruppe verlässt, um größere künstlerische Selbständigkeit zu erlangen. Lediglich mit André Masson, den er in dieser Zeit kenngelernt hatte, verbindet ihn eine lebenslängliche Freundschaft. In dieser Zeit (nach der Trennung von den Surrealisten) entsteht auch "Mannesalter", und zwar, nachdem er sich von 1929 bis 1935 einer psychoanalytischen Therapie unter Adrien Borel unterzogen hat, in deren Verlauf er die Notwendigkeit einer intimen Autobiographie als Voraussetzung für einen Heilungserfolg erkennt.
Ein Buch also ... mit dem schonungslosen Blick auf sich selbst ... verführt auch den Leser zum eigenen Blick auf sich selbst. Darum werde ich beim Lesen von Leiris sicherlich auch einige Selbstbetrachtungen anstellen.
Leiris sagt in seinem Vorwort:
In Antwort auf:
Vom rein ästhetischen Gesichtspunkt aus handelte es sich für mich darum, eine Gruppe von Tatsachen und Bildern in fast rohem Zustand zu verdichten und mich zu weigern, sie durch Überarbeitungen der Phantasie auszubeuten; im ganzen also: die Negation des Romans. Jede Verkleidung abwerfen und als Materialien nur wirkliche Tatsachen (und nicht wie im klassischen Roman bloß wahrscheinliche) zulassen, so lautete die Regel, die ich mir erwählt hatte.
Später stellt er zum Beispiel in der Erinnerung an seine ersten Kindheitserfahrungen die Hinterfragung an, ob er seine Gefühle nicht mit dem Jetzt der Betrachtung verstärkt. Er erzählt also und hinterfragt gleichzeitig das, was er erzählt.
Und weiter:
In Antwort auf:
In dieser Richtung war bereits durch Bretons NADJA ein Weg gebahnt worden, aber ich träumte vor allem davon, jenes Projekt – soweit es sich tun ließe – auf meine eigene Rechnung fortzuführen, zu welchem sich Baudelaire durch eine Stelle in den MARGINALIEN von Poe hatte anregen lassen: sein Herz bloßzulegen, dieses Buch über sich selbst zu schreiben und darin die Bemühung um Aufrichtigkeit so weit zu treiben, dass unter den Sätzen des Verfassers „das Papier sich kräuseln und aufflammen müsste bei jedem Strich der Feuerfeder“.
Das Schreiben über sich selbst sollte eigentlich jeder Kritik bar sein. Denn:
In Antwort auf:
… ist das, was auf dem Gebiete der Schriftstellerei vor sich geht, nicht jeden Wertes bar, wenn es ästhetisch bleibt, harmlos und straffrei?
Aber, warum überhaupt eine Autobiografie schreiben, wenn man dabei doch nur das eigene Unglück dem Leid der Welt gegenüber stellt? Oder in Leiris Worten:
In Antwort auf:
… was hätte in dem ungeheuren Folterlärm der Welt dieses winzige Jammern über eng begrenzte individuelle Schwierigkeiten für einen Sinn?
Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist tatsächlich nur der Blick auf das Selbst wirklich aufrichtig. Was weiß man schließlich tatsächlich über die Welt? Man kann nur aus seinem Denken darüber urteilen, sich selbst aber zu betrachten und zu „schreiben“, darin liegt etwas Echtes.
Leiris vergleicht das Schreiben über sich Selbst mit einem Stierkampf. Wie der Matador kann auch der Schriftsteller viel verlieren, auch wenn es nicht die „echte“ Gefahr ist, er nicht tatsächlich sein Leben verliert, wie der Stierkämpfer, der sich erbarmungslos in die Gefahr stürzt. Der Schriftsteller verliert höchstens die Achtung anderer und seiner selbst, entblößt seine Seele, steht also nackt der Welt gegenüber, was immer eine Art Überwindung ist.
Literat ist, wer beim Denken gerne eine Schreibfeder in der Hand hält.
Und er sucht im Niederschreiben das eigene Ich zu verstehen, sich selbst zu erkennen und zu betrachten, eben ähnlich einer therapeutischen Sitzung, wo diese Aufgabe ein anderer mit Hilfe des eigenen Fortschreitens übernimmt. Gleichzeitig Therapeut und Patient zu sein, das stelle ich mir schwierig vor, wenn ich auch mittlerweile weit davon entfernt bin, zu glauben, wenn ich mich selbst entschlüssle, selbst klarer sehe, würde ich an diesen Erkenntnissen zugrunde gehen, wie ich es früher einmal gedacht habe, weil man dabei scheinbar auf seine eigenen Abgründe stößt. Als ich so dachte, wusste ich nichts von mir selbst, habe also von außen Vermutungen angestellt und damit immer die intensive Betrachtung gescheut. Doch trifft man für sich im Leben Entscheidungen, dann bleibt einem gar nichts anderes übrig, als tatsächlich das eigene Ich zu durchleuchten, um herauszufinden, was man will und was man kann, wer man ist und wie man sein Leben leben möchte.
Aber, zurück zu Leiris. Im Nachhinein sagt er über sein Schreiben:
In Antwort auf:
Ich war mir zuwenig klar darüber, dass auf dem Grunde jeder Introspektion ein Gefallen an der Selbstbetrachtung liegt und auf dem Grunde jeder Beichte der Wunsch nach Absolution.
Diese Absolution erhält man aber nicht, höchstens durch sich selbst, was nur dann ausreicht, wenn man sich selbst gefunden hat. Leiris schreibt aber, um sich zu finden, was die Schwierigkeit deutlich macht.
In Antwort auf:
Denn die Wahrheit sagen, nichts als die Wahrheit, das ist nicht alles: man muss ihr auch unerschrocken zu begegnen wissen und sie ohne Künstelei aussprechen, ohne großartige Worte, die Eindruck machen sollen, ohne Tremolos oder Seufzer im Tonfall, Verzierungen, Vergoldungen, die kein anderes Ergebnis hätten als sie mehr oder weniger zu verkleiden, wenn auch nur durch Abmildern ihrer Grausamkeit, und ihre schockierenden Züge weniger spürbar zu machen.
Und das wird dann auch zur Kunst. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und durch das Aufschreiben und die Nacktheit damit auch andere Menschen zu erreichen... eine Form der Befreiung seiner selbst, sich selbst "ganz und gar zu realisieren" und damit vielleicht den Ausschlag geben "für eine Befreiung aller Menschen".
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 19.01.2008 16:42 |
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Ich bin froh, dass du uns den Autoren vorstellst. Er tritt hier erstmals in mein Bewusstsein.
Woher nimmt er den Mut, seine intime Selbstdiagnose zu veröffentlichen? Ein Weg, den man auch für sich selbst ausprobieren kann. Michel Leiris passt z.Zt. vielleicht ganz gut in mein Lektürevorhaben, da er auch Sarte kannte. Und bei Cesare Pavese habe ich auch schon existentialistisches gefunden.
Literarisch gesehen komme ich immer wieder auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Ich denke, es währt nicht lange, und ich blättere selbst in Michel Leiris.
Martinus
Woher nimmt er den Mut, seine intime Selbstdiagnose zu veröffentlichen? Ein Weg, den man auch für sich selbst ausprobieren kann. Michel Leiris passt z.Zt. vielleicht ganz gut in mein Lektürevorhaben, da er auch Sarte kannte. Und bei Cesare Pavese habe ich auch schon existentialistisches gefunden.
Literarisch gesehen komme ich immer wieder auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Ich denke, es währt nicht lange, und ich blättere selbst in Michel Leiris.
Martinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 19.01.2008 16:12 |
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#3
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Michel Leiris
in Die schöne Welt der Bücher 19.01.2008 16:17von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Das wäre großartig..., Martinus.
Der Mut entsteht wohl daraus, dass er es zu einer Art Kunst erhebt.
... sagt er direkt am Anfang, um sich vorzustellen.
Leiris macht mir etwas mehr begreiflich, was so viele Menschen (und Künstler) am Stierkampf fasziniert. Es ist diese spürbare Erregung, die in der Luft liegt, weil der Tod so nahe über dem Geschehen schwebt. Gleichzeitig liegt in diesem Kampf eine Unberechenbarkeit, die den Zuschauer wohl gefangen nimmt. Zumeist stirbt das Tier, doch das Spiel und die Kunst des Matadors, diesen unkontrollierten Zug am Tier unter seine Kontrolle zu bringen, erschafft dann wohl auch die Bewunderung der Menge.
Mich selbst würden keine zehn Pferde (nicht einmal die zart gereichte Hand eines Freundes) in solch eine Arena bringen, weil mich der Tod und die Spannung davor nicht erregt. Aber, ich kann nachvollziehen, dass die Betrachtung des Unbekannten (wie als Kind die erste Betrachtung eines Leichnams) immer ein seltsames Gefühl im Menschen auslöst, das ihn fesselt.
Leiris vergleicht diesen Kampf mit einer religiösen Zeremonie, wobei sich der Matador zum Priester wandelt, der Stier zum Opfer, und das Verzehren der Genitalien eine Art Kraft-Einverleibung darstellt. Und das ist das Schreiben für ihn auch. Eine Zeremonie, in der er sich auseinandernimmt und wieder zusammenbaut, ohne Rücksicht auf Verluste.
Der Mut entsteht wohl daraus, dass er es zu einer Art Kunst erhebt.
In Antwort auf:
…es graut mir davor, mich unversehens in einen Spiegel zu erblicken, denn wenn ich nicht darauf vorbereitet bin, erscheine ich mir jedesmal von demütigender Hässlichkeit.
... sagt er direkt am Anfang, um sich vorzustellen.
Leiris macht mir etwas mehr begreiflich, was so viele Menschen (und Künstler) am Stierkampf fasziniert. Es ist diese spürbare Erregung, die in der Luft liegt, weil der Tod so nahe über dem Geschehen schwebt. Gleichzeitig liegt in diesem Kampf eine Unberechenbarkeit, die den Zuschauer wohl gefangen nimmt. Zumeist stirbt das Tier, doch das Spiel und die Kunst des Matadors, diesen unkontrollierten Zug am Tier unter seine Kontrolle zu bringen, erschafft dann wohl auch die Bewunderung der Menge.
Mich selbst würden keine zehn Pferde (nicht einmal die zart gereichte Hand eines Freundes) in solch eine Arena bringen, weil mich der Tod und die Spannung davor nicht erregt. Aber, ich kann nachvollziehen, dass die Betrachtung des Unbekannten (wie als Kind die erste Betrachtung eines Leichnams) immer ein seltsames Gefühl im Menschen auslöst, das ihn fesselt.
Zitat von Leiris
Die Augenblicke, durch die das Göttliche hindurchgeht, - wenn die Empfindung einer beständig abgelenkten und wieder aufgegriffenen Katastrophe ein Schwindelgefühl erzeugt, in dessen Tiefe Entsetzen und Genuss zusammenfallen – sind jene, wo der Torero mit dem Tode spielt, ihm nur durch ein Wunder entgeht, ihn bezaubert; dadurch wird er zum Heros, und die Menge seiht sich in ihm verkörpert, sie gelangt durch seine Stellvertretung zur Unsterblichkeit, zu einer Ewigkeit, die um so berauschender ist, als sie nur an einem Faden hängt.
Leiris vergleicht diesen Kampf mit einer religiösen Zeremonie, wobei sich der Matador zum Priester wandelt, der Stier zum Opfer, und das Verzehren der Genitalien eine Art Kraft-Einverleibung darstellt. Und das ist das Schreiben für ihn auch. Eine Zeremonie, in der er sich auseinandernimmt und wieder zusammenbaut, ohne Rücksicht auf Verluste.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 19.01.2008 16:31 |
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#4
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Michel Leiris
in Die schöne Welt der Bücher 25.01.2008 19:37von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Leiris weiterhin zusammenzufassen gestaltet sich schwierig. Sollte man es in einem Wort kleiden, dann ließe sich alles unter "Verletzungen" oder "Übelkeit" einordnen. Er berichtet von seinen kindlichen Stürzen und Schreckerlebnissen, als wäre er einzig durch sie als Mensch geprägt worden.
Dann diese Momente, in denen er den Orgasmus mit dem Tod vergleicht:
bis hin zur der "offenen Wunde" der Frau, vor der er sich sein Leben lang mit Erfurcht fürchtet. Leiris hat später auf seinen Reisen nach Afrika einen missglückten Selbstmordversuch begangen, vielleicht, um nur zu probieren, wohin es führt. Dieser Verdacht kommt einem, wenn man im Buch folgende Andeutung liest, (die mich sofort an Kirilloff aus den Dämonen erinnert):
Und der "Sinn des Selbstmords" ist:
Auch lässt er in seinen Berichten über die verschiedenen Theater- und Opernaufführungen ganz überraschend einfließen, dass er, während er auf der Bühne die Hauptdarstellerin in ihrer Pracht bewundert und dadurch feststellt, dass er seine Freundin, die neben ihm sitzt, eigentlich gar nicht mehr liebt, seinen Körper zur Strafe für den Gefühlsverlust mit einer Schere malträtierte.
"Mannesalter" war sein erster Versuch, in "Spielregel" hat er sein Konzept der schonungslosen Autobiographie noch vervollkommnet.
Bei Wikipedia heißt es:
Das Buch ist dabei retrospektiv ausgelegt: der 34jährige, geistig wie körperlich zerschlagene Ich-Erzähler bemüht sich um die rückhaltlose Rekonstruktion der frühkindlichen Quellen seiner psychologischen und sexuellen Obsessionen.
... und diese gestalten sich aus der Verherrlichung von Lucretia, Judith, Carmen, Salomé, Elektra und anderen, darunter Frauen, die vergewaltigt wurden, um sich danach umzubringen oder einen Mord (im Namen der Gerechtigkeit?) begehen, besonders hier Judith, die Holofernes direkt nach dem Liebesakt enthauptet.
In meinen Augen scheint er entweder die vollendete Hilflosigkeit (siehe die erste Erregung bei den Kindern mit den nackten Füßen) oder die vollendete Stärke für seine Erregung zu benötigen, Frauen, bei denen er die "Haltung des Niedergeschmetterten" einnehmen kann, "Prachtweiber" und Mythenheldinnen, auf die er durch die Rollen seiner "Tante Lise" (mit ihren schönen molligen Armen, ihrem üppigen Hinterteil, ihren schweren Brüsten, eine schöne Brünette, gelassen wie eine junge Kuh, und ihre Haare waren so schwarz, ihre Lippen so rot, ihre Haut so frisch, ihre Augen stolz und immer stark mit Kohle geschwärzt, denn sie verstand es sehr schlecht, sich zu schminken...) aufmerksam wird.
Wunderbar war, wie er von Kleopatra (die in ihrem Wesen die Doppelrolle Herrscherin und Frau mit lockeren Sitten vereint) auf das Bild von Cranach schwenkt, auf dem Lucretia und Judith nebeneinander stehen und einander spiegeln, ergänzen, neutralisieren. Keuschheit und Hure nebeneinander, und das Schwert als Phallus.
Daneben scheint er von einem unbändigen Hass gegen seinen Vater , dem er seine Geschmacklosigkeit und seine Hässlichkeit vorwirft, und gegen seinen älteren Bruder, dem er zuerst seine Ausschweifung und später seine Gewöhnlichkeit vorwirft, erfüllt zu sein. Mit seinem anderen "befreundeten" Bruder verbindet ihn mehr.
So springt er aus der Kindheit in verschiedene Etappen seines Lebens, durchwatet Traum und Gemälde, betrachtet die Bühne und ihre Gestalten. Damals bewirkte diese Art der Autobiographie einen ordentlichen Umschwung.
Dann diese Momente, in denen er den Orgasmus mit dem Tod vergleicht:
In Antwort auf:
Andererseits ließe sich sagen, dass die Todeskrise eine gewisse Analogie mit dem Orgasmus aufweist, von dem man niemals im eigentlichen Sinne ein Bewusstsein hat, weil er die aufgelöste Flucht aller Fähigkeiten mit sich bringt und einer momentanen Rückkehr ins Chaos gleichkommt.
bis hin zur der "offenen Wunde" der Frau, vor der er sich sein Leben lang mit Erfurcht fürchtet. Leiris hat später auf seinen Reisen nach Afrika einen missglückten Selbstmordversuch begangen, vielleicht, um nur zu probieren, wohin es führt. Dieser Verdacht kommt einem, wenn man im Buch folgende Andeutung liest, (die mich sofort an Kirilloff aus den Dämonen erinnert):
In Antwort auf:
Dieses gleiche magische Verfahren, das darin besteht, absichtlich herbeizuführen, wovor man Furcht hat, um uns davon zu befreien – ins Wasser springen, um dem Regen zu entgehen -, kann sich im Selbstmord wiederfinden: in vieler Beziehung bekommt er seine Anziehungskraft daher, dass er uns paradoxerweise als das einzige Mittel erscheint, dem Tode zu entgehen: nämlich indem wir frei über ihn verfügen, ihn selbst verwirklichen.
Und der "Sinn des Selbstmords" ist:
In Antwort auf:
... gleichzeitig Selbst und ein Anderer zu sein, männlich und weiblich, Subjekt und Objekt, das was getötet wird und das was tötet, - die einzige Möglichkeit einer Kommunion mit sich selbst.
Auch lässt er in seinen Berichten über die verschiedenen Theater- und Opernaufführungen ganz überraschend einfließen, dass er, während er auf der Bühne die Hauptdarstellerin in ihrer Pracht bewundert und dadurch feststellt, dass er seine Freundin, die neben ihm sitzt, eigentlich gar nicht mehr liebt, seinen Körper zur Strafe für den Gefühlsverlust mit einer Schere malträtierte.
"Mannesalter" war sein erster Versuch, in "Spielregel" hat er sein Konzept der schonungslosen Autobiographie noch vervollkommnet.
Bei Wikipedia heißt es:
Das Buch ist dabei retrospektiv ausgelegt: der 34jährige, geistig wie körperlich zerschlagene Ich-Erzähler bemüht sich um die rückhaltlose Rekonstruktion der frühkindlichen Quellen seiner psychologischen und sexuellen Obsessionen.
... und diese gestalten sich aus der Verherrlichung von Lucretia, Judith, Carmen, Salomé, Elektra und anderen, darunter Frauen, die vergewaltigt wurden, um sich danach umzubringen oder einen Mord (im Namen der Gerechtigkeit?) begehen, besonders hier Judith, die Holofernes direkt nach dem Liebesakt enthauptet.
In Antwort auf:
Ich stelle mir vor, ich läge zu Füßen dieses Idols wie Holofernes mit dem abgeschlagenen Kopf.
In meinen Augen scheint er entweder die vollendete Hilflosigkeit (siehe die erste Erregung bei den Kindern mit den nackten Füßen) oder die vollendete Stärke für seine Erregung zu benötigen, Frauen, bei denen er die "Haltung des Niedergeschmetterten" einnehmen kann, "Prachtweiber" und Mythenheldinnen, auf die er durch die Rollen seiner "Tante Lise" (mit ihren schönen molligen Armen, ihrem üppigen Hinterteil, ihren schweren Brüsten, eine schöne Brünette, gelassen wie eine junge Kuh, und ihre Haare waren so schwarz, ihre Lippen so rot, ihre Haut so frisch, ihre Augen stolz und immer stark mit Kohle geschwärzt, denn sie verstand es sehr schlecht, sich zu schminken...) aufmerksam wird.
Wunderbar war, wie er von Kleopatra (die in ihrem Wesen die Doppelrolle Herrscherin und Frau mit lockeren Sitten vereint) auf das Bild von Cranach schwenkt, auf dem Lucretia und Judith nebeneinander stehen und einander spiegeln, ergänzen, neutralisieren. Keuschheit und Hure nebeneinander, und das Schwert als Phallus.
Daneben scheint er von einem unbändigen Hass gegen seinen Vater , dem er seine Geschmacklosigkeit und seine Hässlichkeit vorwirft, und gegen seinen älteren Bruder, dem er zuerst seine Ausschweifung und später seine Gewöhnlichkeit vorwirft, erfüllt zu sein. Mit seinem anderen "befreundeten" Bruder verbindet ihn mehr.
So springt er aus der Kindheit in verschiedene Etappen seines Lebens, durchwatet Traum und Gemälde, betrachtet die Bühne und ihre Gestalten. Damals bewirkte diese Art der Autobiographie einen ordentlichen Umschwung.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 26.01.2008 01:56 |
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zum Stierkampf:
Das Kapitel über den Stierkampf „Lucretia“ hat mich bisher am meisten mitgerissen, denn Michel Leiris' Deutung , der Stierkampf sei religiöses Ritual, ist eine Interpretation mit der ich etwas anfangen kann, obwohl der kultische Sinn des Stierkampfes heute verlorengegangen ist, wenn ich daran denke, dass heutzutage mehere auf einen Stier losgelassen werden (der Matador hat noch Gehilfen, die den Stier zielgerichtet schwächen) , sodass ein Stier heute kaum seinen Stier stehen kann und eine einzelner Matador nicht seinen Mann - eine Profanisierung. Das überlegende Gefühl des Sieges über den Tod kann auch, so glaube ich, nur dann erlebt werden, wenn ein einzelner Torero dem Stier gegenübersteht, denn nur dann ist die gleiche Chance zwischen Mensch und Tier gegeben. In dieser religiösen Zeremonie soll dem Sieger die Unsterblichkeit gegeben werden ( so ist es vielleicht ursprünglich gemeint) bzw. für einen Moment das Gefühl der Unsterblichkeit.
Besonders interessant ist natürlich die Einverleibung, die wir auch im Christentum haben (Brotlaib = Leib Christi). Michel Leiris spricht von der Identifikation mit dem Stier, wenn ihn der Degen durchbohrt. Die edelste Form der Vereinigung haben wir im Buddhismus, weil die Vereinigung dort vergeistigt ist (Alles ist Eins). Der Wunsch nach Einigung. Leiris erwähnt in diesem Zusammenhang den Geschlechtsakt.
Das Kapitel über den Stierkampf „Lucretia“ hat mich bisher am meisten mitgerissen, denn Michel Leiris' Deutung , der Stierkampf sei religiöses Ritual, ist eine Interpretation mit der ich etwas anfangen kann, obwohl der kultische Sinn des Stierkampfes heute verlorengegangen ist, wenn ich daran denke, dass heutzutage mehere auf einen Stier losgelassen werden (der Matador hat noch Gehilfen, die den Stier zielgerichtet schwächen) , sodass ein Stier heute kaum seinen Stier stehen kann und eine einzelner Matador nicht seinen Mann - eine Profanisierung. Das überlegende Gefühl des Sieges über den Tod kann auch, so glaube ich, nur dann erlebt werden, wenn ein einzelner Torero dem Stier gegenübersteht, denn nur dann ist die gleiche Chance zwischen Mensch und Tier gegeben. In dieser religiösen Zeremonie soll dem Sieger die Unsterblichkeit gegeben werden ( so ist es vielleicht ursprünglich gemeint) bzw. für einen Moment das Gefühl der Unsterblichkeit.
Besonders interessant ist natürlich die Einverleibung, die wir auch im Christentum haben (Brotlaib = Leib Christi). Michel Leiris spricht von der Identifikation mit dem Stier, wenn ihn der Degen durchbohrt. Die edelste Form der Vereinigung haben wir im Buddhismus, weil die Vereinigung dort vergeistigt ist (Alles ist Eins). Der Wunsch nach Einigung. Leiris erwähnt in diesem Zusammenhang den Geschlechtsakt.
Zitat von Leiris
„...so hat sich im Geschlechtsverkehr der Mann unter vier Augen mit der Partnerin, die er sich gefügig machen muß, einer Wirklichkeit gegenüber zu bewähren.“
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 26.01.2008 16:41 |
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#6
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Michel Leiris
in Die schöne Welt der Bücher 26.01.2008 17:30von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Der Verzehr der Genitalien des toten Stiers ist, nach Leiris und der damaligen Zeit, eine neumodische Erscheinung, die eigentlich auch schon profan ist. Der Vergleich des Schreibens (geistiger Suizid) mit dem Kampf in der Arena (möglicher Suizid) muss in Leiris überhaupt eine Sehnsucht nach dem "Alles-Auslöschen" geweckt haben. Schreiben um zu sterben, oder so schreiben, dass man danach ruhig sterben könnte, vielleicht sterben sollte. Tod, Sex und Kunst fließen hier bewusst ineinander.
Art & Vibration
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#8
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Michel Leiris
in Die schöne Welt der Bücher 29.01.2008 15:43von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Bei Leiris lässt sich gut erkennen, was diese Überspanntheit, diese all zu hoch geschraubte Erwartung im Menschen anrichtet, dass alles, was ihm begegnet, sofort an Höhe, an Glanz verliert, sobald es aus der Wunschvorstellung in Realität wechselt. Die Sehnsucht nach der perfekten Frau muss Sehnsucht bleiben und verliert an Zauber, sobald wirklich eine Frau in sein Leben tritt.
Alles, was er tut, muss etwas Außergewöhnliches sein, ansonsten fühlt sich Leiris nicht als Mensch. Am meisten fürchtet er die Gewöhnlichkeit. Als ihm ein befreundeter Dichter sagt, dass es um sein Talent nicht all zu gut bestellt ist, überlegt er, sich wenigstens dessen Laster anzueignen, um zu hoffen, sich so auch dessen Genie zu erwerben. Und die Liebe muss für ihn immer überwältigend sein, pure Illusion und ein ewiges und mit Grausamkeit und Mitleid wechselndes Spiel bleiben.
Der Tod muss immer spürbar sein, und die Sehnsucht nach dem Suizid ist etwas Selbstverständliches. Leiris taumelt zwischen Wirklichkeit und Phantasie (Ausgeburten seines Geistes und seiner Obzessionen) und ist immer auf der Suche nach dem Absoluten, wo darüber hinaus die Wirklichkeit nur Enttäuschung bleiben kann.
In Antwort auf:
… und noch heute frage ich mich manchmal, ob die Frau, mit der man lebt, dieses Bildnis dessen, was man ersehnt hat, nicht – so würdig sie der Liebe sein mag – ein täglicher Vorwurf ist, weil man nicht „das Unmögliche begehrt“ hat, weil man sich bescheiden konnte.
Alles, was er tut, muss etwas Außergewöhnliches sein, ansonsten fühlt sich Leiris nicht als Mensch. Am meisten fürchtet er die Gewöhnlichkeit. Als ihm ein befreundeter Dichter sagt, dass es um sein Talent nicht all zu gut bestellt ist, überlegt er, sich wenigstens dessen Laster anzueignen, um zu hoffen, sich so auch dessen Genie zu erwerben. Und die Liebe muss für ihn immer überwältigend sein, pure Illusion und ein ewiges und mit Grausamkeit und Mitleid wechselndes Spiel bleiben.
In Antwort auf:
Ganz allgemein gesehen sind Sadismus, Masochismus usw. für mich keine „Laster“, sondern nichts weiter als Mittel eine intensivere Realität zu erreichen. In der Liebe erscheint mir alles immer viel zu billig, viel zu harmlos, viel zu unernst. Damit das Spiel wirklich den Einsatz lohne, müssten gesellschaftliche Bloßstellung, Blut oder Tod dabei sein.
Der Tod muss immer spürbar sein, und die Sehnsucht nach dem Suizid ist etwas Selbstverständliches. Leiris taumelt zwischen Wirklichkeit und Phantasie (Ausgeburten seines Geistes und seiner Obzessionen) und ist immer auf der Suche nach dem Absoluten, wo darüber hinaus die Wirklichkeit nur Enttäuschung bleiben kann.
In Antwort auf:
Da ich mich immer entweder über oder unter den konkreten Ereignissen befinde, bleibe ich in dieser Alternative befangen: die Welt als objektive Realität, die mich durch Leiden und Furcht beherrscht und vernichtet (wie Judith), oder aber die Welt als reines Phantasiegebilde, die sich mir unter den Händen auflöst, die ich zerstöre (wie die erdolchte Lucretia), ohne jemals dazu fähig zu sein, sie zu besitzen.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 29.01.2008 15:44 |
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#9
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Michel Leiris
in Die schöne Welt der Bücher 04.02.2008 23:05von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Michel Leiris
Spielregel
1. Bd. - Streichungen
Auf so etwas bin ich ja auch schon lange nicht mehr gestoßen, dass ein Mensch hier so weit zurückgeht und seine ganze Auffassung und (Be)Deutung der Worte durchstöbert. Und, ich muss sagen, es hat mich sehr beeindruckt. Da sieht man Leiris von einer ganz neuen Seite, viel gereifter als in "Mannesalter", und ein riesiges Kompliment an Hans Therre, der hier so wunderbar und unaufdringlich, aber hilfreich übersetzt hat.
Direkt am Anfang die Auseinandersetzung mit dem Wort "Reusement!" - das nicht existiert, das vom Kind falsch verstanden eigentlich als "heureusement" gängig ist. Doch Leiris als Kind und in Anbetracht des plötzlichen Falls einer seiner Spielfiguren auf den bedrohlichen Boden schreit "Reusement!".
Ein Kind stößt da also ein Wort aus, das den scheinbaren Verlust seiner Spielfigur als Lück(e) bezeichnet, (in etwa Lück, statt Glück), obwohl „glücklicherweise“ (Glück gehabt) gemeint war. Die Lücke aber, die der Fall der Figur auslöst, die im Nachhinein erkannt nicht kaputt gegangen ist, und die Lücke, die die Phantasiewelt in der eigentlichen Welt einnimmt, wandeln das nicht existierende Wort in ein passendes, macht es damit berechtigt, und das Kind fühlt sich von den Erwachsenen, die es berichtigen, betrogen.
Auch schön von Therre, wie er überlegt, hier übersetzen zu können und auf ein Namensschild mit der Aufschrift G. Lück trifft, das dann genau das ausdrückt, was Leiris aussagen wollte.
Darüber hinaus verfängt sich Leiris dann in die sehr eigenwillige Betrachtung seiner kindlichen Auffassung, gerade auf die Konfrontation mit den Buchstaben (Alphabet) bezogen.
Da wird jede Assoziation hinterfragt, die ein Wort in ihm als Kind ausgelöst hat, und gleichzeitig, während Leiris sich mit der französischen Sprache auseinandersetzt, schweife ich auch in eigene Assoziationen, zu all diesen Worten, die dann in deutscher Sprache auch in mir etwas auslösen.
Da treffen wir auf die "Schlucht", im Französischen "ravis". Und der Laut "v" macht Leiris hier, weil von Natur aus schneidend, den Einschnitt sichbar, folglich muss das Wort diese Schlucht in sich bergen.
Auch ins Deutsche übersetzt habe ich überlegt, dass das Wort in mir einen lauten, mit einem Echo behafteten Ruf in die Weite assoziiert, der zwischen Felsenwänden verklingt und sich noch besser im "u" verdeutlicht, diesen Abgrund - einen abgerundeten Einschnitt, der die Schlucht viel "wesentlicher" trifft.
Oder der "Tod" (mort): das "o" als aufgerissenes Loch...
Dann ist mir auch bewusst geworden, was im Französischen nicht vorkommt, dass die doppelten Buchstaben ein Wort beschleunigen und es dadurch härter erscheinen lassen, wie in der Bewegung.
"Still" - wirkt wie ein aprubter Abbruch, ein schnelles Zischen, der "Fall" erscheint immer schon fast als gelöst... usw.
Leiris stößt einen hier auf ganz schön weite Abzweigungen im Denken, die aber durchaus interessant sind. Die Sprache als Brücke zum Verständnis...oder die erst dann ihre Wirkung tut, "wenn sie im Mund Gestalt annimmt". Sie mag hier auch verschachteln und in die Verwirrung führen, denn jeder Mensch interpretiert in jedes eigentliche Wort noch einmal seine eigene Vorstellung davon plus die Erinnerungen an eine vergängliche Auffassung.
Letztendlich führt all das aber zu einem ganz eigenen Verständnis. Leiris dazu:
Ein gekonntes Bild. Es erinnert mich ein bisschen an die Selbstverwirrungen, in die man so gerne gerät, wenn man ein Thema immer wieder neu durchdenkt.
Zu gierig geschlungen, erbricht man die Buchstaben wieder und verwirft sie erst einmal, um viel später wieder auf sie zurückzukommen.
Und, im Genuss all dieser "Erweiterungen" und "Erkenntnisse" erkennt auch Leiris, dass:
Irgendwann wird das Umwandeln der Worte Gewohnheit und erst dann auch vielfältig, um wieder auf einen Punkt gebracht zu werden. Doch als Kind ist man noch erstaunt, wenn die Wirkung eines Wortes auf einmal ganz neu und verändert durch den wachsenden Geist bricht...
Spielregel
1. Bd. - Streichungen
Auf so etwas bin ich ja auch schon lange nicht mehr gestoßen, dass ein Mensch hier so weit zurückgeht und seine ganze Auffassung und (Be)Deutung der Worte durchstöbert. Und, ich muss sagen, es hat mich sehr beeindruckt. Da sieht man Leiris von einer ganz neuen Seite, viel gereifter als in "Mannesalter", und ein riesiges Kompliment an Hans Therre, der hier so wunderbar und unaufdringlich, aber hilfreich übersetzt hat.
Direkt am Anfang die Auseinandersetzung mit dem Wort "Reusement!" - das nicht existiert, das vom Kind falsch verstanden eigentlich als "heureusement" gängig ist. Doch Leiris als Kind und in Anbetracht des plötzlichen Falls einer seiner Spielfiguren auf den bedrohlichen Boden schreit "Reusement!".
Ein Kind stößt da also ein Wort aus, das den scheinbaren Verlust seiner Spielfigur als Lück(e) bezeichnet, (in etwa Lück, statt Glück), obwohl „glücklicherweise“ (Glück gehabt) gemeint war. Die Lücke aber, die der Fall der Figur auslöst, die im Nachhinein erkannt nicht kaputt gegangen ist, und die Lücke, die die Phantasiewelt in der eigentlichen Welt einnimmt, wandeln das nicht existierende Wort in ein passendes, macht es damit berechtigt, und das Kind fühlt sich von den Erwachsenen, die es berichtigen, betrogen.
Auch schön von Therre, wie er überlegt, hier übersetzen zu können und auf ein Namensschild mit der Aufschrift G. Lück trifft, das dann genau das ausdrückt, was Leiris aussagen wollte.
Darüber hinaus verfängt sich Leiris dann in die sehr eigenwillige Betrachtung seiner kindlichen Auffassung, gerade auf die Konfrontation mit den Buchstaben (Alphabet) bezogen.
In Antwort auf:
Denn für den Schreibenden geht es allein darum: die von der Gegenwart oder Vergangenheit seines Lebens in der Tiefe des eigenen Kopfes oder Herzens deponierten Ablagerungen, die bislang nur für ihn von Wert, in den Kopf oder ins Herz der anderen zu transportieren; …
Da wird jede Assoziation hinterfragt, die ein Wort in ihm als Kind ausgelöst hat, und gleichzeitig, während Leiris sich mit der französischen Sprache auseinandersetzt, schweife ich auch in eigene Assoziationen, zu all diesen Worten, die dann in deutscher Sprache auch in mir etwas auslösen.
Da treffen wir auf die "Schlucht", im Französischen "ravis". Und der Laut "v" macht Leiris hier, weil von Natur aus schneidend, den Einschnitt sichbar, folglich muss das Wort diese Schlucht in sich bergen.
Auch ins Deutsche übersetzt habe ich überlegt, dass das Wort in mir einen lauten, mit einem Echo behafteten Ruf in die Weite assoziiert, der zwischen Felsenwänden verklingt und sich noch besser im "u" verdeutlicht, diesen Abgrund - einen abgerundeten Einschnitt, der die Schlucht viel "wesentlicher" trifft.
Oder der "Tod" (mort): das "o" als aufgerissenes Loch...
Dann ist mir auch bewusst geworden, was im Französischen nicht vorkommt, dass die doppelten Buchstaben ein Wort beschleunigen und es dadurch härter erscheinen lassen, wie in der Bewegung.
"Still" - wirkt wie ein aprubter Abbruch, ein schnelles Zischen, der "Fall" erscheint immer schon fast als gelöst... usw.
Leiris stößt einen hier auf ganz schön weite Abzweigungen im Denken, die aber durchaus interessant sind. Die Sprache als Brücke zum Verständnis...oder die erst dann ihre Wirkung tut, "wenn sie im Mund Gestalt annimmt". Sie mag hier auch verschachteln und in die Verwirrung führen, denn jeder Mensch interpretiert in jedes eigentliche Wort noch einmal seine eigene Vorstellung davon plus die Erinnerungen an eine vergängliche Auffassung.
Letztendlich führt all das aber zu einem ganz eigenen Verständnis. Leiris dazu:
In Antwort auf:
... von der Frucht des Baumes der Erkenntnis zu kosten, die Bildwelt des Geheimnisses selbst einzuschlürfen und gottgleich zu werden, muss daraus nicht (infolge zu großer Gefrässigkeit und mangels eines edleren Hungers, den ich heute (...) diesem jungen "Allesfresser" (...) zuzubilligen versucht bin) eine wunderschöne Verdauungsstörung erwachsen?
Ein gekonntes Bild. Es erinnert mich ein bisschen an die Selbstverwirrungen, in die man so gerne gerät, wenn man ein Thema immer wieder neu durchdenkt.
Zu gierig geschlungen, erbricht man die Buchstaben wieder und verwirft sie erst einmal, um viel später wieder auf sie zurückzukommen.
Und, im Genuss all dieser "Erweiterungen" und "Erkenntnisse" erkennt auch Leiris, dass:
In Antwort auf:
... meine jeweiligen Fortschritte beim Lesenlernen und beim tastenden Vorankommen in diesem Vorzimmer zu allen anderen Wissenschaften sich nicht von Vereinfachung zu Vereinfachung bewegten, sondern von Erstaunen zu Erstaunen.
Irgendwann wird das Umwandeln der Worte Gewohnheit und erst dann auch vielfältig, um wieder auf einen Punkt gebracht zu werden. Doch als Kind ist man noch erstaunt, wenn die Wirkung eines Wortes auf einmal ganz neu und verändert durch den wachsenden Geist bricht...
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 05.02.2008 00:47 |
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Kinder schnappen etwas aus der Erwachsenenwelt auf: einen Klang, ein Laut: "...Reusement" und verleiben diesen Klang, dieses Wortfragment, welches aber für das Kind kein Fragment ist, in ihre erlebbare Welt ein, die sich von der Perspektive der Welt der Erwachsenenwelt erheblich unterschreidet. Die Erlebniswelt eines Kleinkindes ist fundamental anders. Durch die Korrektur aus der Erwachsenwelt ins "heureusement", geht eine Bewusstseinserweiterung in dem Kind vor; ein kleiner Schritt, aber viele solche kleinen Schritte führen das Kind irgendwann in die weite Welt hinaus, aus der Welt der Spielzeuge.
Bei Leiris heißt das so:
Die Welt des Kindes wird zersplittert, ein Schleier weggezogen. Schön bildhaft ausgedrückt.
Bei Leiris heißt das so:
Zitat von Leiris
Dieses Wort, das ich bis dahin stets verstümmelt hatte, mit einem Schlag in seiner Unversehrtheit zu erfassen, wird zu einer Entdeckung und ist wie das Zerreißen eines Schleiers oder das Zerplittern einer Wahrheit.
Die Welt des Kindes wird zersplittert, ein Schleier weggezogen. Schön bildhaft ausgedrückt.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 05.02.2008 08:37 |
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#11
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Michel Leiris
in Die schöne Welt der Bücher 05.02.2008 20:35von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
ja, finde ich auch. Leiris verwendet eine sehr bildhafte Sprache, manchmal sogar völlig absurd herangeholt und im Zusammenhang dann doch passend, wie zum Beispiel seine "Klangtampons", mit denen er seine Sätze ausstopft.
Ab dem Kapitel "Persephone" wird es wieder überschaubarer. Leiris betrachtet seine "jetzige" Schreiberei, durchleuchtet sie, bezieht sich sogar indirekt auf Heidegger, indem er das "Ich" betrachtet, das ohne das "Du", das "Wir" usw. gar nicht existieren kann, es wirkt dann wie ein Kind...
Heidegger, der das Sein in eigentlich und uneigentlich teilt, unterscheidet auch die Ich-Perspektive und die "man" (wir)-Perspektive, die aber miteinander verbunden sind, was heißt, Der Mensch tut Dinge, die man eben macht, aber trotzdem aus der eigenen Entscheidung heraus, und wird auch von bestimmten Zuständen ständig beeinflusst, usw. Auch Leiris erkennt, dass mit dem "tu est tué" automatisch die Beziehung zwischen der Welt und uns, zwischen Mensch und Mensch erlischt, weil sich "in jeder Sekunde das diplomatische "wir" verfranzt".
Und er ertappt sich auch, wie er versucht, die Schuld oder den Erfolg seines Schreibens in der äußeren Atmosphäre zu suchen.
Dann kommt er zu seiner Vorstellung von Persephone, die Tochter Kore des Zeus, die er als Schlange befruchtet hat, in die sich Hades (der Gott der Unterwelt) verliebt und sie entführt. Ihre Mutter Demeter aber möchte ihre Tochter zurück, worauf Zeus Hades erklärt, falls Kore (in der Unterwelt zu Persephone geworden) nichts gegessen haben sollte, dürfte sie zurück. Nur leider hat sie vier Kerne eines Granatapfels gegessen und muss darum im Wechsel 4 Monate in der Unterwelt und 8 Monate auf der Erde sein. Da Demeter die Muttergöttin ist und für die Fruchtbarkeit der Erde zuständig ist, ist in den 4 Monaten, wo ihre Tochter nicht bei ihr ist aufgrund ihrer Trauer die Erde unfruchtbar.
Wenn man sich Zeus als Schlange vorstellt, dann wird Persephone in meinen Augen auch "abgerundet" oder "kurvig", doch Leiris bezieht all das erneut auf die Schreibweise, dass im Wort selbst die Anspielung des Durchbohrten liegt, auch durch das "s" etwas Wogendes, Trügerisches und Flüchtiges verliehen bekommt. Gleichzeitig wird er an ein Insekt erinnert, dass angeblich mit seinen Scheren die menschlichen Trommelfelle durchbohrt, (es dringt auch so wie sie (Persephone) in ein unterirdisches Königreich ein) und gelangt dadurch zu der Angst vor der inneren Zerstörung, zum möglichen Riss der Stimmbänder, zu einer "bleibenden Naht zwischen Kehle und Trommelfell" bis hin zu der Erkenntnis:
Und vom Ausgehöhlten dann zum aufgerissenen Rachen beim Gesang, in der Erinnerung an einen Zahnarzt, der den Mund bei eben dieser Tätigkeit immer so weit aufriß
bis zur Höhle selbst, in der der primitive Mensch, Troglodyt und Menschenfresser hockt, was alles verbunden mit der innerlichen Angst des Kindes bleibt.
Dies nur, um zu verdeutlichen, wie geschickt Leiris hier von einem Thema zum nächsten gleitet, sich dabei selbst verschachtelt und wieder zum Thema zurückkehrt.
ja, finde ich auch. Leiris verwendet eine sehr bildhafte Sprache, manchmal sogar völlig absurd herangeholt und im Zusammenhang dann doch passend, wie zum Beispiel seine "Klangtampons", mit denen er seine Sätze ausstopft.
Ab dem Kapitel "Persephone" wird es wieder überschaubarer. Leiris betrachtet seine "jetzige" Schreiberei, durchleuchtet sie, bezieht sich sogar indirekt auf Heidegger, indem er das "Ich" betrachtet, das ohne das "Du", das "Wir" usw. gar nicht existieren kann, es wirkt dann wie ein Kind...
In Antwort auf:
das sich ganz allein abzählen will (den Abzählreim) herunterleiert und sich endlos dreht in dieser Spirale von Lauten und Bewegungen, die zu eitlem Gestammel geschrumpft sind, weil die Kameraden fehlen, die Gegenüber und zugleich Verbündete sind, um eine solche Abzählung zu rechtfertigen...
Heidegger, der das Sein in eigentlich und uneigentlich teilt, unterscheidet auch die Ich-Perspektive und die "man" (wir)-Perspektive, die aber miteinander verbunden sind, was heißt, Der Mensch tut Dinge, die man eben macht, aber trotzdem aus der eigenen Entscheidung heraus, und wird auch von bestimmten Zuständen ständig beeinflusst, usw. Auch Leiris erkennt, dass mit dem "tu est tué" automatisch die Beziehung zwischen der Welt und uns, zwischen Mensch und Mensch erlischt, weil sich "in jeder Sekunde das diplomatische "wir" verfranzt".
Und er ertappt sich auch, wie er versucht, die Schuld oder den Erfolg seines Schreibens in der äußeren Atmosphäre zu suchen.
In Antwort auf:
Denn diese Atmosphäre ist in Wahrheit keine Atmosphäre; meine Arbeit wird nur wenig von den Dingen der Außenwelt beeinflusst, und es ist ein allzu faules Verfahren, die Umgebung zu bezichtigen, wenn das Ergebnis meiner Anstrengungen fruchtbar oder dürftig ausfällt, wo sich doch offenbar alles in meinem Kopf abzuspielen und er allein die Verantwortung zu tragen scheint, nicht nur für die Dinge, die ich ihm unmittelbar entnehme, sondern auch für jene, bei denen ich mir einbilde, ich nähme sie von außen, wenn es stimmt, dass es immer nur meine eigenen, von den (in sich selbst indifferenten) Dingen reflektierten Gedanken sind, die mir zurückgeworfen werden, selbst wenn ich glaube, sie entsprängen der "Atmosphäre".
Dann kommt er zu seiner Vorstellung von Persephone, die Tochter Kore des Zeus, die er als Schlange befruchtet hat, in die sich Hades (der Gott der Unterwelt) verliebt und sie entführt. Ihre Mutter Demeter aber möchte ihre Tochter zurück, worauf Zeus Hades erklärt, falls Kore (in der Unterwelt zu Persephone geworden) nichts gegessen haben sollte, dürfte sie zurück. Nur leider hat sie vier Kerne eines Granatapfels gegessen und muss darum im Wechsel 4 Monate in der Unterwelt und 8 Monate auf der Erde sein. Da Demeter die Muttergöttin ist und für die Fruchtbarkeit der Erde zuständig ist, ist in den 4 Monaten, wo ihre Tochter nicht bei ihr ist aufgrund ihrer Trauer die Erde unfruchtbar.
Wenn man sich Zeus als Schlange vorstellt, dann wird Persephone in meinen Augen auch "abgerundet" oder "kurvig", doch Leiris bezieht all das erneut auf die Schreibweise, dass im Wort selbst die Anspielung des Durchbohrten liegt, auch durch das "s" etwas Wogendes, Trügerisches und Flüchtiges verliehen bekommt. Gleichzeitig wird er an ein Insekt erinnert, dass angeblich mit seinen Scheren die menschlichen Trommelfelle durchbohrt, (es dringt auch so wie sie (Persephone) in ein unterirdisches Königreich ein) und gelangt dadurch zu der Angst vor der inneren Zerstörung, zum möglichen Riss der Stimmbänder, zu einer "bleibenden Naht zwischen Kehle und Trommelfell" bis hin zu der Erkenntnis:
In Antwort auf:
Auf der einen Seite steht also das Außen; auf der anderen das Innen; dazwischen liegt das Ausgehöhlte.
Und vom Ausgehöhlten dann zum aufgerissenen Rachen beim Gesang, in der Erinnerung an einen Zahnarzt, der den Mund bei eben dieser Tätigkeit immer so weit aufriß
In Antwort auf:
Vielleicht war es ihm, durch dieses ständige Beugen über die weitaufgerissenen Münder seiner Patienten angesteckt, zur Gewohnheit geworden, dieselbe Höhle vorzuzeigen...
bis zur Höhle selbst, in der der primitive Mensch, Troglodyt und Menschenfresser hockt, was alles verbunden mit der innerlichen Angst des Kindes bleibt.
Dies nur, um zu verdeutlichen, wie geschickt Leiris hier von einem Thema zum nächsten gleitet, sich dabei selbst verschachtelt und wieder zum Thema zurückkehrt.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 05.02.2008 21:13 |
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