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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Die letzten Tage - Tag 2

in Prosa 04.01.2009 19:01
von Lennie • 829 Beiträge
Tag 2

Seit der letzten Woche sind die Kurse schon wieder ein bisschen gestiegen.
Und im Radio auch heute wieder – wirklich der letzte Quatsch! Dürfen sie solchen Schwachsinn eigentlich veröffentlichen? « Statistisch gesehen gibt es keine Inflation mehr, da die Preissteigerungen von den noch umfangreicheren Preissenkungen absorbiert werden. »
Und das nur deshalb, weil sie sich nicht entblöden, dem Treibstoffpreis, der heute morgen bei 82,12 lag, denjenigen des neuesten Laptops zu 78,07 gegenüber zu stellen! Brauche ich vielleicht jeden Tag ein neues Laptop? Kaum! Es gibt aber tatsächlich noch eine ganze Reihe von Produkten des täglichen Lebens, die man nach wie vor selbst im Auto herbeischaffen muss! Hier auf dem Land und mitten in der Pampa hat man leider keine Wahl, da sind öffentliche Verkehrsmittel so selten wie Lieferanten. Und wem haben wir das zu verdanken, wie so vieles? - Aber wozu rege ich mich auf, warum höre ich mir diese dämliche Sendung überhaupt noch an? Wie sagt Vincent in seiner sarkastischen Art immer sehr richtig: „Wenn du nicht wissen willst, was wirklich passiert, dann höre Radio und sieh fern!“ In Zukunft werde ich das lassen.

Ich spüre wieder diesen seltsamen Schmerz hinten im rechten Bein. Ein durchdringender Schmerz ist das, er zieht sich von oben bis unten durch das ganze Bein, als ob irgendwo innen drin ein Nerv eingeklemmt ist. Jeder Schritt tut weh und ich habe Schwierigkeiten, das Knie zu beugen.
Und hinter dem linken Auge immer noch das Gefühl, als ob mir eine harte Kugel durch den Kopf rollt. Vermutlich werde ich mich daran gewöhnen müssen. Ein paarmal habe ich in den letzten Tagen schon versucht, im Internet anhand der Symptome Näheres über ihren Ursprung in Erfahrung zu bringen. Aber alle entsprechenden medizinischen Seiten sind zensiert und zeigen lediglich rot blinkend den Satz « Diese Seite kann leider nicht hochgeladen werden. » Sehr beruhigend wirkt das nicht. Ich versuche, nicht zu sehr daran zu denken. Den Auftrag von den Vandenputts muss ich noch fertig machen. Auf jeden Fall. Aber es ist der letzte, den ich angenommen habe.

Am späten Vormittag kam Madame Binard vorbei, um mir das restliche Trockenfutter ihrer kleinen Katze zu bringen. Mit trostlosem Blick stand sie eine lange Weile neben Toby, der im Liegestuhl schlief und leise schnurrte, als sie ihn streichelte. Es tat mir so leid für sie.

Am Abend rief Vincent an und mir war wieder, als würde ich auf Wolken schweben, so wohlig war mir zumute. Allein schon, seine Stimme zu hören...! Er hat es nicht direkt ausgesprochen, aber ich habe gespürt, dass auch er am Ende ist. Es wird Zeit. Ich habe ihm von Madame Binards Katze erzählt. Er hat nichts darauf erwidert. Aber sein Schweigen war genauso vielsagend.
In Paris gibt es schon seit Jahren keine Katzen mehr. Und keine Hunde. Ich weiss.

Vincent fehlt mir so sehr. Nach jedem unserer Telefonate muss ich weinen. Und ich denke daran, wie wir damals waren, wie jung und unbekümmert – und dermassen vertraut miteinander! Wir haben die Dinge viel eher gespürt als manche anderen. Vincent ist schon damals immer gut informiert gewesen. Und trotzdem hat uns das nichts geholfen. Wir haben dieselben Dummheiten gemacht wie die anderen, wir haben dieselben Streits, dieselben Dramen erlebt. Und wir haben uns getrennt, ebenso wie sie. Wie die Idioten.
Aber wir haben beschlossen, den Schaden zu beheben, ganz gleich, wie viele Kilometer uns heute voneinander trennen. « Wenn man wirklich will, dann kann man », wie meine Mutter zu sagen pflegte. Und sie hatte recht. Wir werden das schaffen.
Ich fange jetzt an, die Tage zu zählen, wie damals, als ich noch Kind war. « Noch X Tage bis zu den Ferien... »
Das ist zwar albern, aber es hilft mir, durchzuhalten.

Gerade eben bin ich noch einmal eine Runde mit dem Rad durchs Dorf gefahren, ehe ich schlafen gehe. Es ist alles ruhig. Vor den trostlosen Ruinen der verfallenen Neubausiedlung flitzten, als ich an ihnen vorüberfuhr, hastig ein paar Ratten davon, das war alles. Ich habe nicht angehalten.
Vorn am Rest des Bauzauns hängt noch schief an einem Nagel das Schild, schon ganz verblichen. « Geniessen Sie das wahre Leben im Süden! Hier entsteht für Sie die ganzjährig bewachte Luxus-Residenz Les Oliviers - 12 voll klimatisierte Traumhäuser mit allem Komfort, privatem Tennisplatz und Schwimmbad » steht da. Nur von zweien der angepriesenen Traumhäuser war die Konstruktion überhaupt noch bis zum Dachstuhl gediehen, von ein paar anderen ragen hier und da Mauerfragmente und leere Fensteröffnungen über ein bis zwei Etagen empor. Das ehemals plattgewalzte Gelände, das für Tennisplatz und Schwimmbad vorgesehen war, ist kaum noch als solches zu erkennen und längst wieder von Buschwerk und wilden Sträuchern überwuchert. Weiter hinten kann man dazwischen die Überreste von zwei ausgebrannten Lieferwagen sehen. Ein völlig verrosteter Betonmischer steht auch noch dort.
Siedlungen wie diese gibt es Dutzende hier in der Gegend. Sie waren damals wie die Pilze aus dem Boden geschossen. Bauunternehmer und Immobilienmakler waren gleichermassen trunken vor Geldgier, als ganz Nord- und Osteuropa in Frankreichs Süden herunterströmte, um den deprimierenden Klimaverhältnissen im eigenen Land zu entfliehen. Und viele der gutsituierten Käufer waren schlicht zu naiv. Sie liessen sich von jedem braungebrannten Lächeln, von jedem vielversprechenden Décolleté übers Ohr hauen und sich den billigsten Schrapel zu horrenden Preisen andrehen - sie lechzten geradezu danach. Die Geschäfte liefen wie von selbst.

Das Radfahren hat mir gut getan, ich habe das Gefühl, als ob die Schmerzen in meinem Bein etwas nachgelassen haben.

Toby will das Haus nicht verlassen. Heute abend bleibt er auf seinem Stuhl hocken.
zuletzt bearbeitet 04.01.2009 19:02 | nach oben springen


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