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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Die letzten Tage - Tag 1

in Prosa 28.12.2008 11:48
von Lennie • 829 Beiträge
(Der Anfang eines längeren Ganzen, das noch in Arbeit ist...)

Tag 1

Die Radiosendung von heute früh mit ihren Phantasie-Statistiken, von denen jeder weiss, dass sie alle frei erfunden sind und alles mögliche widerspiegeln ausser der wirklichen Situation – die hat mich wirklich genervt! Solche Neuigkeiten zum Frühstück sind nicht gerade sehr erbaulich. Aber wenn ich ihnen jetzt nochmal eine Nachricht in ihr Forum poste, dann kann ich ernste Schwierigkeiten bekommen. Das letzte Mal war es schon hart an der Grenze. Und diesen kleinen Widerling vom KAIB (Kontrollamt der Internet-Benutzer), den drängt es mich wirklich nicht, nochmal zu sehen. Er riecht nach Schweiss und ungewaschenen Kleidern und seine spärlich auf dem Kopf verteilten fettigen Haare ähneln dünnen, feuchten Bindfäden - widerlich! Beim nächsten Mal wird es nicht so einfach sein, ihn wieder los zu werden. Dumm und heimtückisch ist er, das ist immer schon eine mehr als unheilvolle Mischung gewesen... vor dem muss ich mich in Acht nehmen.

Heute vormittag habe ich mir geleistet, mal so richtig auszuschlafen. Nach all der Arbeit der letzten Woche fand ich, dass ich das verdient hatte. Am Nachmittag habe ich mich um die Pflanzungen gekümmert. Die ersten Tomaten werden schon rot. Ich habe den Kompost gewendet, das Unkraut gejätet und lauter Arbeiten verrichtet, die ich nicht leiden kann. Als ich bei den Gewürzkräutern angelangt war, fiel mir auf, dass die Tür vom Hühnerstall schon wieder beschädigt war. Meine Hühner waren jedoch alle noch da, wie ich mit einem Blick feststellte.

Vier Hennen beherberge ich hier diskret und unauffällig. Ich habe sie Alpha, Beta, Gamma und Delta getauft. Vor ein paar Monaten habe ich sie eines Abends auf dem Heimweg unterhalb der Départementale gefunden, da, wo die Strasse den Bogen macht. Sie müssen von einem LKW gefallen sein, der vermutlich die Kurve zu schnell genommen hatte. Das passiert immer wieder. Die Leute aus dem Dorf gehen an der Stelle regelmässig auf die Suche nach verlorenem Frachtgut. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und hörte es im Gebüsch neben der Landstrasse piepsen. Nach längerem Suchen fand ich dort einen grossen Drahtkäfig voll junger Hühner, fast noch Küken. Nur vier von ihnen waren noch am Leben, befanden sich allerdings in einem erbärmlichen Zustand. Sie hatten kaum noch Federn am Leib, japsten mit offenem Schnabel nach Luft und gaben ab und zu ein jammervolles schwächliches Fiepen von sich – ein Wunder, dass ich das überhaupt gehört hatte! Sehr lange konnten sie hier noch nicht liegen, der Gestank ihrer toten Artgenossen hielt sich noch in Grenzen. Nach einiger Überwindung - und mit angehaltenem Atem gegen die dennoch aufsteigende Übelkeit ankämpfend - gelang es mir, sie nach und nach vorsichtig aus dem Käfig zu befreien.
Ich nahm sie mit nach Hause und behielt sie zunächst einige Zeit in meiner Küche, wo ich sie in den folgenden Wochen pflegte und aufpäppelte. Sie dankten es mir, indem sie alle am Leben blieben und sich zu hübschen Vögeln entwickelten, zwei mit weissem, zwei mit braunem Gefieder.
Sie sind genügsam, von angenehm stillem Wesen und erfreuen mich dadurch, dass sie mir regelmässig Eier legen. Schöne grosse wohlschmeckende Eier.

Das Loch im Drahtgeflecht war zwar klein, beunruhigte mich aber trotzdem. Eigentlich dürfte ja niemand eine Ahnung von der Existenz meines Hühnerstalls haben. Seit die Dujardins weg sind, habe ich ihn in ihrem Garten eingerichtet, der an meinen angrenzt. Ganz hinten an der Mauer, damit die Vögel über den Tag hinweg auch ein bisschen Schatten haben. Und das schmale Loch im Zaun, durch das ich nach nebenan komme, ist durch die dichte Jasminhecke gut kaschiert, man sieht es überhaupt nicht.

Ich hatte keinen Draht mehr, um den Stall zu reparieren und musste mich zu diesem Ramschladen an der Départementale begeben. Allein mag ich da nicht hingehen, der Ort ist nie ganz sicher. Um schneller hin und wieder zurück zu kommen, bin ich mit dem Fahrrad gefahren. Es ist zwar lächerlich, aber das Fahrrad beruhigt mich – man kommt doch ein wenig schneller voran.
Wie üblich warteten viele Menschen an der Haltestelle auf den nächsten Bus. Ein paar müde Prostituierte hingen an der gammeligen Getränkebude herum. Vom Abfalldepot dahinter wehte ein widerlicher Gestank herüber. Kein Wunder, es liegt mitten in der Sonne und die Müllabfuhr kommt nur einmal im Monat. Schwaden von Insekten wogten darüber hin und her.
Ich wandte den Blick ab, um nicht allzu viele Details sehen zu müssen und ging rasch in den Laden, ein paar Meter weiter. Zum Glück gab es Draht. Ich bin dann umgehend und so diskret wie möglich wieder abgefahren, um nicht die Aufmerksamkeit dieser Individuen zu erregen, die immer in der Nähe der Bushaltestelle herumlungern. Einige von ihnen wühlten mit lautem Geschepper im Glascontainer nach noch nicht ganz leeren Flaschen und schmissen sie dann, nachdem sie den Inhalt getrunken hatten, gröhlend und fluchend wieder auf den Haufen zurück. Die Wartenden hatten sich in einem kompakten Trupp so weit wie möglich unter das Sonnendach der Bushaltestelle zurückgezogen und blickten stoisch in die den Randalierern entgegengesetzte Richtung.
Von Zeit zu Zeit kam in voller Fahrt ein LKW oder ein Bus vorbei. Keiner hielt an.

Es sind schon wieder drei Katzen in der Siedlung verschwunden. Die kleine dreifarbige von Madame Binard ist auch dabei. Vorhin bin ich auf dem Rückweg bei ihr vorbeigegangen, um sie zu trösten. Sie hatte immer noch Tränen in den Augen und versicherte mir wieder und wieder, dass sie alles bezahlt hätte: die Steuern, die zusätzlichen Abgaben für Wasser und Nahrung, den Tierarzt – alles. Sie war untröstlich.
Die Tür vom Hühnerstall ist repariert. Das müsste jetzt eigentlich halten.
Dreimal habe ich am Abend alle Türen kontrolliert, um sicher zu sein, dass sie auch verschlossen sind, ehe ich endlich schlafen ging.
zuletzt bearbeitet 28.12.2008 11:50 | nach oben springen


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