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von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Marquis de Sade
in Die schöne Welt der Bücher 01.10.2008 18:00von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Marquis de Sade
Ausgewählte Werke
Ja, das wird ein großer Ordner, denn im Studium des "Wahnsinns" durchläuft man viele Schatten und Muster dieser Erscheinung. Eine Fülle an Material und Begegnungen ergießt sich in Worte, und zurück bleibt der Leser, der sich darauf einlässt.
Nun gut, wie wendet man sich einem Werk zu, das so umstritten, das zwischen Gefängnismauern und Schreien entstanden ist. Man sieht de Sade als Monstrum seiner selbst, als Pornograph und Wüstling. Viele wagten sich bereits an seine Zeilen und etliche Schriften existieren über ihn, u. a. auch die von Simone de Beauvoir mit dem bezeichnenden Titel: „Soll man de Sade verbrennen“. Ihre Betrachtung dieses Mannes und im Wesentlichen seines Werkes ist sehr interessant. In sartrescher Gewissheit zeigt sie auf, dass der Marquis sich seine Existenz frei gewählt hat, dass er seine Skandale provozierte. Sie fordert dazu auf, de Sade als einen Schriftsteller zu sehen, was auch hier Hauptbetrachtung werden wird. Seine Schriften umfassen 10000 Seiten von kleinem Format. Darin enthalten sind Romane, Geschichten, Reden, Traktate, Theaterstücke, Fragmente und Briefe, welche durchgekürzt nun in der Fassung „Ausgewählte Werke“ vor mir liegen. Sie gehören einem Grenzbereich von Sexualwissenschaft, Philosophie und Literatur an. Die besten von ihnen verblüffen durch hellsichtige Analysen des Bösen und der Sexualität, andere sind fast unlesbar, nicht zumutbar, und nicht nur aufgrund ihres Inhaltes, sondern auch durch die Art des Schreibens, ein langweiliger und ewig gezogener Wiederholungsstrang immer gleicher Begebenheiten, bei denen er dann auch noch statt zu beschreiben, lieber erklärt, statt Spannung zu erzeugen, alles durchschaubar macht. Ein Talent zum Romanschreiben besaß er nicht gerade.
Sein Werdegang ist schnell erzählt. Er kam am 02. Juni 1740 in Charenton-Saint-Maurice bei Paris zur Welt. Der Name de Sade (oder Sados) ist ursprünglich italienisch, und welches Wort sich später bis in unsere Zeit davon ableitet, ist bekannt. Der Familienstamm zeigt angesehene, doch eher mittelmäßig begabte Menschen auf. Ein Onkel, der eine Petrarca-Biografie schrieb, hatte möglicherweise einen größeren Einfluss auf de Sade, weil dieser als kleiner Junge oft auf dessen Schloss zu Gast war. Wie später auch de Sade ist der Onkel ein Mensch, der sich gerne den damalig angesagten Ausschweifungen hingab und aufgrund einer ausgearteten sogar verhaftet wurde. Beauvoir führt in ihrer Schrift an, dass die Orgien der damaligen Zeit ebenso blutig wie berühmt gewesen sein sollen. Auch der Marquis wurde immer häufiger von verschiedenen Mädchen angeklagt, woraufhin man auf ihn aufmerksam wurde und wo er einer Verhaftung nur durch gut verfasste Reuebriefe entkommt. Zwischenzeitlich heiratet er Renée Pélagie de Montreuil und damit in eine vermögende Familie ein, wodurch seine Aktivitäten allerdings nicht gebremst werden. Der neu erworbene Reichtum ermöglicht ihm erst ein ausschweifendes Leben. Am Ostersonntag im Jahr 1768 erwacht im Marquis dann der Wunsch zum Bösen, er fesselt eine 36jährige Frau (Ruth Keller) auf ein Bett und schlägt sie mit Rute und Klopfpeitsche. Er droht ihr, falls sie nicht gefügig sein wolle, „sie eigenhändig im Garten zu verscharren“. Er will ihr die Beichte abnehmen, und desto mehr sie um Hilfe schreit und weint, desto nervöser und schneller werden seine Bewegungen, desto größer die Erregung, die sich schließlich in einem Schrei entlädt und ihn zwingt das Zimmer zu verlassen. Diese Gelegenheit benutzt die Frau, um durch das Fenster zu entfliehen.
Nach dieser Affäre gibt es keinen Reuebrief. Der Marquis verbüßt seine Strafe im Gefängnis von Pierre-Encise in der Nähe von Lyon, aus dem ihn seine ihm noch wohlgesonnene Schwiegermutter wieder herausholt. Doch der wirkliche Skandal, der ihn dann die Verurteilung zum Tode einbringt, geschieht aufgrund der Anklage einer Dirne, die der Marquis zusammen mit seinem Diener schlägt und mit Kantharidenbonbons füttert. Als sich die erste Dirne weigert, wird eine zweite hinzugeholt und der Marquis vergnügt sich mit ihr wie auch mit seinem Diener. Weil hier eine ganze „Phalanx von Perversionen“ einbricht, sowie vergiftete Bonbons dabei waren, wird Anklage erhoben, und da de Sade auch noch seine Schwägerin entführt und damit entehrt, verliert er die Zuneigung und Hilfe seiner einflussreichen Schwiegermutter. Der Marquis und sein Diener werden zum Scheiterhaufen verurteilt und am 12. September 1772 in effigie verbrannt. Der Marquis entkommt zuerst, bis er in Turin schließlich doch arretiert wird. Seine Frau verhilft ihm zur Flucht, bis dann die „Affäre der Mädchen von Lyon“ eintritt, von der man nicht weiß, was genau geschehen ist. Es erfolgen noch einige Skandale, unter anderem wird auf den Marquis geschossen, weil ein Vater seine Tochter zurückfordert, bis de Sade dann schließlich endgültig weggesperrt wird. Hier beginnt die Phase des Schriftstellers.
Die Bezeichnung „Libertin“ gab es zwar schon 50 Jahre vor de Sade, in der französischen Geschichte wurde Philipp de Orleans Sinnbild dafür, aber der Marquis machte daraus etwas Allgemeingültiges, erhob dieses Verhalten, das oft unter Adligen zutage trat, zum Akt seiner Geschichten, verfeinerte diesen Typ zum Charakter seiner Figuren, entblößte in dieser Form die Bestie Mensch.
Der Libertin ist jemand, der einen ausschweifenden Lebenswandel führt und sich an moralische und insbesondere an die traditionellen sexuellen Normen nicht gebunden fühlt, heißt es bei Wikipedia. De Sades Libertins frönen dieser Art zu Leben in abartigen Ausschweifungen, die in Quälereien und Mord die größten Gelüste empfinden. Am häufigsten finden sich diese Menschen unter Geistlichen.
In der Gesamtausgabe der „Ausgewählten Werke“ wird nach und nach die Entwicklung des Marquis de Sade in seinen Geschichten abgeschritten. Zunächst treffen wir auf ein Gespräch zwischen einem Priester und einem Sterbenden, wobei letzterer schließlich den Priester bekehrt, statt umgekehrt. De Sade zeigt sich hier als überzeugter Gotteszweifler, der auch wagt, diesen Unglauben laut auszusprechen.
Und:
Natürlich versucht der Priester seinen Glauben noch zu retten:
Dann kommt der Sterbende auch zum "freien Willen", den er verwirft:
Letztendlich bewirkt das Gespräch, dass der Sterbende dem Priester seinen Irrtum verdeutlicht hat und dieser einem ausschweifenden und lasterhaften Leben verfällt.
Bei diesem kurzen Stück deutet de Sade schon an, worauf er in all seinen Schriften hinaus will.
DIE 120 TAGE VON SODOM
Der Marquis de Sade interessiert mich nicht, versichere ich Ihnen, aber weiß Gott nicht um der Tugend willen.
(Gauguin in „Vorher und Nachher“)
Der Beginn der 120 Tage ist anfangs noch einigermaßen leicht zu verkraften, weil sich hier Phantasien erst einmal langsam aneinanderreihen und entfalten, im Laufe der Zeilen wird es dann aber fast unlesbar, besonders in den Folterszenen. Knapp zusammengefasst: Nachdem vier wohlhabende Herren, hinter deren Ansehen sich massig Dreck und Mord versteckt (die übersättigt das „Andere“ suchen und durchaus auch nicht davor zurückschrecken, ihre eigenen Kinder zu missbrauchen) nun ihre Töchter untereinander ausgetauscht und verheiratet haben, mit der Bedingung, weiter ein Anrecht auf die eigene Tochter zu haben, suchen sie nach einer gemeinsamen Herausforderung. So beginnt dieses perverse Gebilde in Schrift und Wort. Die vier Herren beschließen, sich auf ein abgelegenes Schloss zurückzuziehen, um dort einer abartigen Orgie zu frönen, für die mehrere geeignete Menschen und Kinder mitgenommen werden. Über die blasphemisch harmlosen Szenen, den Entjungferungen, der Sodomie (was hier noch in alter Bedeutung gemeint ist), den Geschichten und darin vorkommenden Zwängen der Mütter und Väter ihre Kinder zu verkaufen oder zu mißbrauchen, um diese zu retten, den wahren Begebenheiten in so manchen Klöstern und anderen nicht näher zu benennenden Dingen, gerät alles außer Kontrolle bis hin zu Sex mit Tieren, durch Tiere, Zähne ziehen, Arme brechen, Augen zerstechen, Gedärme bloßlegen, bis hin zu den Gelüsten an Mord und Quälereien (eine der heftigsten Szenen ist das Einführen eine Ratte in die Frau, während ihr das Geschlecht zugenährt wird und sich das Tier durch ihre Eingeweide nagt). Beim Lesen all dieser Dinge fragt sich der Leser immer häufiger:
Was muss dieser Mann zwischen seinen Gefängnismauern sitzend da ausgelebt haben? Wie viel Hass kreiste ihm im Kopf, und war es überhaupt Hass?
Vielleicht war es der Versuch, die Zeit zu dehnen und sich auf etwas einzulassen, das er nicht mehr kontrollieren konnte? Zu sehen, wie weit er selbst gehen konnte und würde? Jede Szene um ein Stück weiter auszuweiten, grausamer zu machen? Wenn er sogar die Zeilen durchzählte und chiffrierte, wenn ein Mensch sitzt und nur ein Blatt Papier, einen Stift und seinen Kopf zur Verfügung hat, dann kann er die Leere, in der er sich befindet und die er füllen muss, in die Ewigkeit ausreizen. (Wie schnell mag da die normale sexuelle Vorstellung langweilen, gerade, wenn sie doch nicht auslebbar ist? Besonders von einem Mann, der zuvor schon Spaß an der "Macht des Bösen" fand?) Beauvoir sagte in ihrer Schrift so schön, dass die anatomischen Möglichkeiten des menschlichen Körpers schnell erschöpft sind. Das ins Besondere wird deutlich, obwohl sich de Sade wirklich Mühe gibt. Er rattert hier eine Szene nach der anderen herunter, als würde er einen Einkaufszettel schreiben, alles wirkt, gerade durch diese Art der Aufzählung, als wolle er eine Folterszene um die nächste verschlimmern.
Marquis de Sade öffnet neue Pforten und Einblicke in diese kranke, abartige Welt. Der Leser muss sich hier nach und nach seinem Ekel stellen, als wolle der Marquis den Leser erproben, wann er das Buch nun endgültig zuschlägt oder in wie weit der Leser etwas über sich selbst herausfinden muss. Wie weit geht ein Mensch, wie weit aber ein Schriftsteller? De Sade sagt, er wolle nicht Mord, sondern die Vorstellung von Mord erleben, er sieht die Gelüste als natürlich, während Gott und menschliche Moral das innere Schlummern nur unterdrücken. Das Verbrechen ist Natur gewollt und die Grausamkeit darin und die darauf folgende Bestrafung unterscheidet sich in keinster Weise. Reue macht nichts besser oder ungeschehen, sagt er, womit er in dieser Beziehung wohl recht hat. Die Heuchler, die im Namen Gottes sprechen, will er mit seinem „kranken Geist“ verführen, will sie in die Scham treiben, in die Welt des Hasses und der Gewalt. Vielleicht möchte er Gott hinwegwaschen, indem er die Welt umkehrt und ihre hässlichen zerfressenen Löcher aufzeigt? Vielleicht ist diese Form des Grauens seine Art zu zeigen, dass sich die Welt nicht im Abbild Gottes zeigt, der Mensch sich hier nicht in seiner Moral und seinen Sitten sonnen kann, solange diese Möglichkeiten bestehen?
Dass er die Übertreibung wagt, dass seine Abartigkeiten bis in das Grab führen, ist im Hinblick auf das Mögliche nur eine Form des Schreibens, ein Versuch, die Dinge detaillierter zu machen, grausamer und erschreckender. Wie weit kann der Schriftsteller hier gehen? Und in wie weit sollte er sich auf diese inneren Verzweigungen an „Möglichkeiten“ einlassen? De Sade hatte nicht viel zu verlieren. Er saß im Gefängnis, später in der Irrenanstalt, die, wie man durch Foucault so schön erfahren hat, keinen Unterschied zu den Zellen davor bot. Hier wurde der Wahnsinn herausgefordert, und de Sade hat sich bereitwillig fallengelassen.
Dieses Fallenlassen, in welche Abgründe auch immer, ist in der Bewegungslosigkeit solch eines Umfeldes durchaus möglich. Im Gleichklang der Tage, mit dem Schrecken der Strafe, mit der Suche nach dem Sinn, der Wut auf die Bestrafenden wird daraus dann ein Höllenspaziergang anderer Art, ein schwarzgalliges Ausspucken auf die Welt, den Gefängnisfußboden, die Köpfe der Menschen. Da schleudert sich der heuchlerische dreckige Samen so mancher Heiligenfigur in den schwarz zusammen gekniffenen After der Menschen, verfinstern sich Schreckensbilder durch das Verführen und Schänden von Kindern, die Sinnbild der Unschuld sind, geboren dazu, um an der Welt, am Menschsein zu verderben. Da stapeln sich Opfer über Opfer, um aus der Not heraus das Opfer ihrer selbst auf sich zu nehmen, de Sade geht es nicht um Moral und Stolz, für ihn scheint jeder käuflich, weil er ahnt, dass Hunger den Menschen über seine eigenen Grenzen schreiten lassen kann. Rot schlackern dem Leser die Ohren bei so viel Verderbnis, weil er diese für ihn und sicherlich auch für de Sade selbst aufgerichtete Welt kaum verkraften kann. Bei jeder Beschreibung schießen die Bilder in den Kopf und lassen den Leser würgen und sich in seinem eigenen Ekel winden. Das, sicherlich, war auch die Absicht des Marquis. Windet euch in euren eigenen Ängsten, Fäkalien, geheimsten „Möglichkeiten“. Er zeigt, was man sich nicht wagt vorzustellen, was man zuvor nicht kannte und kennen wollte, wo man, bei einer möglichen Begegnung in irgendeiner Art und Weise, schnell die Augen verschloss und den Gedanken rechtzeitig abgebremst hat. Verbrechen und Abartigkeiten – sie lauern in den Medien, in Geschichtsbüchern, umgeben uns wie ein verdreckter, filziger Mantel, den wir nur mit Mühe ablegen oder gar von uns werfen können. Macht man sich die Zeit bewusst, in der de Sade hier in seinem eigenen Kot vegetiert, seine Zeit nach seinem Gutdünken ins Auge fasst, dann erschaudert man in der Vorstellung, wie weit sich auch hier die Dinge entwickelt haben können. Der Mensch als Monstrum, gefräßig und voller gieriger Wunschvorstellungen. In sich erkrankt, nicht einmal verzweifelt, nur so verdammt satt und gelangweilt… Fetische stehen über der Lust, Sado über Maso gebeugt, Messen und Rituale, Verderbnis und Verdummung, kein Wunder, dass niemand mehr an die Liebe glaubt. Sie erscheint zwischen der düsteren Verwahrlosung, zwischen speckigen Steinwänden des eigenen Kerkers, wie ein Hohn, wie eine verromantisierte Erscheinung, die es gilt, mit allen schmutzigen Mitteln zu bekämpfen, um der Einsamkeit so lange es geht zu entfliehen, die einen immer wieder einholt.
Was an den „120 Tagen von Sodom“ deutlich wird, ist der langsame und genüssliche Aufbau der Geschichte, das Planen aller Details jeweils von de Sade als Schreibenden wie auch von seinen vier lasterhaften Figuren. Das Gewählte, das Aussuchen der Menschen, die missbraucht, gequält und schließlich getötet werden sollen, der Entwurf aller Räume, die Sitz- und Liegemöglichkeiten, der Luxus in Kissen oder das Trostlose eines Kellers. Hier reibt sich der Sadist freudig die Hände. Alles wird entworfen und gestaltet, um darin dann das Fest der Begierden und Verbrechen zu feiern, die Barriere zwischen dem Bösen und dem Guten zu durchbrechen und alles, was sich in diese beiden Kategorien zerteilt, entgültig zu verwischen.
De Sade zeigt gleichzeitig die Abartigkeiten wie auch die Irrtümer der Menschen, die Gottlosigkeit und die übersteigerte Gottgläubigkeit, die nur allzu oft erduldet wird und auf ein besseres Leben danach hofft. Und dafür bleibt ihm nur ein Handwerk, sein geschriebenes Wort, denn diese Einstellung des Menschen möchte er zertrümmern, ausmerzen, vernichten.
Was mir stark bewusst wird: während des Lesens sieht man durch die Geschichten hindurch immer den Schriftsteller vor Augen, der in seiner Zelle über die eigenen Zeilen gebeugt ist, und man will wissen, was er als nächstes ausbrütet, sei es einen Wutschrei auf Gott oder die nächste sexuell pervertierte Absonderlichkeit, sei es sein Blick in die Welt oder auf den Menschen.
Was wiederum verwundert, ist die Unterschiedlichkeit seiner Schriften. Während er in „120 Tage von Sodom“ ins völlig Abartige verfällt, wagt er in manch einer Kurzgeschichte nicht einmal das Wort Hure auszuschreiben oder den Akt in Worte zu fassen. Hier wird deutlich, dass der Marquis von Phasen mitgerissen wurde, die ihn einmal hinwegtreiben ließen und zum anderen sich seiner selbst schämend zurückließen. Er wollte eventuell wieder-gut-schreiben, was ihn zuvor übermannt hatte, schrieb dann langweilige, fast schon biedere Geschichtchen über Eifersucht und Geister, bis ihn dann wieder die Wut (die andere Seite der Scham) befiel und er sich erneut an die Grausamkeit machte, verlegen aufgrund seiner inneren Befangenheit. Der Schrei gegen die Welt erklingt also nicht permanent aus seinem Gesamtwerk, manchmal musste selbst ein de Sade müde gewesen sein, ständig all diesen eigenen Grausamkeiten zu begegnen.
Zur nächsten, größeren Erzählung. Der Entwurf zu seiner Justine scheint ein langwieriges Unterfangen gewesen zu sein. Unzählige Versuche, ewige Strukturen, Menschen, Situationen. De Sade hat sich hier lange auf diese Zerstörung der Tugend eingelassen.
Alles beginnt im „Missgeschick der Tugend“:
Hier vertritt er die Ansicht, dass sich das Verbrechen hinter Anstand und Wohlstand verbirgt, dass die vergoldeten, reichen Herrschaften mehr Dreck am Stecken haben, als der schlimmste und hungernde Dieb auf der Strasse und dass ihnen, desto mehr Böses sie tun, nur Glück und Belohnung winkt. Nicht nur, dass seine Kleriker alle falsch und sexbegierig sind, oftmals abartig veranlagt oder fixiert auf kleine Kinder, so ist der Aufstieg einer reichen Dame immer mit dem Blut und dem Leid verbunden, dem Verkauf der Seele und des Körpers. Andererseits aber ist in seinen Augen der Mensch, der schlecht, aber zufrieden ist, immernoch besser dran, als derjenige, der sich hinter seinen Tugenden versteckt, mit Reue und seinen Zweifeln kämpft, und fast immer geschieht diesen Menschen mehr Unglück, als denjenigen, die mit ihren Verbrechen ungestraft davon kommen. Das zeigt de Sade im Abbild seiner Justine, eine von zwei Schwestern, die unverhofft Waisen werden, während Justine die anständige ist, die sich nicht in die Prostitution begeben will und den „ehrlichen Weg“ wagt, während ihre Schwester Juliette es durch das gewählte, jedoch käufliche Leben zu Reichtum und Ansehen bringt.
Desto ärmer ein Mensch (aufgrund seiner rechtschaffenen Seele) ist, desto schlechter wird er behandelt. Die Menschen geben nur, so de Sade, wenn sie sich etwas davon erhoffen. Dieses Verhalten des Menschen dringt durch all seine Geschichten. Niemand gibt etwas umsonst, hinter jedem hübschen, arglosen Gesicht lauert das Monstrum „Mensch“.
Zum Beispiel trifft Justine auf einen Mann, der ihr schnell klarmacht, was die Welt von der Tugend hält:
Man halte sich hier vor Augen, dass Justine gerade einmal 14 Jahre alt ist.
Und genauer:
Damit ist gesagt, dass der in Armut lebende und unglückliche Mensch unweigerlich untergehen muss, was der Herr damit begründet, dass es sowieso zu viele Untertanen gibt.
(Ähnliche Ansätze fand man auch in Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“.)
Das Unglück der Justine ist gemacht, als sie fälschlicherweise als Diebin bezeichnet wird.
Hier zeigt sich der Groll des Marquis gegen die Sitten des Staates und der Gesellschaft.
Seine Auffassung ist verständlich, wo er sich in seinen Gefängnismauern befindet, die Anklage seiner Figuren ist weitaus tragischer, als die eigene, um zu verdeutlichen, wohin die scheinheilige Gerechtigkeit führt. Für de Sade gibt es kein kleines oder großes Verbrechen, alle Verbrechen sind gleich bedeutend und liegen in der Natur des Menschen.
Was an Justine deutlich wird, ist das Hervorkehren ihrer Unschuld, die sich inmitten der sie umgebenden Grausamkeiten und „schlechten Menschen“ langsam verliert. Hier zeigt sich ein psychologisch hellsichtiges Gespür des Marquis, denn Justine wird vom Bösen angezogen, ohne es zu merken. Desto besser und gottgläubiger sie ist, desto mehr ist sie unbewusst fasziniert von den „Ausgeburten der Hölle“. Sie liebt denjenigen, der den Glauben ablehnt und sadistische Neigungen hat, möchte ihn von seinem fatalen Weg abbringen. Indirekt zeigt de Sade die Frau als Opfer ihrer Triebe, die sie mit ihrer Unschuld und Tugend überdecken will und die naturgegeben trotzdem durchbrechen. Immerhin verliebt sie sich in einen Menschen, den sie mit einem anderen Mann beobachtet hat und der sie bei ihrem Kennenlernen töten will. Die Tugendhaftigkeit als Masochismus.
Der Mord und das Sterben wird bei de Sade aus dem Munde des Wüstlings erschreckend physikalisch erklärt:
Und:
Dagegen kennt er sich biologisch kaum aus, denn er behauptet, da es sich bei dieser Szene um den Mord an der Mutter handelt, der er zu nichts verpflichtet ist oder dankbar sein müsste, weil sie sich ihrer Lust hingegeben hat, dass das Kind einzig aus dem Blut des Vaters entsteht.
Der Mann überträgt die Gene. Immerhin räumt er der Mutter aber ein, dass ihre Fürsorge zu einer gewissen Dankbarkeit führen und ihre Gütigkeit Liebe verspüren lassen kann.
Gedankliche Zwischennuancen:
Bei den Beschreibungen der Menschen fällt auf, dass de Sades Frauen immer von außergewöhnlicher Schönheit und Reinheit sind, während die Männer schmutzig und abstoßend bleiben, um den Kontrast zu erhöhen. Lediglich aus Effektgründen gesellt sich unter die gleich einem Gemälde entsprungenen Frauen manchmal etwas Hässliches, Altes und Verlottertes. Das ist der Reiz der Hässlichkeit, erklärt de Sade, diese ist hauptsächlich in den 120 Tagen umrissen.
De Sade verkündet:
Wie schon erwähnt ist ein weiterer Kontrast, den de Sade absichtlich setzt, die Art Mensch, die er für die schlimmsten Begebenheiten einsetzt. Die Unschuld im Kind und die Jungfräulichkeit der Frauen auf der einen Seite und die Abartigkeit im Wesen der Geistlichen und Ärzte, Menschen also, denen man eigentlich vertraut und von denen man Hilfe erwarten und erhoffen kann, auf der anderen. All das sind Übertreibungen, um die Grausamkeit um ein weiteres zu vergrößern.
De Sade, wenn man sich mit seinem mächtigen Werk befasst, ergeht sich in unzähligen Wiederholungen. Die Themen scheinen immer ähnlich, um dasselbe zu kreisen, um die Abartigkeit der menschlichen Seele, um den Verrat und die daraus notwendig werdende Vernichtung der Tugenden. All das reiht sich aber zu einem guten Einblick in die menschliche Psyche zusammen, insbesondere in seine eigene, warum das Interesse an diesem Mann wohl auch für lange Zeit bestehen bleibt. Es gibt etliche Bücher, in denen auf de Sade verwiesen wird, Flaubert, zum Beispiel, war völlig fasziniert von ihm, Baudelaire fühlte sich durch ihn inspiriert, und während die Brüder de Goncourt ihn völlig ablehnen, erwähnen sie ihn erstaunlich oft, wenn sie unter anderem auf Tod und Krankheit treffen. Auch ich werde versuchen zu ergründen, was der Marquis de Sade für eine Rolle in der Literatur spielt und in wie weit sein Einfluss sich weiterhin durch die Welt frisst.
Bald also mehr dazu.
Ausgewählte Werke
Ja, das wird ein großer Ordner, denn im Studium des "Wahnsinns" durchläuft man viele Schatten und Muster dieser Erscheinung. Eine Fülle an Material und Begegnungen ergießt sich in Worte, und zurück bleibt der Leser, der sich darauf einlässt.
Nun gut, wie wendet man sich einem Werk zu, das so umstritten, das zwischen Gefängnismauern und Schreien entstanden ist. Man sieht de Sade als Monstrum seiner selbst, als Pornograph und Wüstling. Viele wagten sich bereits an seine Zeilen und etliche Schriften existieren über ihn, u. a. auch die von Simone de Beauvoir mit dem bezeichnenden Titel: „Soll man de Sade verbrennen“. Ihre Betrachtung dieses Mannes und im Wesentlichen seines Werkes ist sehr interessant. In sartrescher Gewissheit zeigt sie auf, dass der Marquis sich seine Existenz frei gewählt hat, dass er seine Skandale provozierte. Sie fordert dazu auf, de Sade als einen Schriftsteller zu sehen, was auch hier Hauptbetrachtung werden wird. Seine Schriften umfassen 10000 Seiten von kleinem Format. Darin enthalten sind Romane, Geschichten, Reden, Traktate, Theaterstücke, Fragmente und Briefe, welche durchgekürzt nun in der Fassung „Ausgewählte Werke“ vor mir liegen. Sie gehören einem Grenzbereich von Sexualwissenschaft, Philosophie und Literatur an. Die besten von ihnen verblüffen durch hellsichtige Analysen des Bösen und der Sexualität, andere sind fast unlesbar, nicht zumutbar, und nicht nur aufgrund ihres Inhaltes, sondern auch durch die Art des Schreibens, ein langweiliger und ewig gezogener Wiederholungsstrang immer gleicher Begebenheiten, bei denen er dann auch noch statt zu beschreiben, lieber erklärt, statt Spannung zu erzeugen, alles durchschaubar macht. Ein Talent zum Romanschreiben besaß er nicht gerade.
Sein Werdegang ist schnell erzählt. Er kam am 02. Juni 1740 in Charenton-Saint-Maurice bei Paris zur Welt. Der Name de Sade (oder Sados) ist ursprünglich italienisch, und welches Wort sich später bis in unsere Zeit davon ableitet, ist bekannt. Der Familienstamm zeigt angesehene, doch eher mittelmäßig begabte Menschen auf. Ein Onkel, der eine Petrarca-Biografie schrieb, hatte möglicherweise einen größeren Einfluss auf de Sade, weil dieser als kleiner Junge oft auf dessen Schloss zu Gast war. Wie später auch de Sade ist der Onkel ein Mensch, der sich gerne den damalig angesagten Ausschweifungen hingab und aufgrund einer ausgearteten sogar verhaftet wurde. Beauvoir führt in ihrer Schrift an, dass die Orgien der damaligen Zeit ebenso blutig wie berühmt gewesen sein sollen. Auch der Marquis wurde immer häufiger von verschiedenen Mädchen angeklagt, woraufhin man auf ihn aufmerksam wurde und wo er einer Verhaftung nur durch gut verfasste Reuebriefe entkommt. Zwischenzeitlich heiratet er Renée Pélagie de Montreuil und damit in eine vermögende Familie ein, wodurch seine Aktivitäten allerdings nicht gebremst werden. Der neu erworbene Reichtum ermöglicht ihm erst ein ausschweifendes Leben. Am Ostersonntag im Jahr 1768 erwacht im Marquis dann der Wunsch zum Bösen, er fesselt eine 36jährige Frau (Ruth Keller) auf ein Bett und schlägt sie mit Rute und Klopfpeitsche. Er droht ihr, falls sie nicht gefügig sein wolle, „sie eigenhändig im Garten zu verscharren“. Er will ihr die Beichte abnehmen, und desto mehr sie um Hilfe schreit und weint, desto nervöser und schneller werden seine Bewegungen, desto größer die Erregung, die sich schließlich in einem Schrei entlädt und ihn zwingt das Zimmer zu verlassen. Diese Gelegenheit benutzt die Frau, um durch das Fenster zu entfliehen.
Nach dieser Affäre gibt es keinen Reuebrief. Der Marquis verbüßt seine Strafe im Gefängnis von Pierre-Encise in der Nähe von Lyon, aus dem ihn seine ihm noch wohlgesonnene Schwiegermutter wieder herausholt. Doch der wirkliche Skandal, der ihn dann die Verurteilung zum Tode einbringt, geschieht aufgrund der Anklage einer Dirne, die der Marquis zusammen mit seinem Diener schlägt und mit Kantharidenbonbons füttert. Als sich die erste Dirne weigert, wird eine zweite hinzugeholt und der Marquis vergnügt sich mit ihr wie auch mit seinem Diener. Weil hier eine ganze „Phalanx von Perversionen“ einbricht, sowie vergiftete Bonbons dabei waren, wird Anklage erhoben, und da de Sade auch noch seine Schwägerin entführt und damit entehrt, verliert er die Zuneigung und Hilfe seiner einflussreichen Schwiegermutter. Der Marquis und sein Diener werden zum Scheiterhaufen verurteilt und am 12. September 1772 in effigie verbrannt. Der Marquis entkommt zuerst, bis er in Turin schließlich doch arretiert wird. Seine Frau verhilft ihm zur Flucht, bis dann die „Affäre der Mädchen von Lyon“ eintritt, von der man nicht weiß, was genau geschehen ist. Es erfolgen noch einige Skandale, unter anderem wird auf den Marquis geschossen, weil ein Vater seine Tochter zurückfordert, bis de Sade dann schließlich endgültig weggesperrt wird. Hier beginnt die Phase des Schriftstellers.
Die Bezeichnung „Libertin“ gab es zwar schon 50 Jahre vor de Sade, in der französischen Geschichte wurde Philipp de Orleans Sinnbild dafür, aber der Marquis machte daraus etwas Allgemeingültiges, erhob dieses Verhalten, das oft unter Adligen zutage trat, zum Akt seiner Geschichten, verfeinerte diesen Typ zum Charakter seiner Figuren, entblößte in dieser Form die Bestie Mensch.
Der Libertin ist jemand, der einen ausschweifenden Lebenswandel führt und sich an moralische und insbesondere an die traditionellen sexuellen Normen nicht gebunden fühlt, heißt es bei Wikipedia. De Sades Libertins frönen dieser Art zu Leben in abartigen Ausschweifungen, die in Quälereien und Mord die größten Gelüste empfinden. Am häufigsten finden sich diese Menschen unter Geistlichen.
In der Gesamtausgabe der „Ausgewählten Werke“ wird nach und nach die Entwicklung des Marquis de Sade in seinen Geschichten abgeschritten. Zunächst treffen wir auf ein Gespräch zwischen einem Priester und einem Sterbenden, wobei letzterer schließlich den Priester bekehrt, statt umgekehrt. De Sade zeigt sich hier als überzeugter Gotteszweifler, der auch wagt, diesen Unglauben laut auszusprechen.
In Antwort auf:
Priester: Wer kann die unendlichen und großen Absichten, die Gott mit den Menschen hat, durchschauen, und wer kann alles, was wir sehen, begreifen?
Sterbender: Derjenige, der die Dinge vereinfacht, mein Freund, und vor allem derjenige, der die Anzahl der Ursachen nicht verkörpert und damit die Wirkung durcheinander bringt. Wozu brauchst du eine zweite Schwierigkeit, wenn du die erste nicht einmal erklären kannst? (…)
Und:
In Antwort auf:
Priester: (…) Einem Blinden kann man kein Licht bringen.
Sterbender: Mein Freund, du musst zugeben, das sicherlich von zwei Menschen derjenige blinder ist, der sich die Augen selbst verbindet, als jener andere, der sich die Binde von den Augen reißt. Du konstruierst, du erfindest und verwirrst die Dinge, ich dagegen zerstöre dergleichen Gebäude und vereinfache damit die Sache. Du häufst Irrtum auf Irrtum, ich dagegen bekämpfe sie alle. Wer von uns beiden ist der Blinde?
In Antwort auf:
Sterbender: (…) Zwischen dem Verständnis und dem Glauben müssen unmittelbare Beziehungen stehen. Das Verständnis ist der erste Beweggrund des Glaubens; wo sich das Verständnis nicht regt, ist der Glaube tot (…)
Natürlich versucht der Priester seinen Glauben noch zu retten:
In Antwort auf:
Priester: Die Prophezeiungen, die Wunder, die Martyrien, sind das nicht alles Beweise?
Sterbender: Wie soll ich als logische Beweise annehmen, was selbst erst bewiesen werden müsste?
(…) Wenn ich noch hinzufüge, dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass diese Prophezeiungen nur von selbstsüchtigen Geschichtsschreibern überliefert wurde, so bin ich, wie du siehst, mehr als im Recht, zu zweifeln.
(…)
Was die Wunder betrifft, so beeindrucken sie mich keineswegs stärker. Alle Betrüger haben Wunder vollbracht und alle Dummköpfe haben sie geglaubt…
(…) Und wer kennt die Natur so genau, dass er zu behaupten wagte, dieses sei genau der Punkt, an dem ihr Bereich endet, und jenes der, an dem ihr Gesetz übertreten wird?
(…) alle neuen Religionsgründer haben derartige Wunder vollbracht; und was noch bezeichnender ist: Alle haben auch Dummköpfe gefunden, die an sie geglaubt haben.
Dann kommt der Sterbende auch zum "freien Willen", den er verwirft:
In Antwort auf:
Welcher Mensch auf der Welt würde ein Verbrechen begehen – wo er das Schafott aufgerichtet sieht -, wenn er die Freiheit hätte, es nicht zu begehen?
Letztendlich bewirkt das Gespräch, dass der Sterbende dem Priester seinen Irrtum verdeutlicht hat und dieser einem ausschweifenden und lasterhaften Leben verfällt.
Bei diesem kurzen Stück deutet de Sade schon an, worauf er in all seinen Schriften hinaus will.
DIE 120 TAGE VON SODOM
Der Marquis de Sade interessiert mich nicht, versichere ich Ihnen, aber weiß Gott nicht um der Tugend willen.
(Gauguin in „Vorher und Nachher“)
Der Beginn der 120 Tage ist anfangs noch einigermaßen leicht zu verkraften, weil sich hier Phantasien erst einmal langsam aneinanderreihen und entfalten, im Laufe der Zeilen wird es dann aber fast unlesbar, besonders in den Folterszenen. Knapp zusammengefasst: Nachdem vier wohlhabende Herren, hinter deren Ansehen sich massig Dreck und Mord versteckt (die übersättigt das „Andere“ suchen und durchaus auch nicht davor zurückschrecken, ihre eigenen Kinder zu missbrauchen) nun ihre Töchter untereinander ausgetauscht und verheiratet haben, mit der Bedingung, weiter ein Anrecht auf die eigene Tochter zu haben, suchen sie nach einer gemeinsamen Herausforderung. So beginnt dieses perverse Gebilde in Schrift und Wort. Die vier Herren beschließen, sich auf ein abgelegenes Schloss zurückzuziehen, um dort einer abartigen Orgie zu frönen, für die mehrere geeignete Menschen und Kinder mitgenommen werden. Über die blasphemisch harmlosen Szenen, den Entjungferungen, der Sodomie (was hier noch in alter Bedeutung gemeint ist), den Geschichten und darin vorkommenden Zwängen der Mütter und Väter ihre Kinder zu verkaufen oder zu mißbrauchen, um diese zu retten, den wahren Begebenheiten in so manchen Klöstern und anderen nicht näher zu benennenden Dingen, gerät alles außer Kontrolle bis hin zu Sex mit Tieren, durch Tiere, Zähne ziehen, Arme brechen, Augen zerstechen, Gedärme bloßlegen, bis hin zu den Gelüsten an Mord und Quälereien (eine der heftigsten Szenen ist das Einführen eine Ratte in die Frau, während ihr das Geschlecht zugenährt wird und sich das Tier durch ihre Eingeweide nagt). Beim Lesen all dieser Dinge fragt sich der Leser immer häufiger:
Was muss dieser Mann zwischen seinen Gefängnismauern sitzend da ausgelebt haben? Wie viel Hass kreiste ihm im Kopf, und war es überhaupt Hass?
Vielleicht war es der Versuch, die Zeit zu dehnen und sich auf etwas einzulassen, das er nicht mehr kontrollieren konnte? Zu sehen, wie weit er selbst gehen konnte und würde? Jede Szene um ein Stück weiter auszuweiten, grausamer zu machen? Wenn er sogar die Zeilen durchzählte und chiffrierte, wenn ein Mensch sitzt und nur ein Blatt Papier, einen Stift und seinen Kopf zur Verfügung hat, dann kann er die Leere, in der er sich befindet und die er füllen muss, in die Ewigkeit ausreizen. (Wie schnell mag da die normale sexuelle Vorstellung langweilen, gerade, wenn sie doch nicht auslebbar ist? Besonders von einem Mann, der zuvor schon Spaß an der "Macht des Bösen" fand?) Beauvoir sagte in ihrer Schrift so schön, dass die anatomischen Möglichkeiten des menschlichen Körpers schnell erschöpft sind. Das ins Besondere wird deutlich, obwohl sich de Sade wirklich Mühe gibt. Er rattert hier eine Szene nach der anderen herunter, als würde er einen Einkaufszettel schreiben, alles wirkt, gerade durch diese Art der Aufzählung, als wolle er eine Folterszene um die nächste verschlimmern.
Marquis de Sade öffnet neue Pforten und Einblicke in diese kranke, abartige Welt. Der Leser muss sich hier nach und nach seinem Ekel stellen, als wolle der Marquis den Leser erproben, wann er das Buch nun endgültig zuschlägt oder in wie weit der Leser etwas über sich selbst herausfinden muss. Wie weit geht ein Mensch, wie weit aber ein Schriftsteller? De Sade sagt, er wolle nicht Mord, sondern die Vorstellung von Mord erleben, er sieht die Gelüste als natürlich, während Gott und menschliche Moral das innere Schlummern nur unterdrücken. Das Verbrechen ist Natur gewollt und die Grausamkeit darin und die darauf folgende Bestrafung unterscheidet sich in keinster Weise. Reue macht nichts besser oder ungeschehen, sagt er, womit er in dieser Beziehung wohl recht hat. Die Heuchler, die im Namen Gottes sprechen, will er mit seinem „kranken Geist“ verführen, will sie in die Scham treiben, in die Welt des Hasses und der Gewalt. Vielleicht möchte er Gott hinwegwaschen, indem er die Welt umkehrt und ihre hässlichen zerfressenen Löcher aufzeigt? Vielleicht ist diese Form des Grauens seine Art zu zeigen, dass sich die Welt nicht im Abbild Gottes zeigt, der Mensch sich hier nicht in seiner Moral und seinen Sitten sonnen kann, solange diese Möglichkeiten bestehen?
Dass er die Übertreibung wagt, dass seine Abartigkeiten bis in das Grab führen, ist im Hinblick auf das Mögliche nur eine Form des Schreibens, ein Versuch, die Dinge detaillierter zu machen, grausamer und erschreckender. Wie weit kann der Schriftsteller hier gehen? Und in wie weit sollte er sich auf diese inneren Verzweigungen an „Möglichkeiten“ einlassen? De Sade hatte nicht viel zu verlieren. Er saß im Gefängnis, später in der Irrenanstalt, die, wie man durch Foucault so schön erfahren hat, keinen Unterschied zu den Zellen davor bot. Hier wurde der Wahnsinn herausgefordert, und de Sade hat sich bereitwillig fallengelassen.
Dieses Fallenlassen, in welche Abgründe auch immer, ist in der Bewegungslosigkeit solch eines Umfeldes durchaus möglich. Im Gleichklang der Tage, mit dem Schrecken der Strafe, mit der Suche nach dem Sinn, der Wut auf die Bestrafenden wird daraus dann ein Höllenspaziergang anderer Art, ein schwarzgalliges Ausspucken auf die Welt, den Gefängnisfußboden, die Köpfe der Menschen. Da schleudert sich der heuchlerische dreckige Samen so mancher Heiligenfigur in den schwarz zusammen gekniffenen After der Menschen, verfinstern sich Schreckensbilder durch das Verführen und Schänden von Kindern, die Sinnbild der Unschuld sind, geboren dazu, um an der Welt, am Menschsein zu verderben. Da stapeln sich Opfer über Opfer, um aus der Not heraus das Opfer ihrer selbst auf sich zu nehmen, de Sade geht es nicht um Moral und Stolz, für ihn scheint jeder käuflich, weil er ahnt, dass Hunger den Menschen über seine eigenen Grenzen schreiten lassen kann. Rot schlackern dem Leser die Ohren bei so viel Verderbnis, weil er diese für ihn und sicherlich auch für de Sade selbst aufgerichtete Welt kaum verkraften kann. Bei jeder Beschreibung schießen die Bilder in den Kopf und lassen den Leser würgen und sich in seinem eigenen Ekel winden. Das, sicherlich, war auch die Absicht des Marquis. Windet euch in euren eigenen Ängsten, Fäkalien, geheimsten „Möglichkeiten“. Er zeigt, was man sich nicht wagt vorzustellen, was man zuvor nicht kannte und kennen wollte, wo man, bei einer möglichen Begegnung in irgendeiner Art und Weise, schnell die Augen verschloss und den Gedanken rechtzeitig abgebremst hat. Verbrechen und Abartigkeiten – sie lauern in den Medien, in Geschichtsbüchern, umgeben uns wie ein verdreckter, filziger Mantel, den wir nur mit Mühe ablegen oder gar von uns werfen können. Macht man sich die Zeit bewusst, in der de Sade hier in seinem eigenen Kot vegetiert, seine Zeit nach seinem Gutdünken ins Auge fasst, dann erschaudert man in der Vorstellung, wie weit sich auch hier die Dinge entwickelt haben können. Der Mensch als Monstrum, gefräßig und voller gieriger Wunschvorstellungen. In sich erkrankt, nicht einmal verzweifelt, nur so verdammt satt und gelangweilt… Fetische stehen über der Lust, Sado über Maso gebeugt, Messen und Rituale, Verderbnis und Verdummung, kein Wunder, dass niemand mehr an die Liebe glaubt. Sie erscheint zwischen der düsteren Verwahrlosung, zwischen speckigen Steinwänden des eigenen Kerkers, wie ein Hohn, wie eine verromantisierte Erscheinung, die es gilt, mit allen schmutzigen Mitteln zu bekämpfen, um der Einsamkeit so lange es geht zu entfliehen, die einen immer wieder einholt.
Was an den „120 Tagen von Sodom“ deutlich wird, ist der langsame und genüssliche Aufbau der Geschichte, das Planen aller Details jeweils von de Sade als Schreibenden wie auch von seinen vier lasterhaften Figuren. Das Gewählte, das Aussuchen der Menschen, die missbraucht, gequält und schließlich getötet werden sollen, der Entwurf aller Räume, die Sitz- und Liegemöglichkeiten, der Luxus in Kissen oder das Trostlose eines Kellers. Hier reibt sich der Sadist freudig die Hände. Alles wird entworfen und gestaltet, um darin dann das Fest der Begierden und Verbrechen zu feiern, die Barriere zwischen dem Bösen und dem Guten zu durchbrechen und alles, was sich in diese beiden Kategorien zerteilt, entgültig zu verwischen.
De Sade zeigt gleichzeitig die Abartigkeiten wie auch die Irrtümer der Menschen, die Gottlosigkeit und die übersteigerte Gottgläubigkeit, die nur allzu oft erduldet wird und auf ein besseres Leben danach hofft. Und dafür bleibt ihm nur ein Handwerk, sein geschriebenes Wort, denn diese Einstellung des Menschen möchte er zertrümmern, ausmerzen, vernichten.
In Antwort auf:
Wenn man dem Herzog entgegenhielt, dass dennoch bei allen Menschen die Vorstellung von Recht und Unrecht existiere, die doch auch nur eine Frucht der Natur sein könne, da man sie ja gleicherweise bei allen Völkern wiederfände, sogar bei den unzivilisierten, bejahte er dieses nur insofern, als diese Vorstellung immer nur relativ sei, indem der Stärkere immer gerecht finden würde, was der Schwächere als ungerecht ansähe, und dass bei einem Machtwechsel zugleich auch beide Ansichten wechseln würden, woraus er folgerte, dass in Wirklichkeit immer nur das gerecht sei, was Vergnügen bereite, und ungerecht, was Schmerz verursache; dass, wenn er einem Menschen hundert Louisdor entwende, er etwas sehr Gerechtes für sich tue, obwohl der Bestohlene es anders ansehen müsse; dass also diese Vorstellung willkürlich seien und dass man verrückt wäre, wenn man sich an sie gebunden fühlen würde.
Was mir stark bewusst wird: während des Lesens sieht man durch die Geschichten hindurch immer den Schriftsteller vor Augen, der in seiner Zelle über die eigenen Zeilen gebeugt ist, und man will wissen, was er als nächstes ausbrütet, sei es einen Wutschrei auf Gott oder die nächste sexuell pervertierte Absonderlichkeit, sei es sein Blick in die Welt oder auf den Menschen.
Was wiederum verwundert, ist die Unterschiedlichkeit seiner Schriften. Während er in „120 Tage von Sodom“ ins völlig Abartige verfällt, wagt er in manch einer Kurzgeschichte nicht einmal das Wort Hure auszuschreiben oder den Akt in Worte zu fassen. Hier wird deutlich, dass der Marquis von Phasen mitgerissen wurde, die ihn einmal hinwegtreiben ließen und zum anderen sich seiner selbst schämend zurückließen. Er wollte eventuell wieder-gut-schreiben, was ihn zuvor übermannt hatte, schrieb dann langweilige, fast schon biedere Geschichtchen über Eifersucht und Geister, bis ihn dann wieder die Wut (die andere Seite der Scham) befiel und er sich erneut an die Grausamkeit machte, verlegen aufgrund seiner inneren Befangenheit. Der Schrei gegen die Welt erklingt also nicht permanent aus seinem Gesamtwerk, manchmal musste selbst ein de Sade müde gewesen sein, ständig all diesen eigenen Grausamkeiten zu begegnen.
Zur nächsten, größeren Erzählung. Der Entwurf zu seiner Justine scheint ein langwieriges Unterfangen gewesen zu sein. Unzählige Versuche, ewige Strukturen, Menschen, Situationen. De Sade hat sich hier lange auf diese Zerstörung der Tugend eingelassen.
Alles beginnt im „Missgeschick der Tugend“:
Hier vertritt er die Ansicht, dass sich das Verbrechen hinter Anstand und Wohlstand verbirgt, dass die vergoldeten, reichen Herrschaften mehr Dreck am Stecken haben, als der schlimmste und hungernde Dieb auf der Strasse und dass ihnen, desto mehr Böses sie tun, nur Glück und Belohnung winkt. Nicht nur, dass seine Kleriker alle falsch und sexbegierig sind, oftmals abartig veranlagt oder fixiert auf kleine Kinder, so ist der Aufstieg einer reichen Dame immer mit dem Blut und dem Leid verbunden, dem Verkauf der Seele und des Körpers. Andererseits aber ist in seinen Augen der Mensch, der schlecht, aber zufrieden ist, immernoch besser dran, als derjenige, der sich hinter seinen Tugenden versteckt, mit Reue und seinen Zweifeln kämpft, und fast immer geschieht diesen Menschen mehr Unglück, als denjenigen, die mit ihren Verbrechen ungestraft davon kommen. Das zeigt de Sade im Abbild seiner Justine, eine von zwei Schwestern, die unverhofft Waisen werden, während Justine die anständige ist, die sich nicht in die Prostitution begeben will und den „ehrlichen Weg“ wagt, während ihre Schwester Juliette es durch das gewählte, jedoch käufliche Leben zu Reichtum und Ansehen bringt.
Desto ärmer ein Mensch (aufgrund seiner rechtschaffenen Seele) ist, desto schlechter wird er behandelt. Die Menschen geben nur, so de Sade, wenn sie sich etwas davon erhoffen. Dieses Verhalten des Menschen dringt durch all seine Geschichten. Niemand gibt etwas umsonst, hinter jedem hübschen, arglosen Gesicht lauert das Monstrum „Mensch“.
Zum Beispiel trifft Justine auf einen Mann, der ihr schnell klarmacht, was die Welt von der Tugend hält:
In Antwort auf:
Man ist von dem Wahnsinn abgekommen, die Leute ohne Gegenleistungen zu verpflichten. Dem Selbstbewusstsein wird vielleicht für einen Augenblick dadurch geschmeichelt. Da es aber nichts Hirngespinstigeres und Flüchtigeres gibt als die Befriedigung dieses Selbstbewusstseins, hat man Konkreteres gewollt und man hat gemerkt, dass es bei einem kleinen Mädchen Ihresgleichen zum Beispiel weit sinnvoller ist, alle Freuden, die die Libertinage bieten kann, als Frucht einer Hilfeleistung zu ernten, als sich statt dessen daran zu berauschen, ihr ein Almosen gegeben zu haben. Der Ruf eines weitherzigen, spendefreudigen und freigebigen Mannes zu genießen, das ist mir nicht soviel wert wie die geringste sinnliche Erregung, die Sie mir bereiten können.
Man halte sich hier vor Augen, dass Justine gerade einmal 14 Jahre alt ist.
Und genauer:
In Antwort auf:
Lass dir sagen, kleine Novizin, dass der Himmel uns am allerwenigsten von der Welt interessiert. Ob das, was wir auf Erden tun, ihm gefällt oder nicht, das beunruhigt uns nicht im mindesten. Wir sind uns seiner geringen Macht über die Menschen mehr als sicher und trotzen ihm täglich, ohne zu zittern. Unsere Leidenschaften haben erst dann wirklich einen Reiz, wenn sie seine Gebote so weitgehend als möglich übertreten – oder vielmehr das, was Einfältige uns als seine Gebote hinstellen, was aber im Grunde nichts weiter ist als nur eine scheinbar vorhandene Kette, mit deren Hilfe die Heuchelei den Stärkeren hat bezwingen wollen.
Damit ist gesagt, dass der in Armut lebende und unglückliche Mensch unweigerlich untergehen muss, was der Herr damit begründet, dass es sowieso zu viele Untertanen gibt.
In Antwort auf:
Die Regierung sieht alles im Großen und kümmert sich höchst wenig um den einzelnen, vorausgesetzt, dass die Maschine in Gang bleibt.
(Ähnliche Ansätze fand man auch in Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“.)
Das Unglück der Justine ist gemacht, als sie fälschlicherweise als Diebin bezeichnet wird.
In Antwort auf:
Einer Unglücklichen, die weder Ansehen noch Schutz genießt, wird in Frankreich schnell der Prozess gemacht. Man hält dort die Tugend für unvereinbar mit der Armut, und Unglück ist für unsere Gerichtshöfe ein eindeutiger Beweis gegen den Angeklagten.
Hier zeigt sich der Groll des Marquis gegen die Sitten des Staates und der Gesellschaft.
Seine Auffassung ist verständlich, wo er sich in seinen Gefängnismauern befindet, die Anklage seiner Figuren ist weitaus tragischer, als die eigene, um zu verdeutlichen, wohin die scheinheilige Gerechtigkeit führt. Für de Sade gibt es kein kleines oder großes Verbrechen, alle Verbrechen sind gleich bedeutend und liegen in der Natur des Menschen.
Was an Justine deutlich wird, ist das Hervorkehren ihrer Unschuld, die sich inmitten der sie umgebenden Grausamkeiten und „schlechten Menschen“ langsam verliert. Hier zeigt sich ein psychologisch hellsichtiges Gespür des Marquis, denn Justine wird vom Bösen angezogen, ohne es zu merken. Desto besser und gottgläubiger sie ist, desto mehr ist sie unbewusst fasziniert von den „Ausgeburten der Hölle“. Sie liebt denjenigen, der den Glauben ablehnt und sadistische Neigungen hat, möchte ihn von seinem fatalen Weg abbringen. Indirekt zeigt de Sade die Frau als Opfer ihrer Triebe, die sie mit ihrer Unschuld und Tugend überdecken will und die naturgegeben trotzdem durchbrechen. Immerhin verliebt sie sich in einen Menschen, den sie mit einem anderen Mann beobachtet hat und der sie bei ihrem Kennenlernen töten will. Die Tugendhaftigkeit als Masochismus.
Der Mord und das Sterben wird bei de Sade aus dem Munde des Wüstlings erschreckend physikalisch erklärt:
In Antwort auf:
Was die Zerstörung des Nächsten anbelangt, so lass dir gesagt sein, dass dergleichen ein reines Wahngebilde ist. Dem Menschen ist die Macht der Zerstörung nicht gegeben. Er vermag höchstens die Lebensformen zu verwandeln, vernichten aber kann er sie nicht. In den Augen der Natur aber ist jede Form gleich. In dem ungeheuren Schmelztiegel, in dem sich diese Umwandlungen vollziehen, geht nichts verloren. Alle Stoffteile, die sich darein ergießen, erneuern sich unablässig in anderen Gestalten, und wie auch immer wir auf sie einwirken mögen, nichts kann die Natur selbst angreifen, nichts vermag sie zu beleidigen. Unsere Zerstörungen beleben nur ihre Kraft, sie speisen ihre Energie, aber schwächen sie in keinem Fall.
Ja, was kümmert es die immerdar schöpfende Natur, dass diese Masse Fleisch, die heute eine Frau ist, sich morgen in Form von tausend verschiedenen Insekten reproduziert?
Und:
In Antwort auf:
Wenn man mir die Erhabenheit unserer Art beweist, wenn man mir nachweist, dass unsere Gattung für die Natur entscheidend ist und dass ihre Zerstörung deren Gesetze zwangsläufig verletzt, so vermag ich zu glauben, dass diese Zerstörung ein Verbrechen ist. Wenn aber ein gründliches Studium der Natur mir beweist, dass alles, was auf unserem Globus vegetiert, ja selbst die unvollkommenste ihrer Schöpfungen, in den Augen der Natur gleichwertig ist, so werde ich niemals zu der falschen Ansicht kommen, dass die Umwandlung eines dieser Wesen in tausend andere ihre Gesetze je verletzen kann.
Dagegen kennt er sich biologisch kaum aus, denn er behauptet, da es sich bei dieser Szene um den Mord an der Mutter handelt, der er zu nichts verpflichtet ist oder dankbar sein müsste, weil sie sich ihrer Lust hingegeben hat, dass das Kind einzig aus dem Blut des Vaters entsteht.
In Antwort auf:
Der Schoß des Weibchens trägt, behütet und bearbeitet die Frucht, aber er liefert nichts dazu.
Der Mann überträgt die Gene. Immerhin räumt er der Mutter aber ein, dass ihre Fürsorge zu einer gewissen Dankbarkeit führen und ihre Gütigkeit Liebe verspüren lassen kann.
Gedankliche Zwischennuancen:
Bei den Beschreibungen der Menschen fällt auf, dass de Sades Frauen immer von außergewöhnlicher Schönheit und Reinheit sind, während die Männer schmutzig und abstoßend bleiben, um den Kontrast zu erhöhen. Lediglich aus Effektgründen gesellt sich unter die gleich einem Gemälde entsprungenen Frauen manchmal etwas Hässliches, Altes und Verlottertes. Das ist der Reiz der Hässlichkeit, erklärt de Sade, diese ist hauptsächlich in den 120 Tagen umrissen.
De Sade verkündet:
In Antwort auf:
Die Schönheit ist das Schlichte, die Hässlichkeit das Sonderliche, und jede feurige Phantasie zieht zweifellos in der Wollust das Sonderliche dem Schlichten vor. Die Schönheit, die jugendliche Frische beeindrucken immer nur in schlicht-einfacher Weise; die Hässlichkeit, die Verkommenheit frappieren mit gediegener Wucht, die Erregung ist sehr viel stärker, die Wallung daher entsprechend lebhafter. (…)
Wie schon erwähnt ist ein weiterer Kontrast, den de Sade absichtlich setzt, die Art Mensch, die er für die schlimmsten Begebenheiten einsetzt. Die Unschuld im Kind und die Jungfräulichkeit der Frauen auf der einen Seite und die Abartigkeit im Wesen der Geistlichen und Ärzte, Menschen also, denen man eigentlich vertraut und von denen man Hilfe erwarten und erhoffen kann, auf der anderen. All das sind Übertreibungen, um die Grausamkeit um ein weiteres zu vergrößern.
De Sade, wenn man sich mit seinem mächtigen Werk befasst, ergeht sich in unzähligen Wiederholungen. Die Themen scheinen immer ähnlich, um dasselbe zu kreisen, um die Abartigkeit der menschlichen Seele, um den Verrat und die daraus notwendig werdende Vernichtung der Tugenden. All das reiht sich aber zu einem guten Einblick in die menschliche Psyche zusammen, insbesondere in seine eigene, warum das Interesse an diesem Mann wohl auch für lange Zeit bestehen bleibt. Es gibt etliche Bücher, in denen auf de Sade verwiesen wird, Flaubert, zum Beispiel, war völlig fasziniert von ihm, Baudelaire fühlte sich durch ihn inspiriert, und während die Brüder de Goncourt ihn völlig ablehnen, erwähnen sie ihn erstaunlich oft, wenn sie unter anderem auf Tod und Krankheit treffen. Auch ich werde versuchen zu ergründen, was der Marquis de Sade für eine Rolle in der Literatur spielt und in wie weit sein Einfluss sich weiterhin durch die Welt frisst.
Bald also mehr dazu.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 01.10.2008 19:26 |
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#2
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Marquis de Sade
in Die schöne Welt der Bücher 04.10.2008 15:34von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Nun, aus dem Spaß etwas ernster betrachtet:
Ist es wirklich ausschließlich Zorn, der den Marquis in seine Schriften treibt oder der Versuch, dem Menschen in aufrüttelnder Art etwas mitzuteilen?
Wie erreicht man Menschen, um sie von einer anerzogenen Weltansicht in eine neue Weltauffassung zu führen? Und hinzu kommt: Wie kann man bereits kochendes Blut lenken?
Wenn man de Sade inmitten des Revolutionschaos betrachtet, dann ist der Zorn, den man ihm unterstellt (der mit Sicherheit Teil seines Wesens ist) allerdings nicht seine Lösung.
Er ruft zum Sturz der Religion auf. Er sagt, dass der Sturz einer Regierung nur mit der Verbannung der Plage „Gott und Glaube“ einhergehen kann, weil das eine unweigerlich mit dem anderen zusammenhängt. Aber, interessant ist zu sehen, was seine Lösung ist:
… Reißt die Gottesbilder nicht im Zorn nieder, zermalmt sie im Spiel…
Vielleicht deutlicher hier:
Die Lösung ist also sehr human und birgt keinerlei Zorn.
Zum „Ursprung der Gewalt“ zurück:
Gut, Stobbe hat zunächst zwei Grundpfeiler zur Verfügung, die unweigerlich miteinander verbunden sind. Das sind de Sades sittenlose Phantasie und sein fanatischer Atheismus . Das Grundmuster des sadeschen Denkens ist für ihn schnell skizziert:
Das ist grob zusammengefasst die Aussage de Sades. Aber Stobbe räumt ein:
Der Hass auf die Religion liegt also in de Sades Umfeld und Zeit, in der tatsächlich Greuel durch Kirche und Religion verursacht wurde (ganz im Gegensatz zur heutigen Religion – will Stobbe wohl sagen). Gott wird verworfen, weil der Mensch unter der Anwesenheit Gottes zu leiden hat. Aber, ganz so einfach ist es nicht. Liest man sich durch den Sadeschen Kosmos, dann findet man viele Betrachtungen in Physik und Natur. Er erklärt die Sinnlosigkeit natürlich auch in Bezug auf die Menschen, die dem Glauben an Gott verfallen sind und ihn nicht erklären können (siehe „Gespräch zwischen Priester und Sterbenden), aber tatsächlich setzt er die Natur an erster Stelle, die durch ihr Sein keinen Platz für Gott lässt, weil es um Werden und Vergehen, Ursprung und Wirkung geht, während die Entstehung genauso ihren Platz erhält wie die Zerstörung, womit Gut und Böse nicht Gottes Werk sind, sondern nur von Menschen geschaffen sein können. Das Weltall sei eine Ursache, es hätte keine Wirkung, kein Werk, erklärt de Sade. Es wäre nicht geschaffen worden, es war immer so, wie wir es sehen. Seine Existenz wäre notwendig, es hätte seine Ursache in sich selbst. Die Natur, deren Zweck es sei, zu schaffen und zu erzeugen, bedürfe daher nicht eines unsichtbaren Bewegers. De Sade verkündet, dass die Materie sich kraft ihrer eigenen Energie bewegt, wobei man die Belesenheit des Marquis spürt, was ihn zu dem Schluss bringt, dass der Glaube damit nur die Kette sein könnte, die der Mensch sich selbst geschmiedet hat…
Die Natur ist de Sades Gott.
Nachdem Stobbe also schon einmal Grundpfeiler errichtet hat, ein Grundmuster entworfen hat, kreist das Gravitationszentrum de Sades für ihn allerdings um die Wollust.
In der Philosophie im Boudoir beschreibt de Sade seine Auffassung von Körper und Seele und sieht das Nervenzentrum als Sitz der Seele. Eine starke Erregung, so de Sade, erschüttert das Fluidum, das durch den Hohlraum der Nerven fließt und löst Lustgefühle aus. Stobbe zieht daraus den Schluss, dass de Sade Wollust mit Glück gleich setzt, und das sein Denken um dieses Gravitationszentrum kreist.
Aber, was steckt dahinter?
Eine Betrachtungsweise seiner „Stimme“ ist auch in diesem Satz gut zusammengefasst:
… oder ihm einen Spiegel vorgehalten.
In wie weit de Sade sich selbst für lasterhaft und „schuldig“ hält, ist schwer zu entziffern. Einerseits steht er zu seinem Unglauben und fordert auf, Gott abzuschwören, um endlich „Mensch“ zu sein. Das ist der tiefe Ernst seiner Betrachtungen, warum sich seine Aufforderungen auch immer mit Politik verbinden. Wegen Gott werden Kriege geführt, das ist die Grundmauer seiner Aussage.
Auch hat er das Schreiben von „Justine“ geleugnet, was zeigt, dass er keinesfalls wahnsinnig, sondern sich der Anklage und Aussage seiner Werke durchaus bewusst war (denn er wollte sich ja davor schützen, weiterhin Opfer der Gesellschaftsordnungen zu sein), andererseits sagt er in einem Brief an seinen Rechtsanwalt, als er darum bittet, seine Schriften trotz seiner Verhaftung in jedem Fall zu veröffentlichen:
Darin liegt wohl auch einer der „Ursprünge“, dass mit dem Inhalt des Werkes immer das Leben und die Verhaftungen des echten de Sade verbunden werden. Was man aus der Schrift herauslesen will, ist das abartige Subjekt dahinter, nicht eine Philosophie, eine Aufforderung oder schlicht und einfach… Literatur.
Mit Zorn schreibt der Marquis, aber Zorn ist nicht das, was er ausdrücken möchte oder fordert. Und er verarbeitet den Zorn auch nicht in Form von Begierden oder Lust, sondern diese ist Teil seines Wesens, was in der heutigen Zeit psychologisch erklärbar ist, ohne, dass diese beiden Formen der Emotion grundsätzlich miteinander verbunden sind.
Interessant: Als Marquis de Sade von dem Vater angeschossen wird, wobei ihn die Kugel knapp verfehlt, der seine Tochter aus seinem Schloss zurückholen möchte, handelt es sich bei besagter Tochter um de Sades Köchin, die er in seinen Briefen Justine nennt. Da wird der Leser hellhörig. Der Vater verkündete hinterher, dass ihm gesagt worden war, er könne den Marquis getrost umbringen, ohne eine Bestrafung befürchten zu müssen. De Sade schreibt an seinen Anwalt, dass er es „infam“ findet, dass der Mann, statt verhaftet zu werden, wieder freigelassen wurde und sein Leben und das seiner Familie weiterhin in Gefahr wäre, da der Mann sich nicht scheute, erneut zu schießen, als er im Hof des Schlosses den Marquis vermutete (der sich allerdings in einem Zimmer befand, von dem aus der den Vorfall (Begegnung zwischen Vater und Tochter) heimlich beobachtete). Seine Worte sind, von ihm selbst in Klammern gesetzt, folgende:
Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
Der Name Justine steht für die Tugend, die ins Unglück gerät. Justine ist also der Name seiner Köchin, durch die der Marquis zum ersten Mal sein Leben bedroht fühlte. In Worten rächt er sich also, lässt sie immer wieder in ein neues Unglück stürzen, sobald sie sich wieder etwas aufrichtet, verabreicht er ihr den nächsten Schlag. Weiterhin sieht er sich von der Gesellschaft verraten, die den Schießwütigen in Ruhe freilässt und ihm auch noch vermittelt, de Sade könne ruhig getötet werden, ohne, dass der Mann etwas zu befürchten hätte. Darum wird die Gesellschaft als blutrünstige Phalanx böswilliger, gieriger, sadistischer Menschen dargestellt, die der armen Justine (in der das Mädchen wie auch de Sade selbst (als Opfer diese Machenschaften) vereint sind) mit den schlimmsten und härtesten Voraussetzungen immer wieder ihre Unschuld nehmen wollen. Gleichzeitig wird Justine zum Sündenbock seiner eigenen Wut, darum lässt er sie von einer Quälerei in die nächste geraten. Justine ist also Zerrbild für mehrere Dinge. De Sade als Opfer, der sich der Gesellschaft ausgeliefert sieht. Justine und ihr Vater, die ihn fast das Leben gekostet haben (Rache), die Darstellung der Tugend (Er hält dem vorherrschenden Sadismus den Spiegel vor Augen, denn für ihn muss, wenn so viel Ungerechtigkeit herrscht, damit auch die Gesellschaft schlecht sein – eine Form der Paranoia eines verhafteten und in „Hausarrest“ gestellten Mannes, der zum Verbrecher gestempelt wurde und nun als „minderwertig“ gilt und sich, durch die Ereignisse, auch so fühlt), die Verarbeitung der eigenen Erlebnisse und Leiden (er schreibt an seinen Anwalt:
Der Marquis flüchtete vor der Verhaftung und dem Todesurteil in effigie, war aus gut gehenden Verhältnissen in eine "Wildnis" gestürzt worden. Man kann hier nachvollziehen, dass er es als „Folter“ bezeichnet. Diese psychische Qual wandelt er in seiner Schrift „Das Missgeschick der Tugend“ in eine körperliche und geistige Qual um, die Justine immer wieder erlebt. Er treibt die eigene Angst dieser Erlebnisse voran und ersetzt sie, vielleicht um sie zu überwinden, durch körperliche Schmerzen. Das ist ein interessanter Aspekt. Justine, als ihre Tugend zum ersten Mal ins Unglück gestürzt wird, versteckt sich in einem Wald. Hier kümmert sie in ihrer ersten Angst vor Verfolgung und der Ungerechtigkeit der Welt. Dann gerät sie daraus in ein weiteres, schreckliches Erlebnis, die zweite Angst, und kehrt, diesem entflohen, wieder zum gleichen Ort ihrer ersten Angst zurück. Hier sieht man drei Wegstrecken, die Unschuld, das Nehmen der Unschuld und die Wiederkehr mit verlorener Unschuld, wobei erster und letzter Punkt der gleiche sind.. De Sade kehrt also wie der Verbrecher immer wieder zum Ort der Abwege zurück. Er muss auch selbst die Ungerechtigkeiten, die ihm da widerfahren sind, immer neu durchlebt haben.
Die Rache am Klerus kommt auch noch hinzu, weil der „Anteil des Pfarrers an der ganzen Geschichte“ (dass auf ihn geschossen wurde) Vergeltungsmaßnahmen hervorruft. Vergeltung in Wort und Schrift.
De Sade befindet sich durch den Mordanschlag in einer eigenartigen Bedrängung. Statt den Mann anzeigen zu können, wird ihm geraten, keinen Skandal heraufzubeschwören, weil dann ein weiterer Verdacht auf den Marquis fallen könnte, dass er sich an einem Mädchen vergangen haben könnte, weil man, aufgrund seiner Vorgeschichte, dem Vater vielleicht mehr glauben könnte, als ihm. Die Empörung, die de Sade empfindet, ist nachvollziehbar.
Geben Sie es ruhig zu, schreibt er an seinen Anwalt. Da Sie – wie die Allgemeinheit – daran gewöhnt sind, mich im Unrecht zu glauben, weil ich unglücklich bin, deshalb hielten Sie mich nicht für unschuldig genug, offen meine Partei zu ergreifen.
Aus diesen Vorfällen entstand wohl auch eine seiner Theorien, dass ein Mensch, der sich im Unglück befindet, immer mehr Unglück anzieht.
(Siehe z. B. in „Das Missgeschick der Tugend“, wo es heißt:
Einer Unglücklichen, die weder Ansehen noch Schutz genießt, wird in Frankreich schnell der Prozess gemacht. Man hält dort die Tugend für unvereinbar mit der Armut, und Unglück ist für unsere Gerichtshöfe ein eindeutiger Beweis gegen den Angeklagten. )
Soweit ein erster Einblick, aus dem sichtbar wird, dass die einfache Bezeichnung "Zorn" nicht ausreicht, um de Sades Welt und Schaffen erklären zu wollen.
Bald mehr...
Ist es wirklich ausschließlich Zorn, der den Marquis in seine Schriften treibt oder der Versuch, dem Menschen in aufrüttelnder Art etwas mitzuteilen?
Wie erreicht man Menschen, um sie von einer anerzogenen Weltansicht in eine neue Weltauffassung zu führen? Und hinzu kommt: Wie kann man bereits kochendes Blut lenken?
Wenn man de Sade inmitten des Revolutionschaos betrachtet, dann ist der Zorn, den man ihm unterstellt (der mit Sicherheit Teil seines Wesens ist) allerdings nicht seine Lösung.
Er ruft zum Sturz der Religion auf. Er sagt, dass der Sturz einer Regierung nur mit der Verbannung der Plage „Gott und Glaube“ einhergehen kann, weil das eine unweigerlich mit dem anderen zusammenhängt. Aber, interessant ist zu sehen, was seine Lösung ist:
… Reißt die Gottesbilder nicht im Zorn nieder, zermalmt sie im Spiel…
Vielleicht deutlicher hier:
Zitat von Sade
Zu allen Zeiten, in allen Jahrhunderten bestand zwischen Tyrannei und Religion ein so enger Zusammenhang, dass mehr als bewiesen ist: Wenn man das eine zerstört, muss man auch das andere unterminieren, aus dem wichtigen Grunde, weil das eine dem anderen immer zur Macht verhelfen wird. Ich schlage indessen weder Blutbäder noch Ausweisungen vor; all diese Greueltaten liegen meiner Seele zu fern, als dass ich es wagte, sie auch nur eine Minute in Betracht zu ziehen. Nein, mordet nicht, und verweist niemanden des Landes: Diese Abscheulichkeiten sind die Mittel der Könige oder der Ruchlosen, die sie nachahmten; wenn ihr handelt wie sie, werdet ihr nicht erzwingen, dass man sie verabscheut, die solche Abscheulichkeiten begingen. Lasst uns Gewalt nur bei den Götterbildern anwenden; die, die ihnen dienen, braucht man nur lächerlich zu machen: Der Sarkasmus Julians schadete der christlichen Religion mehr als alle Foltern Neros…
Die Lösung ist also sehr human und birgt keinerlei Zorn.
Zum „Ursprung der Gewalt“ zurück:
Gut, Stobbe hat zunächst zwei Grundpfeiler zur Verfügung, die unweigerlich miteinander verbunden sind. Das sind de Sades sittenlose Phantasie und sein fanatischer Atheismus . Das Grundmuster des sadeschen Denkens ist für ihn schnell skizziert:
Zitat von Stobbe
Der Atheismus allein entspricht der Vernunft, denn die Gottesvorstellung ist irrational, weil widersprüchlich; überflüssig, weil ohne Erklärungskraft; gefährlich, weil ideologisch instrumentalisierbar. Die Religion entsteht aus der Angst der Menschen, sie verfestigt sich aus Gewohnheit und Dummheit, und sie wird gefördert durch falsche Propheten und Priester, die aus egoistischen Machtinteressen das gemeine Volk betrügen. Kurzum: Gott ist ein Hirngespinst, die Religion ein Wahn und Frömmigkeit eine Krankheit, vorzugsweise der armen Leute.
Das ist grob zusammengefasst die Aussage de Sades. Aber Stobbe räumt ein:
Zitat von Stobbe
Im Zentrum der Religionskritik des „Sadisten“ de Sade steht die Empörung angesichts der durch Religionen verursachten, gerechtfertigen und ausgeübten Gewalt, und gibt keinen Anlass, sie als unaufrichtig, rhetorisch oder inszeniert zu betrachten.
Der Hass auf die Religion liegt also in de Sades Umfeld und Zeit, in der tatsächlich Greuel durch Kirche und Religion verursacht wurde (ganz im Gegensatz zur heutigen Religion – will Stobbe wohl sagen). Gott wird verworfen, weil der Mensch unter der Anwesenheit Gottes zu leiden hat. Aber, ganz so einfach ist es nicht. Liest man sich durch den Sadeschen Kosmos, dann findet man viele Betrachtungen in Physik und Natur. Er erklärt die Sinnlosigkeit natürlich auch in Bezug auf die Menschen, die dem Glauben an Gott verfallen sind und ihn nicht erklären können (siehe „Gespräch zwischen Priester und Sterbenden), aber tatsächlich setzt er die Natur an erster Stelle, die durch ihr Sein keinen Platz für Gott lässt, weil es um Werden und Vergehen, Ursprung und Wirkung geht, während die Entstehung genauso ihren Platz erhält wie die Zerstörung, womit Gut und Böse nicht Gottes Werk sind, sondern nur von Menschen geschaffen sein können. Das Weltall sei eine Ursache, es hätte keine Wirkung, kein Werk, erklärt de Sade. Es wäre nicht geschaffen worden, es war immer so, wie wir es sehen. Seine Existenz wäre notwendig, es hätte seine Ursache in sich selbst. Die Natur, deren Zweck es sei, zu schaffen und zu erzeugen, bedürfe daher nicht eines unsichtbaren Bewegers. De Sade verkündet, dass die Materie sich kraft ihrer eigenen Energie bewegt, wobei man die Belesenheit des Marquis spürt, was ihn zu dem Schluss bringt, dass der Glaube damit nur die Kette sein könnte, die der Mensch sich selbst geschmiedet hat…
Zitat von Sade
… deren Gewicht so sehr auf seine Schultern drückt, und dass er von sich aus seinen Nacken unter jenes nichtswürdige Joch gebeugt hat, das er sich in seiner Dummheit selber drechselte.
Die Natur ist de Sades Gott.
Nachdem Stobbe also schon einmal Grundpfeiler errichtet hat, ein Grundmuster entworfen hat, kreist das Gravitationszentrum de Sades für ihn allerdings um die Wollust.
In der Philosophie im Boudoir beschreibt de Sade seine Auffassung von Körper und Seele und sieht das Nervenzentrum als Sitz der Seele. Eine starke Erregung, so de Sade, erschüttert das Fluidum, das durch den Hohlraum der Nerven fließt und löst Lustgefühle aus. Stobbe zieht daraus den Schluss, dass de Sade Wollust mit Glück gleich setzt, und das sein Denken um dieses Gravitationszentrum kreist.
Aber, was steckt dahinter?
Eine Betrachtungsweise seiner „Stimme“ ist auch in diesem Satz gut zusammengefasst:
Zitat von Farin/Seifert
„Sade hat dem allgemeinen Sadismus die Wahrheit gesagt.“
… oder ihm einen Spiegel vorgehalten.
In wie weit de Sade sich selbst für lasterhaft und „schuldig“ hält, ist schwer zu entziffern. Einerseits steht er zu seinem Unglauben und fordert auf, Gott abzuschwören, um endlich „Mensch“ zu sein. Das ist der tiefe Ernst seiner Betrachtungen, warum sich seine Aufforderungen auch immer mit Politik verbinden. Wegen Gott werden Kriege geführt, das ist die Grundmauer seiner Aussage.
Auch hat er das Schreiben von „Justine“ geleugnet, was zeigt, dass er keinesfalls wahnsinnig, sondern sich der Anklage und Aussage seiner Werke durchaus bewusst war (denn er wollte sich ja davor schützen, weiterhin Opfer der Gesellschaftsordnungen zu sein), andererseits sagt er in einem Brief an seinen Rechtsanwalt, als er darum bittet, seine Schriften trotz seiner Verhaftung in jedem Fall zu veröffentlichen:
Zitat von Sade - Briefe
Es mag zwar sein, dass ich mich schuldiger bekenne, als man glaubte, dass ich es sei; wenn dem aber so ist, so erweise ich mich als um so wahrheitsliebender und interessanter. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die von mir entstandene Verfehlung ihrer Natur nach weder schwerwiegend ist noch eine Verurteilung meiner Person rechtfertigt. Seit wann werden Gedanken bestraft?
Darin liegt wohl auch einer der „Ursprünge“, dass mit dem Inhalt des Werkes immer das Leben und die Verhaftungen des echten de Sade verbunden werden. Was man aus der Schrift herauslesen will, ist das abartige Subjekt dahinter, nicht eine Philosophie, eine Aufforderung oder schlicht und einfach… Literatur.
Mit Zorn schreibt der Marquis, aber Zorn ist nicht das, was er ausdrücken möchte oder fordert. Und er verarbeitet den Zorn auch nicht in Form von Begierden oder Lust, sondern diese ist Teil seines Wesens, was in der heutigen Zeit psychologisch erklärbar ist, ohne, dass diese beiden Formen der Emotion grundsätzlich miteinander verbunden sind.
Interessant: Als Marquis de Sade von dem Vater angeschossen wird, wobei ihn die Kugel knapp verfehlt, der seine Tochter aus seinem Schloss zurückholen möchte, handelt es sich bei besagter Tochter um de Sades Köchin, die er in seinen Briefen Justine nennt. Da wird der Leser hellhörig. Der Vater verkündete hinterher, dass ihm gesagt worden war, er könne den Marquis getrost umbringen, ohne eine Bestrafung befürchten zu müssen. De Sade schreibt an seinen Anwalt, dass er es „infam“ findet, dass der Mann, statt verhaftet zu werden, wieder freigelassen wurde und sein Leben und das seiner Familie weiterhin in Gefahr wäre, da der Mann sich nicht scheute, erneut zu schießen, als er im Hof des Schlosses den Marquis vermutete (der sich allerdings in einem Zimmer befand, von dem aus der den Vorfall (Begegnung zwischen Vater und Tochter) heimlich beobachtete). Seine Worte sind, von ihm selbst in Klammern gesetzt, folgende:
Zitat von Sade - Briefe
Die Zeit der Vergeltung wird vielleicht noch einmal kommen.
Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
Der Name Justine steht für die Tugend, die ins Unglück gerät. Justine ist also der Name seiner Köchin, durch die der Marquis zum ersten Mal sein Leben bedroht fühlte. In Worten rächt er sich also, lässt sie immer wieder in ein neues Unglück stürzen, sobald sie sich wieder etwas aufrichtet, verabreicht er ihr den nächsten Schlag. Weiterhin sieht er sich von der Gesellschaft verraten, die den Schießwütigen in Ruhe freilässt und ihm auch noch vermittelt, de Sade könne ruhig getötet werden, ohne, dass der Mann etwas zu befürchten hätte. Darum wird die Gesellschaft als blutrünstige Phalanx böswilliger, gieriger, sadistischer Menschen dargestellt, die der armen Justine (in der das Mädchen wie auch de Sade selbst (als Opfer diese Machenschaften) vereint sind) mit den schlimmsten und härtesten Voraussetzungen immer wieder ihre Unschuld nehmen wollen. Gleichzeitig wird Justine zum Sündenbock seiner eigenen Wut, darum lässt er sie von einer Quälerei in die nächste geraten. Justine ist also Zerrbild für mehrere Dinge. De Sade als Opfer, der sich der Gesellschaft ausgeliefert sieht. Justine und ihr Vater, die ihn fast das Leben gekostet haben (Rache), die Darstellung der Tugend (Er hält dem vorherrschenden Sadismus den Spiegel vor Augen, denn für ihn muss, wenn so viel Ungerechtigkeit herrscht, damit auch die Gesellschaft schlecht sein – eine Form der Paranoia eines verhafteten und in „Hausarrest“ gestellten Mannes, der zum Verbrecher gestempelt wurde und nun als „minderwertig“ gilt und sich, durch die Ereignisse, auch so fühlt), die Verarbeitung der eigenen Erlebnisse und Leiden (er schreibt an seinen Anwalt:
Zitat von Sade - Briefe
… denn Sie werden mir glauben: Wenn man genötigt ist, sich in seinem Land unaufhörlich versteckt zu halten und alle möglichen Rollen zu spielen, um nicht erkannt zu werden, so kann man sich dabei nicht gerade sehr wohl fühlen. Eines versichere ich Sie: diese Art der Folter war mir bislang unbekannt, und ich empfinde sie als sehr hart und unangenehm.
Der Marquis flüchtete vor der Verhaftung und dem Todesurteil in effigie, war aus gut gehenden Verhältnissen in eine "Wildnis" gestürzt worden. Man kann hier nachvollziehen, dass er es als „Folter“ bezeichnet. Diese psychische Qual wandelt er in seiner Schrift „Das Missgeschick der Tugend“ in eine körperliche und geistige Qual um, die Justine immer wieder erlebt. Er treibt die eigene Angst dieser Erlebnisse voran und ersetzt sie, vielleicht um sie zu überwinden, durch körperliche Schmerzen. Das ist ein interessanter Aspekt. Justine, als ihre Tugend zum ersten Mal ins Unglück gestürzt wird, versteckt sich in einem Wald. Hier kümmert sie in ihrer ersten Angst vor Verfolgung und der Ungerechtigkeit der Welt. Dann gerät sie daraus in ein weiteres, schreckliches Erlebnis, die zweite Angst, und kehrt, diesem entflohen, wieder zum gleichen Ort ihrer ersten Angst zurück. Hier sieht man drei Wegstrecken, die Unschuld, das Nehmen der Unschuld und die Wiederkehr mit verlorener Unschuld, wobei erster und letzter Punkt der gleiche sind.. De Sade kehrt also wie der Verbrecher immer wieder zum Ort der Abwege zurück. Er muss auch selbst die Ungerechtigkeiten, die ihm da widerfahren sind, immer neu durchlebt haben.
Die Rache am Klerus kommt auch noch hinzu, weil der „Anteil des Pfarrers an der ganzen Geschichte“ (dass auf ihn geschossen wurde) Vergeltungsmaßnahmen hervorruft. Vergeltung in Wort und Schrift.
De Sade befindet sich durch den Mordanschlag in einer eigenartigen Bedrängung. Statt den Mann anzeigen zu können, wird ihm geraten, keinen Skandal heraufzubeschwören, weil dann ein weiterer Verdacht auf den Marquis fallen könnte, dass er sich an einem Mädchen vergangen haben könnte, weil man, aufgrund seiner Vorgeschichte, dem Vater vielleicht mehr glauben könnte, als ihm. Die Empörung, die de Sade empfindet, ist nachvollziehbar.
Geben Sie es ruhig zu, schreibt er an seinen Anwalt. Da Sie – wie die Allgemeinheit – daran gewöhnt sind, mich im Unrecht zu glauben, weil ich unglücklich bin, deshalb hielten Sie mich nicht für unschuldig genug, offen meine Partei zu ergreifen.
Aus diesen Vorfällen entstand wohl auch eine seiner Theorien, dass ein Mensch, der sich im Unglück befindet, immer mehr Unglück anzieht.
(Siehe z. B. in „Das Missgeschick der Tugend“, wo es heißt:
Einer Unglücklichen, die weder Ansehen noch Schutz genießt, wird in Frankreich schnell der Prozess gemacht. Man hält dort die Tugend für unvereinbar mit der Armut, und Unglück ist für unsere Gerichtshöfe ein eindeutiger Beweis gegen den Angeklagten. )
Soweit ein erster Einblick, aus dem sichtbar wird, dass die einfache Bezeichnung "Zorn" nicht ausreicht, um de Sades Welt und Schaffen erklären zu wollen.
Bald mehr...
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 09.10.2008 20:48 |
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