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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Das Findelbuch 01

in Die Zeiten sind, waren, werden sein: so und so 14.02.2008 19:57
von headprint • 135 Beiträge
Alle Zitate sind so wie hier

Als ich zu einem Treffen zwecks lokaler Geschichte
und deren Bewerkung in der Gegenwart ging, kam ich
zu früh und vertrieb mir die Zeit damit das Regal
durchzusehen, auf dem die ausgemusterten oder gar
nicht erst eingearbeiteten Buchgeschenke oder bes-
ser: ~überlassungen an die örtliche Leihbücherei
zur kostenfreien Mitnahme angeprangert sind.

Eines, das ein einprägsames Vorwort des Verlages
als Anfang hat, habe ich mitgenommen. Das Vorwort
beginnt mit Worten, die ich nicht vorenthalten will:
_______Zitat an_________
"Denken Sie daran,daß sie noch etwas schreiben müssen,
was niemand sonst zu schreiben und dem verwirrten, armen
Volk der Deutschen zu sagen vermöchte!" So hat einmal ein
weltoffener mann dem Autor geschrieben. Und die Zeit scheint
heute reif für ein solches Unterfangen.

_______Zitat aus_________

Ich bin gespannt - die Wahrheit über die realistische Kunst?
Welche Zutaten hat Maggi wirklich in der Flasche? Oder etwa
warum sich der Wankelmotor nicht durchsetzen konnte? Ich er-
gänze hierbei: ich sehe beim Anlesen des Vorwortes die Jahres-
zahl 1960 auf der linken Seite.
Mitten in diese Wirtschaftswunderaufschwungzeit kommt also das
Buch, das schon im Vorwort menetekelnde Sätze enthält, die gleich
glanzfrei trocknendem Klebstoff die zackigen Bruchstellen in der
Geschichte der erhofften Leser verschwinden lassen sollen und aus
den Trümmern wieder ein Ganzes, ein Großes, ein Reiches erstehen
lassen sollen.
Dort wird die Aufzählung der geschichtlichen Stationen nach 1918
von dem Satz gekrönt: Ist es erlaubt sie zu vergessen, als ob sie
niemals mehr wiederkehren könnten?

Hoppla, da ist in den 1960er Jahren sicher so manches Tortenstück ge-
kippt, wenn man solche Worte lesen mußte, wo man sich doch gerade erst
richtig vom Reich und Krieg erholt hatte und die Sause gerade erst an-
fing. Und dank der Existenz der DDR war die westnationale Reputation
gesichert und das jetzt Alles in Frage stellen für nochmal 12 Jahre
Kostümball mit viel Blut und am Schluß keinen Boden mehr?? "Nein", sagten
die Menschen, und: "Nein, nein, nein. Schauen Sie meinen Bauch an, glauben
Sie damit passe ich einen Panzer? Hat die neue Wehrmacht jetzt auch Staub-
sauger??" Solcherart könnten die vorstellbaren Frustrationen des Autors ge-
wesen sein, falls er eine Lesereise für dieses Buch unternommen hatte.

Es ist demagogisch von mir hier alleine auf dem Vorwort herumzureiten,
aber ich kann nicht anders, denn das Buch werde ich nicht lesen¹ - es
stinkt. Es wird an die ganzen Täter und Mitläufer appelliert, nicht zu
vergessen, daß sie das Unheil heraufbeschworen haben, daß sie gescheitert
sind, daß sie gemacht haben, daß gemacht werden konnte, was gemacht wurde.
Ebenso wird das Nicht-Vergessen gefordert:
Das sind wir nicht nur den Späteren schuldig, sondern auch jenen Millionen,
die - begeistert oder pflichtgetreu, gezwungen oder im offenen Widerstand -
ihr Leben gelassen haben.

Das ist Alles ein einziges Geklittere, der einzige Grund warum ich es hier zitiere,
ist der, daß daraus für die, die sich interessieren nochmal ganz deutlich eine
Zeit und ihr Geist heraufbeschworen wird, eine Erklärung warum es Prozesse,
die es hätte geben müssen, nicht gab oder erst sehr viel später. Ein Sprung
zurück ins Vorwort, vor das hier vorausgehende Zitat, sagt:
Noch einmal muß in einer 'Sicht von innen her' die Konfrontierung mit jenen
Kräften stattfinden, die Werkzeug und Handlanger dunkler Mächte gewesen sind,
und mit jenen, die zu schwach waren, das Unheil aufzuhalten.
(Hier schließt
sich das vorhergehende Zitat an.) Ihr Opfer kann nur dann nicht vergeblich gewesen
sein, wenn es den Gegenwärtigen
bla bla.. weiter leist es sich wie ein Standard-
spruch, der an gut sichtbarer Stelle auf den Umschlag der damals beliebten Landser-
Heftchen hätte gedruckt worden sein können.

Jedenfalls hat er vor 1945 ein anderes Thema verfolgt, das klang dann so:
"Wenn sich die Juden über ihr Schicksal vor der ganzen Welt beklagen, dann
müssen wir ihnen doch sagen, dass sie selbst es waren, die dieses Schicksal
heraufbeschworen haben."

Kein kurzzeitig verwirrt Verblendeter, aber Täter, einer der als Mann von Geist
und der Feder sicher nicht die Geschmacklosigkeit beging, Leute auf offener Stras-
se zu prügeln, aber dafür Sachen wie Tornisterschrift (mind. eine), den Nationalen
Buchpreis 193* und auch nach dem Krieg munter weiter.

Den Namen und den Buchtitel erwähne ich hier nicht,
die Roboter spülen sonst evtl. Mengen von Müll hier an.

Es ist grausam - aus der Sicht des Buches - erst geglaubt: die Rettung,
oder Befreiung vom Joch der Ungelesenheit, dann aber nur kurzes Herum-
gefummel und der Satz: 'So ein Scheiß, das verbrenn' ich.'
Es gibt Bücher, die taugen zu nichts Anderem, als die darin gespeicherte
Energie in Form von Wärme wieder frei zu setzen. Und das gehört ganz
sicher dazu..

_____________________
¹) Ich habe da und dort ein paar Seiten am Stück gelesen.

*sssscrrreeeeaaaaach!!!*
zuletzt bearbeitet 14.02.2008 20:00 | nach oben springen

#2

Das Findelbuch 02

in Die Zeiten sind, waren, werden sein: so und so 24.08.2008 18:00
von headprint • 135 Beiträge

Weniger schlimm als das erst aber auch nicht das, was
ich mir dachte, ich finde immer nur Bücher, die mich
an-ab-nerven oder äußerst rätselhaft sind.

Also ich sehe - zum Mitnehmen, ausgemustert oder gar nicht
erst eingearbeitet - ein Buch, dessen mit den folgenden
Lettern prangt und protzt:
Pavel Kohout
Mein
Lesebuch


Klasse denke ich, greife es im Vorbeigehen und bin unterwegs,
um die verdammte Bahn noch zu bekommen, damit ich den verdammten
Bus noch bekomme, damit ich nicht mit einem Buch was-weiß-ich-wie
-lange rumhocken muß, bis ich zu Hause ankomme.
Nun, die krise kommt in der erwischten Bahn, denn ich klappe das
kleine Bändchen auf und sehe ein nhaltsverzeichnis mit allerlei
Autoren und - das ist gleich offenbar - Auszügen aus ihren Werken.
Dummerweise fällt mein Blick sofort auf Jan Hus und Johann Amos
Comenius - das reicht dann schon.
Hätte mich Jemand gefragt, was ich denn in der Bahn so gelesen habe,
ich hätte wahrheitlich geantwortet: "Jan Hus und Johann Amos Comenius,
das hat dann gelangt
." Hätte der dann, mit einem Munde, dessen Lippen zu
einer, einem Pudelarschloch ähnlichen, Skulptur aufgeworfen gewesen wären,
begonnen über die prätentiöse Schreibe und feine Thematik bei Hus und den
jetztzeitangepassten Conducti der Comenius'schen Sentenzen zu dozieren, ich
hätte wohl wahr gesprochen: "Die Namen, es waren nur die Namen - das muß
reichen, weit reicht es tatsächlich, zu weit geht was Ihr hier mir fabricieret
."

Hätte ich etwas weiter geguckt, ich hätte gesehen, daß sich darin auch einige
Zeilen Hasek und Hrabal befanden. Und das tuen sie noch heute.

Aber bin ich selbst nun töricht und naiv, weil ich mir dachte, da Kohout drauf ge-
druckt ist, ist Kohout auch drinnen? Oder ist das tatsächlich mißverständlich und
abgründig irreführend (zumal auch ein paar Sätze Kafkas darinnen stehen)??


*sssscrrreeeeaaaaach!!!*
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#3

RE: Das Findelbuch 02

in Die Zeiten sind, waren, werden sein: so und so 03.01.2009 09:45
von Lennie • 829 Beiträge

Zitat von headprint

Hätte der dann, mit einem Munde, dessen Lippen zu
einer, einem Pudelarschloch ähnlichen, Skulptur aufgeworfen gewesen wären,
begonnen über die prätentiöse Schreibe und feine Thematik bei Hus und den
jetztzeitangepassten Conducti der Comenius'schen Sentenzen zu dozieren...


Das Forum steckt voller Kostbarkeiten.
Diesen Satz beispielsweise, den sollte man einrahmen !

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#4

RE: Das Findelbuch 02

in Die Zeiten sind, waren, werden sein: so und so 03.01.2009 20:46
von Zypresserich (gelöscht)
avatar

Ja, schöner Schachtelsatz; stünd's bei Pynchon (o. ä.), tät man's genauso wertschätzen.
Hach, all diese Talente ...

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