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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Georges Perec

in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 20:11
von Taxine
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Die Dinge
Ein mir ebenso lieb gewonnenes dünnes Buch. Wo Perec mit "Das Leben - Gebrauchsanweisung" ein riesiges Monstrom an herrlicher Bildgewalt entfacht hat, steht hier ein kleines Denkgebilde, welches mich sehr beeindruckt hat.

Der Roman nennt sich im Untertitel "Eine Geschichte der sechziger Jahre", er ist jedoch sehr viel mehr als die bloße Bestandsaufnahme einer Epoche. Perec beschreibt die Dinge, die das Leben der Protagonisten Jerome und Sylvie ausmachen.

In Antwort auf:
Sie ließen sich, wie sie sagten, nur in Grenzen etwas vormachen.


Beide haben sie ihr Soziologiestudium aufgegeben und betreiben nun mit einigen wenigen Wissensbrocken aus der Psychologie und Soziologie Marktanalysen, zumeist in der Provinz. Aber die alles beherrschende Frage lautet, wie kommt man an das Geld, das scheinbar alle anderen so leicht verdienen, um sich die Dinge des Konsums leisten zu können, die Ausdruck gesellschaftlichen Erfolgs zu sein scheinen.

In Antwort auf:
Manchmal, wenn sie miteinander über ihr Leben sprachen, über ihre Gewohnheiten, ihre Zukunft, wenn sie in einer Art frenetischer Hingabe ganz und gar ihrem Wunschbild von einer angenehmeren Welt nachjagten, wurden sie sich mit etwas platter Melancholie bewusst, dass ihre Vorstellungen unklar waren. Der Blick, mit dem sie das Leben betrachteten, war verschwommen, und die Wachheit, auf die sie sich beriefen, oft genug beeinträchtigt von Schwankungen, Ungewissheit, Zwiespältigkeit, Kompromissen und allerlei Überlegungen, durch die ihr immerhin erkennbarer guter Wille gedämpft, verkleinert oder gar entwertet wurde.



Sie werden beherrscht von diesen Dingen, träumen von diesen Dingen, bewerten ihre Umgebung nach diesen Dingen, gleichzeitig wehren sie sich gegen die Allmacht der Konsumdinge.

In Antwort auf:
Sie lebten inmitten einer sonderbaren, sie umschmeichelnden Welt, im schimmernden Universum der kommerzialisierten Zivilisation, im Gefängnis der Wohlstandsgesellschaft, in der faszinierenden Falle des Glücks.


Das typische Gejammer, alles ist so einfach, dass ich gar nicht mehr weiß, woher ich meine Probleme nehmen soll… Beim Ausbleiben großer Katastrophen konzentriert man sich auf Nichtigkeiten!


In Antwort auf:
Wo waren die Gefahren? Wo die Bedrohungen? (… )
Der Feind war unsichtbar. Oder vielmehr, er war in ihnen, er hatte sie ausgehöhlt, unterminiert, von innen her angegriffen. Sie waren die Dummen der Geschichte. Gelehrige kleine Wesen, treuer Widerschein einer Welt, die sie zum Narren hielt. Sie steckten bis zum Hals in einem Kuchen, von dem für sie stets nur die Krümel abfallen würden.



In Antwort auf:
In dieser Welt, die soviel versprach und nichts hergab, war die Spannung allzu stark für sie. Ihre Ungeduld war am Ende.


Also beschließen sie die Flucht. Hinaus aus ihren Gewohnheiten, aus Paris, aus ihrem Land, ab in die Weite, um dort zu reifen?

In Antwort auf:
Sie waren froh, dass sie gefahren waren. Sie hatten das Empfinden, eine Hölle aus überfüllten Untergrundbahnen und zu kurzen Nächten, aus Zahnschmerzen und Ungewissheiten zu verlassen.



Freiheit, Flucht... und doch endet man bei sich selbst.

Man fühlt sich doch sehr an seine eigene Jugend erinnert, wo man unzufrieden und rebellisch war, sich nicht anpassen wollte, an den langweiligen Strom des Lebens, wo man Ideale aufrecht erhielt, die man selbst nicht befolgte, wo man klagte, um klagen zu dürfen. Der Weg der beiden Jugendlichen, die sich durch den langen Prozess der Anpassung an eine Welt der Äußerlichkeiten quälen, zeigt deutlich ihre Hilflosigkeit gegenüber einer verführerischen, aber hohlen Dingwelt. Die Flucht aus der Armut und Ziellosigkeit, in der sie glauben zu ersticken, stürzt sie in die endlose Langeweile, in die Abstumpfung einer verlorenen Hoffnung:

In Antwort auf:
Welt ohne Erinnerung, Welt ohne Gedächtnis. Noch mehr Zeit verfloss, öde Tage und Wochen, die nicht zählten. Sie kannten keine Gelüste mehr. gleichgültige Welt. (… ) Sie wussten nicht mehr, was sie wollten. Nichts gehörte ihnen mehr.



Im Zentralnerv ihres leer laufenden Lebens setzte sich etwas fest, was einer stillen, sanft wirkenden Tragödie glich. Sie waren verloren inmitten der Bruchstücke eines sehr alten Traums, inmitten von Trümmern ohne Form.
Nichts blieb. Sei waren am Ende, am Ausgang des ungewissen Verlaufs, den ihr Leben sechs Jahre lang genommen hatte, am Schlusspunkt der allen Entschlüssen ausweichenden Suche, die sie nirgendwohin geführt und nichts gelehrt hatte.

Dann der hoffnungsgeladene Entschluss zur Rückkehr in die Stadt, wo schnell wieder die Beklemmung befällt, der ewige Geldmangel, das Eingeengtsein. Der einzige Ausweg bleibt die Anpassung. Eine feste Anstellung, der geregelte Ablauf, nur die Speisen in der vorher so heiß ersehnten ersten Klasse im Zug in eine bessere Zukunft schmecken trotz der schmuckvollen Teller fad und langweilig.

Ende:
In Antwort auf:

Zur Wahrheit gehört nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muss selbst wahr sein, die wahre Untersuchung ist die entfaltete Wahrheit, deren auseinandergestreute Glieder sich im Resultat zusammenfinden.

KARL MARX

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#2

RE: Georges Perec

in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 20:12
von Ferro
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Von Perec hat mir "Das Leben - Gebrauchsanweisung" so gut gefallen, dass ich es hier auch kurz vertiefen möchte. Du hast ja "Die Dinge" schon schön zusammengefasst, und ich kann mir gut vorstellen, dass Perec hier die Erfahrungen mit seiner Frau, mit der er eine Weile in Tunesien gelebt hat, in winzigen "Wahrheiten" offenbart hat. Aber zurück zum MONSTRUM "Das Leben". Diese Vielfalt an Bildern, diese "Idee" hier einfach in jedem Raum eine andere Geschichte hineinzupacken, diese Beschreibungen bis in die winzigsten Ecken, haben mich sehr beeindruckt.
Auch fügt sich alles, man verliert nichts aus dem Blick.

Das Buch wurde früher mit einem Puzzle verkauft, da der ganze Roman so aufgebaut wurde und die Geschichte grob davon handelt. Perec springt hier in einem riesigen Pariser Miethaus von Wohnung zu Wohnung.

Das Auge folgt den Wegen, die im Werk für es angelegt worden sind.
(Paul Klee)

Ja, genau so empfindet man es. Man lässt sich einfach treiben, den Schriftsteller berichten, folgt ihm von Raum zu Raum. Es gibt keine ganze Geschichte, nur unzählige kleine, manchmal auch in Verbindung miteinander. Aber jede mit unendlich dichtem Inhalt, ein Spiel, das es zu entziffern gilt, Zeitungsberichte, Erinnerungen, Möbelstücke, manchmal reihen sich unzählige Beschreibungen aneinander, Marktschreier, die in endloser Aufzählung einfach nur ihre Ware anpreisen, Einkaufszettel, Rezepte, hin und wieder schreiende Banalitäten, schlichtes Aneinanderreihen von Namen und Umständen, die vom Leser ordentlich Geduld abverlangen; es ist, als reihte sich hier ein Rätsel an das nächste. Perec ist ja bekannt für seine Wortspielereien.
(Er war Mitglied der Gruppe OULIPO (Werkstatt für "potentielle Literatur"), die ihre Werke formalen Zwängen unterwarf, indem sie z. B. bestimmte Buchstaben wegließ.)

Mittig befindet sich eine Auflistung an Begebenheiten, die, wenn man hin und her blättert, alle die Zusammenfassung jeweiliger Berichte sein könnten, aber nicht müssen. Dazwischen sind Absurditäten und Trivialitäten gestreut.

Wenn man keine Story erwartet (außer den groben Umriss eines Mannes, der überall auf Reisen Aquarelle malt, diese von einem Puzzlehersteller zerlegen lässt, um sie dann wiederfinden zu können und wieder zusammenzufügen), wenn man sich vorstellt, man schlenderte durch eine Galerie, in der sich ein altes Gemälde an das nächste reiht, wenn man sich mit winzigen Einblicken zufrieden geben kann, die aber ein Hochgenuss an Bildhaftigkeit und Sprache bilden, dann ist das Buch genau das richtige für lange Nächte der Leserei.

Perec war übrigens auch Filmemacher. Sein erster Film basiert auf sein Buch "Ein Mann, der schläft" und gewann 1974 den Prix Jean Vigo.

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#3

RE: Georges Perec

in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 20:14
von Ferro
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Perec beschäftigt mich immer wieder. Überhaupt zu diesen "Vernichtungen im Wort" zu greifen, nicht einfach nur zu schreiben, sondern ein verstecktes Spiel daraus zu formen. Es gibt eine Geschichte von ihm, wo er das "e" nicht verwendet. Es ist etwas knapp im Wort, aber erstreckt sich über mehr als 200 Seiten. Das ist für mich unglaublich, gerade, wenn ich mir die Arbeit dahinter vorstelle.
Großartig. Bewundere ich, weil so viele einfach nur erzählen wollen, die Sprache aber so viele Möglichkeiten birgt.
Muss man vertiefen.

Grüße an alle
Ferro

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