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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 06.03.2009 14:07
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja, sprechen wir über Jewgeni Jewtuschenkos Beerenreiche Gegenden, lassen wir uns vom Russischen, von den ewigen Weiten verführen.

Jewgeni "Shenja" Jewtuschenko hat seit über einem halben Jahrhundert eine nicht unumstrittene Gratwanderung gewählt, einen Weg zwischen Popularität und Schmähung, zwischen Volkskunst und Elitebewusstsein, heißt es über ihn. Er wurde 1933 in der Nähe von Irkutks geboren und ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Dichter.

Ich wollte einen allumfassenden Roman schreiben, sagt Jewtuschenko selbst über seinen ersten Roman.

Nun dann, blicken wir tiefer:
„Ein Engel flog singend durch Himmelsgefild…“ klingt eine Gedichtszeile von Lermontow durch den Kopf des Kosmonauten, der hinterfragt, ob er, nun im All schwebend, mit einem Engel vergleichbar wäre. Unter ihm wird alles kleiner, alles verschwindet.
In Antwort auf:
Und plötzlich gab es keine Landesgrenzen mehr. Sämtliche geringelten Schlagbäume, umgepflügten Niemandslandzonen, Stacheldrahtverhaue, Grenzposten, Schäferhunde, Zöllner waren verschwunden. Vom Kosmos aus betrachtet, erschien ihre Existenz widernatürlich, absurd. Vieles war geradezu lächerlich unvorstellbar geworden, so zum Beispiel das Wort „Aufenthaltsgenehmigung.


Was für ein Einstieg. Jewtuschenko führt uns von der Erde weg, während sein Kosmonaut sich an das Leben auf der Erde erinnert. Doch ihm ist nun eine andere Perspektive möglich. Er erinnert sich zunächst an Gagarin, dann an seine Frau, dann an die Literatur, den Wert der Literatur. Er hat Ziolkowskis „Leid und Genie“ dabei (hier handelt es sich übrigens um Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski) und resümiert nun über all die Großen, von Schöpfer des russischen Volkes Puschkin, der in er modernen Welt Mann und Kind zu gleich wäre, von Dostojewskij, den er früher immer ein bisschen „wirr und unangenehm empfunden“ hat…
In Antwort auf:
„Aber warum, so überlegte er, soll Literatur eigentlich angenehm sein? Ist sie denn zur Zerstreuung da?“

… erinnert an Bulgakow, Garcia-Marquez, all diese unsterblichen Romanfiguren
In Antwort auf:
Die Schriftsteller haben erreicht, was die Medizin nicht vermocht hat: Sie haben die Unvermeidlichkeit des Verschwindens besiegt.

… und gelangt zum Volk (Dieses Wort, ziemlich beschmutzt, abgenutzt und oft genug missbraucht, war gleichwohl ein mächtiges Wort. Ein Wort, das man nicht zu oft aussprechen, das man denken sollte), den Wert des Volkes.

Ich sehe schon, dass hier ein Philantrop am Werke ist, ein Schriftsteller, der sich die Mühe macht, den Menschen zu betrachten, ohne ihn zu verurteilen, sondern eher mit Liebe zur Menschheit.
In Antwort auf:
Die in ihren Katen, Baracken, Gemeinschaftsküchen und Genossenschaftswohnungen mit Guckloch in der Tür isolierten Menschen vergessen manchmal, dass sie ein Volk sind und dass es einen historischen Faden gibt, der sie bei aller Zersplitterung, Isolation, Entfremdung zu einem Ganzen verbindet. Ein Volk muss daran erinnert werden, dass es Volk ist. Der Krieg tut das, aber dieser Preis ist zu hoch. Auch die Literatur tut es.

In Antwort auf:

(…) Die Literatur erinnert das Volk, dass es ein Volk, un die Menschheit, dass sie die Menschheit ist.


In Antwort auf:
Ziolkowski hat es gut gesagt: „All unser Wissen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist ein Nichts im Vergleich zu dem, was wir niemals wissen werden“. Das ist nicht traurig, das ist schön.
Wenn es die Unendlichkeit des Unerreichbaren gibt, hat auch das Wissen Hoffnung auf Unendlichkeit. Der Mensch hat auch diese Hoffnung, denn Mensch – das ist Wissen, welches sich seiner selbst bewusst wird. Die höchste Vernunft des Alls ist nichts, was losgelöst vom Menschen existierte. Der Mensch ist ihr Bestandteil. Möglicherweise sogar der wichtigste.


Und tatsächlich gelangt der Kosmonaut zu der Auseinandersetzung zwischen Körper und Geist:

In Antwort auf:
Bei wie vielen Menschen wird die geistige Gesundheit von der physischen ruiniert. In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist. Stimmt das? dachte der Kosmonaut und lachte bitter auf. Sportlichkeit, die den Körper kräftigt, aber die Seele zerstört. Millionen Menschen in verschiedenen Ländern stemmen Hanteln oder joggen. Kommen sie aber auch auf den Hilferuf eines anderen angelaufen?

Wenn hinter dem Körperbewussten die Nächstenliebe verpufft... Man könnte hier doch Überlegungen anstellen. Die Gesellschaft wird auf Schönheit, Körperbewusstsein, Jugend getrimmt, nicht mehr auf Menschlichkeit, der Kult des Körpers wird durchaus über den Geist und das Herz gestellt. Dass dieser darunter leidet, ist verständlich, denn wer ständig nur das Äußere stählt, wird keine Zeit finden, das Innere zu pflegen. Zudem verliert es an Wichtigkeit. Wie oft erlebt man Menschen, die sich mit ihren Körpern messen, die sich ihre Mängel und Nachteile vorwerfen, diese seltsame Eitelkeit, die überall Gang und Gebe ist, als käme es darauf an, wie gerade deine Nase ist oder wie wohlgeformt dein Hintern. Selten kommt der Vergleich zu Geist und Denken, es sei denn, von Denkern, die ihr Wissen messen, was genauso dumm ist.
Stellt man sich den einfachen Bauern irgendwo in Sibirien vor, wird der Körperkult noch lächerlicher. Vielleicht ist es ein Stadttrend, dieses um den Körper Konkurrieren, um dann in den Abendstunden in grell erleuchteten Räumen zu sitzen und sich einander steif und zusammengeflickt zu präsentieren. Überhaupt den Körper über alles zu stellen, ausgerechnet den, der zerfällt. Darum gibt es so viele Schönheitsoperationen, weil im Kopf längst verrückt steht, worauf es ankommt, dass das Gesicht ohne Mimik immernoch glaubt, es sei so jung und schön, wie vor dem Schnitt, dem Hautziehen über den Schädel, dass sich das Gift langsam in der Stirn verteilt, um die Falten nach außen zu stülpen. Das Ganze ist schon wahnsinnig, man möchte sich nicht vorstellen, wie sehr der Trend weiter in diese Richtung geht, wie viele Gesichtslose am Ende übrig bleiben und einander ständig anlächeln, ohne, dass sie lächeln.

Hier zeigt sich, was dem Kosmonauten gut aus seiner jetzigen Sicht bewusst wird:

In Antwort auf:
Von der Erde auffliegen genügt nicht, es kommt darauf an, mit was für Gedanken. Sonst sind wir nur Hunde im Kosmos.


Was für ein Satz. Herrlich! Sonst sind wir nur Hunde im Kosmos. Und dann direkt weiter:
In Antwort auf:
… ja, Hunde, das ginge noch an, aber es könnten auch Schweine in den Kosmos gelangen. Gefährlich wären bewaffnete Schweine, die mit ihren Rüsseln die Wurzeln der Galaxien unterwühlen.


Im Buch schimmert viel von Dostojewskijs Auseinandersetzung mit dem Menschen durch. Das Volk, das Bewusstsein im Menschen, die Aufgabe des Menschen in der Welt. In der russischen Literatur tritt diese Überlegung häufig und stark emotional auf. Sie ist eine ständige Frage des „Was können wir tun, um gute Menschen zu sein?“

Und vom Mensch zu Technik, angewandte Technik, wohin geraten wir dann? Mit der Musik im Hintergrund „Wie einfach ist es, wenn man Schuld nicht hat, statt dessen ist man nur Soldat“… muss der Kosmonaut feststellen:
In Antwort auf:
Die Menschen haben an Gott geglaubt, an den Zaren… All das ist zerbrochen. Gleichwohl lässt sich der Glauben nicht durch Wissen ersetzen. Die Wissenschaft verträgt sich durchaus mit der Ungebildetheit der Seele. Ehe man denkende Maschinen schafft, sollte man eine Ethik der denkenden Maschinen schaffen. Sonst werden sie zu gebildeten Mördern. Aber wer speist das ethische Programm in die Maschinen ein, wenn deren Schöpfer keinen moralischen Rückhalt haben? Genie und Verbrechen schließen sich gegenseitig aus.

Und darunter gab es Menschen „die für jede Macht arbeiten würden, wenn sie nur eine Macht ist.“
Der Glaube ist wichtig, doch schlimm sind die, die ihn nur heucheln, die dafür töten oder darüber hinaus nicht weiterdenken, die glaubten, woran es im jeweiligen Moment zu glauben galt, die in dieser Heuchelei auch noch zu überzeugen suchten, „wo sie selbst von nichts überzeugt waren“.

In Antwort auf:
Zynismus erzieht zu verbrecherischer heiliger Einfalt, die bereit ist zu töten.


Der Kosmonaut kommt zu dem Schluss, dass es Glauben gepaart mit Wissen braucht. Das heißt, man soll nicht blind glauben, sondern über seinen Glauben bescheidwissen. Man soll nicht bedingungslos an Russland glauben, denn
In Antwort auf:

Jeder Nationalismus ist unmenschlich. An das eigene Land zu glauben, losgelöst von der Menschheit, das geht nicht. Daher kommen Kriege oder sonstiger Wahnsinn.


In Antwort auf:
(…) Bevor man einen Glauben an irgendwas schafft, muss man einander glauben.


Man müsse nicht die Mörder vernichten, sondern die „Möglichkeit des Auftauchens von Mördern“. Schön, wie der Kosmonaut den Vergleich mit dem Weltraumschiff anführt, wo es unmöglich wäre, wenn die Besatzung einander bekämpfen würde.

Was für ein Buch. Direkt schlägt mein Herz, ich kann noch gar nicht sagen, warum. Diese Betrachtung, die Jewtuschenko als Epilog gestaltet, diese Perspektive von oben macht das Handeln von Mensch und "Erde", diese vielen Unsinnigkeiten (die Grenzen, die verschwinden und keine Bedeutung mehr haben) erkennbar. Danach wechselt die Geschichte.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 06.03.2009 15:27 | nach oben springen

#2

RE: Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 06.03.2009 17:51
von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo Taxine,

Der Einstieg hat mir auch sehr gefallen. Als Sowjetbürger konnte der Kosmonaut niemals über die Landesgrenzen hinauskommen, aber im Weltraum erlebt er die Grenzenlosigkeit. Auch der Blick auf die Erde verwischt die Landesgrenzen, mal sieht er die Lichter von Paris, mal London. Darum wirkt dann der Begriff "Aufenthaltsgenehmigung" albern und fremd. Nur in den Köpfen der Menschen spuken die Grenzen.

Sehr schön fand ich:
In Antwort auf:

Gagarins Gesicht war das in den Kosmos entsandte Lächeln der Erde.


In diesem Satz erspüre ich den Anflug grenzenloser Freiheit, weil sich ein Mensch in den Kosmos erhebt und endlich befreit in Grenzenlosigkeit ist. Der kleinkarierte Sowjetgedanke verliert aus der kosmischen Sichtweise jegliche Bedeutung. das sind so meine Assoziationen hierzu.

Zitat von Taxine
resümiert nun über all die Großen, von Schöpfer des russischen Volkes Puschkin,


Ja, mit Puschkin fing alles an.

In Antwort auf:
In Rußland ist das Volk selbst in vielerlei Beziehung von einem Schriftsteller geschaffen worden - Puschkin. Doch wenn es in uns etwas schlechtes gibt, ist dann nicht Puschkin Schuld.


Diese Puschkinverehrung ist ja echt russisch. Was aber jewtuschenko jetzt sagt, ist eben dies, ein Volk hat eben für alles eine moralische Verantwortung. Christus trägt ja auch nicht die Verantwortung für die Kreuzzüge. In Bezug auf die Sowjetunion kann man auch sagen, Karl Marx trägt für den Leninismus/Stalinismus keine Verantwortung. Vielleicht wollte Jewtuschenko gerade dieses vermitteln, versucht es aber auf Nebenwegen, damit sein Roman nicht zensirt wird. Das kann doch sein, nichtr wahr?


Zitat von Taxine
Wenn hinter dem Körperbewussten die Nächstenliebe verpufft... Man könnte hier doch Überlegungen anstellen. Die Gesellschaft wird auf Schönheit, Körperbewusstsein, Jugend getrimmt, nicht mehr auf Menschlichkeit, der Kult des Körpers wird durchaus über den Geist und das Herz gestellt.


Es hat den Eindruck, das Jewtuschenko auf solche Überlegungen hinaus will. Er kritisiert ja ganz offen die eiserne Gesundheit des Körpers an. In der DDR wurde Sportlern gedopt, weil der Staat das wollte. Folgeschäden waren die Folge.Was nützt uns ein gestählerter Körper, wenn unsere Seele eisern ist. So in etwa sagt er. Bemerkenswert finde ich, dass er, der sich in einem Kommunistischen Land befindet, ein Zitat aus der Bibel anführt ("Du sollst deinen Nächsten lieben...").

Ich sehe hier eine schon eine Kritik an dem Sowjetstaat. All diese schönen Gedanken...Ja. In einem Korintherbrief (das steht aber nicht im Roman) heist es, wenn man alles hat, aber die Liebe nicht, so taugt man auch nichts (frei zitiert). Daraus will Jewtuschenko hinaus. Es kann auch darauf hinauslaufen: Was nützt der Sowjetunion die Aufmaschiererei und das zur Schau stellen ihrer Kriegswaffen, was nützt das alles? Kriegsmaschinerie ist lieblos.

Diese Gedankenspinnerei macht mir großen Spaß.

Ich bin auch gespannt, was da noch kommt...

Liebe Grüße
mArtinus



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 06.03.2009 18:18 | nach oben springen

#3

RE: Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 10.03.2009 13:09
von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo Taxine,

ich weiß nicht, ob ich mich in einer Lesekrise/Lesehemmung befinde, oder ob ich in letzter Zeit Fehlgriffe mache, was die Bücherwahl angeht. So konnte ich bisher mit Léo Malet nichts anfangen, (ich dachte, ein kurzer Krimi, wäre mal was) und bei Jewtuschenko bin ich mir nicht sicher, ob es nicht doch nur mir liegt, oder vielleicht doch an dem ehrenwerten Russen, dass ich, was den Faden des Romans angeht, hier wieder auf den Schlauch stehe (bei Hamsun hatte ich den Faden ja gerade noch gefunden). Gewisse Zweifel hege ich an mir selbst,*) denn der Epilog hat mir außerordentlich gefallen, darum bin ich ja etwas betroffen, weil ich dachte, es geht irgendwie so weiter. Nun bin ich im 12. Kapitel, ich weiß zwar, dass die Geologen sich auf Expeditionsfahrt begeben haben, weiß aber nicht warum...?

Einige interessante Gedanken kann ich dem Roman aber trotzdem abgewinnen, zum Beispiel die Ausführungen über "Sünde" im dritten Kapitel.

Zitat von Jewtuschenko
Es heißt, die größte Sünde ist Töten. Ich war an der Front und habe getötet....und fühle mich kein bißchen sündig, denn sie waren Feinde, und wenn ich nicht sie, dann hätten sie mich getötet. Und wenn schon Blut keine Sünde ist, wie sollte es Sünde sein, wenn Mann und Frau beieinander liegen? Wer könnte Richter sein, der bestimmt, ob das Sünde ist oder nicht? Gott? Wenn es ihn gibt, hat er selber die Hände bis zum Ellbogen voller Blut und kann über solche Dinge wie die Liebe nicht richten.


Jewtuschenko vertritt hier die Meinung, allein der menschliche Verstand ohne ein schlechtes Gewissen zu haben (Sünde) entscheidet, was zu tun ist. Krieg ist schrecklich, trotzdem ist des doch Notwehr, wenn man sich verteidigt. Trotzdem bleibt Krieg problematisch, weil Soldaten mit Kriegstreiberei und mit leichter Gehirnwäsche darauf vorbereitet werden, den Feind zu töten. Das von Jewtuschenko angesprochene Problem findet hier keine zufriedenstellende Lösung. Es bleibt letzendlich alles offen. Wenn dem Soldaten erst im Schützengraben einfällt, wie brutal und sinnlos ein Krieg ist, dann ist es reichlich spät. Jewtuschenko will warscheinlich nur weg von dem Moralbegriff "Sünde". An dieser Stelle begegnen wir auch das, woran viele Menschen denken: Warum lässt Gott überhaupt einen Krieg zu? Kann er überhaupt eingreifen? In dieser Beziehung zeigt sich Gott offenbar machtlos, deswegen sagt Jewtuschenko, seine Hände seien bis zum Ellbogen voller Blut...

Liebe Grüße
mArtinus

PS: *) Vielleicht kann mir jemand mein Selbstbewusstsein stärken



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 10.03.2009 13:18 | nach oben springen

#4

RE: Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 10.03.2009 17:47
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ach, liebester Martinus, solche Phasen gibt es, da kann man sich auf keine einzige Zeile konzentrieren, ist unruhig oder mit dem Kopf nicht dabei. Das kenne ich gut. Ich lasse dann immer etwas Ruhe einkehren oder blättere in Gedichten oder Tagebüchern.

Jewtuschenkos Buch gefällt mir sehr. Wir treffen auf verschiedene Menschen, die aber letztendlich alle miteinander verwoben und verbunden sind. Wir werden in die Urgegend geführt, in die sibirischen Weiten, jenseits der Stadt, wo der "einfache Mensch" lebt. Hier treffen verschiedene Charaktere aufeinander, geschäftstüchtige, bösartige, gierige, naive, menschlich schöne (wie z.B. der Pilzsammler, wo Tichon vor sich hinbrummt:
In Antwort auf:
"Wenn ich kein Schriftsteller bin und kein Maler, was kann ich dieser Wolke hinzufügen, da ich keine Bücher schreibe und keine Bilder male?"
"Ein Lächeln, Tichon Tichonowitsch, Ein Lächeln", antwortete der Pilzsammler sanft.

Solche Szenen gibt es haufenweise, diese kleinen Hinweise, diesen herrlichen Bauernweisheiten, die so viel Tiefe schaffen und zum Denken bewegen.
Da ist die Gruppe der Geologen, die die Stadtmenschen, die modernen Menschen darstellen, darunter der junge Serjosha, der Student, der all das auf sich wirken lässt und lernbegierig ist, der zu den einfachen Dingen zurückfindet, weil er auf gute Menschen trifft, da ist der gute Kescha mit seinem Buckel, der mit seiner Zuneigung kämpft, da ist der ehrgeizige Kolomejzew, der für seine Forschung über Menschenleben geht, der nicht fähig zur Liebe ist, ohne es zu wissen. Die Geologen sind übrigens auf der Suche nach einem wertvollen Kassiterit, das sie finden müssen, um ihre Forschungsreise weiter finanziert zu bekommen. Diese Suche danach ist der Grundstoff für die Konflikte, die Gefühlskälte Kolomejzew den Frauen gegenüber, die Überlegungen von Serjosha, die Liebe zwischen Kescha und seiner Angebeteten... usw.
Dem gegenüber stehen der Beerenbevollmächtigte Tichon Tugich, der knurrige Grischa, der alte Iwan und seine Tochter, der Pilzsammler Barchotkin (dessen Vergangenheit ich toll fand, der Maler, der das Malen aufgab) und andere Dorfbewohner. Jewtuschenko führt uns von jeder Person zu einer Geschichte, wir sehen, was geschehen ist und warum die Charaktere so geworden sind. Dahinter flackert das dostojewski'sche oder besser gesagt russische Thema, der Konflikt: Russische Tradition oder westlicher Fortschritt.
Serjoshas Vergangenheit wird durch seine Studentenerlebnisse dargestellt, diese ganze Truppe junger Amerikaner, mit denen er zum ersten Mal in die sibirischen Weiten kommt, wo dann das Altmodische auf das Neumodische trifft, wo die Einheimischen den lauten, jungen Menschen gegenüber weniger Vorurteile haben, als umgekehrt, wo sie miteinander reden, denn in der Welt sind sie doch alle mit den gleichen Problemen konfrontiert.
Ein amerikanisches Mädchen sagt:
In Antwort auf:
Wer einen Menschen tötet, wird eingesperrt. Wenn ganze Völker getötet werden, warum laufen dann die Schuldigen frei herum?


Oder an anderer Stelle der „junge Dichter“:
In Antwort auf:
Dostojewski schrieb, die besten Ideale der Menschheit seien nicht die Tränen eines unschuldig gequälten Kindes wert. Und er hat gesagt: „Alle sind schuld an allem!“
Wer sich selbst einredet, der Krieg wäre unvermeidlich, drückt sich feig vor der eigenen Schuld.


Da ist ein Aufruf, über die Dinge noch einmal nachzudenken, sie nicht zu nehmen, wie man sie aus seiner Sichtweise kennt, wo der naive Bauer auf den intellektuellen Stadtmenschen trifft, und beide einander erkennen müssen, wo der Städter seine Sicht kennt, aber nicht die des Bauern, wie auch umgekehrt, während beide mit ihren Ansichten auf ihre Weise leben.
Serjosha fragt sich, was den schlechten und den guten Menschen ausmacht, sieht drei verschiedene Menschen, die trotz ihrer guten Eigenschaften wie Mut, Fleiß oder der Respekt vor fremdem Eigentum trotzdem die Menschen verachten. Er fragt sich:
In Antwort auf:
Aber was ändern Ehrlichkeit in Gelddingen, physischer Mut und Fleiß, wenn die Menschen Zyniker sind?

Und dann:
In Antwort auf:
Gute Menschen, die sogenannte nicht ganz und gar schlechte Menschen tolerieren, können selber nicht ganz und gar gut sein.

Das ist eine sehr idealistische, wenn auch schöne Sicht. Menschen, die etwas Gutes in sich bergen und das Schlechte selbst tolerieren, können nicht ganz und gar gut sein.
Aber, all das läuft letztendlich auf dasselbe hinaus. Ganz gut oder ganz schlecht gibt es nicht. Etwas färbt in einer Begegnung immer ab, fließt zwischen den Menschen, wobei es an ihnen liegt, darüber zu reflektieren und eine eigene Moral zu entwickeln.

Mich selbst umfängt in diesem Roman sofort diese russische Stimmung, diese Gastfreundlichkeit, die schönen Gespräche. Der Mensch im Kampf mit der Modernität, mit Fortschritt und neuer Schnelligkeit. Und dahinter immer der Versuch, nach Lösungen zu suchen, das Menschliche zu erhalten.

In der Überlegung des alten Iwans wird das gut verdeutlicht:
In Antwort auf:
Wie viele Grausamkeiten sind auf der Welt von keineswegs grausamen Menschen im Jähzorn begangen worden. Eine gute Sache kann zur Grausamkeit werden, nie aber wird eine Grausamkeit zu etwas Gutem.

oder
In Antwort auf:
Iwan grübelte, warum die Menschen sich scheuten, ihre Güte zu zeigen, als ob die Güte eine beschämende menschliche Schwäche wäre. Menschen möchten stark, frei von Selbstzweifeln, ohne Mitleid sein, dabei sind Selbstzweifel und Mitleid mit anderen vielleicht die größte, menschliche Stärke.

Der schnelle Strom der Zeit, mit seinen Moden und Trends fordert den Menschen auf, stark und selbstbewusst zu sein. Hinter diesen Eigenschaften wird, wie schon zuvor im Beispiel mit Körper und Geist, das Menschliche vernachlässigt. Für Schwächen muss man sich nicht schämen, denn sie machen den Menschen aus. Für das eiskalte Steigen über die Rücken anderer genügt nicht einmal die Scham. Da ist etwas endgültig vernichtet.

In Antwort auf:
Gewissensbisse gibt’s verschiedene: manche winzig, kurzzeitig, andere größer, länger während. Aber man grabe in jedem beliebigen nach, und man wird stets mindestens eine alte Schuld finden. Nicht dass der Mensch dauernd daran dächte, was er sich vor langer Zeit hat zuschulden kommen lassen, aber die Schuld wandert durch den Körper wie ein Granatsplitter und kann jederzeit losstechen, wann, weiß niemand.


Ha, und endlich sehe ich, von wem ein mir bekanntes Zitat ist, von Jewtuschenko also:
In Antwort auf:
Die Menschheit teilt sich in drei Kategorien: die die "Brüder Karamasow" gelesen haben, die sie noch nicht gelesen haben und die sie niemals lesen werden.

Herrlich. Und eine vierte dann noch: Die, die den Film gesehen haben. Hier wurde mir übrigens deutlich, dass neben der subjektiven Wahrheit tatsächlich auch die konstruierte existiert, denn der Satz ist so, wie er formuliert ist, unmißverständlich richtig. Das war sehr einleuchtend.

Liebe Grüße,
Taxine



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 10.03.2009 18:42 | nach oben springen

#5

RE: Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 24.12.2011 12:48
von Wolf • 2 Beiträge

Hi Taxine,

Da ich gerade auf der Suche nach Monologen für die Aufnahmsprüfungen an Schauspielschulen bin, habe ich in der Absicht einen "modernen kritischen" Monolog zu finden, mir dieses Buch ausgeliehen. Meine Frage: Gehört dieses Buch überhaupt dieser Gattung an? Ich konnte kurioserweise nirgendwo diese Info finden. Offenbar such ich falsch. ;D Da du das Buch schon gelesen hast, könntest du mir vielleicht verraten, ob es im Buch einen brauchbaren Monolog gibt? Als Figur bräuchte ich einen eher jüngeren Mann. Kann zwischen 18 und 30 sein. Wäre großartig wenn du mir helfen könntest. :)

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#6

RE: Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 24.12.2011 13:53
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Hallo Wolf,

in Jewtuschenkos Werk gibt es durchaus einige kurze Monologe, die sehr tiefsinnig sind und sich kritisch mit der menschlichen Entwicklung und dem Sein auseinandersetzen, allerdings nicht am Stück, denn es handelt sich doch eher um einen beschreibend erzählenden Roman mit vielen Figuren. Auch würde ich nicht unbedingt sagen, dass dieser Roman modern ist, es sei denn, man anerkennt die Suche nach Menschlichkeit immer als modern (was ich für mich persönlich natürlich tue). Er ist eher traditionell geschrieben. Einen durchgehenden Monolog, den du sprechen kannst, wirst du darin eher nicht finden, ohne ihn umschreiben zu müssen. Es gibt schöne Gespräche und Gedanken, die im Miteinander geäußert werden, aber doch eher selten den inneren Monolog. Zumindest kann ich mich daran nicht erinnern.

Moderne Monologe... hm... da könnte ich die Andrej Bitow empfehlen, sehr philosophisch, z. B. "Die Vögel" oder die lange Version: "Mensch in Landschaft". Der philosophiert und philosophiert und ist dabei sehr sprachgewaltig.
Oder kritisch: wie wäre es mit Thomas Bernhard? Der schimpft so herrlich in ewigen Monologen...auf Gesellschaft und Mensch und alles andere.
Christoph Bauer "Jetzt stillen wir unseren Hunger" hat einen schönen (hin und wieder zynischen) Roman-Monolog verfasst, darin könntest du auch einige kritische Auseinandersetzungen mit Welt und Gesellschaft finden. Das sind einige Werke, die mir spontan einfallen.

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 24.12.2011 13:57 | nach oben springen

#7

RE: Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 24.12.2011 14:10
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von Taxine

Oder kritisch: wie wäre es mit Thomas Bernhard? Der schimpft so herrlich in ewigen Monologen...auf Gesellschaft und Mensch und alles andere.



An Thomas Bernhard dachte ich auch. Wäre auch geeignet, den Monolog schauspielerisch auszukosten, z.B. seine Lästereien über Salzburg im ersten Teil seiner Autobiografie. Köstlich. "Leutnant Gustl" von Schnitzler, oder Patrick Süßkind "Der Kontrabass" wäre wohl schon zu bekannt, weil diese Ein-Mann-Stücke schon oft aufgeführt wurden, der Gustl natürlich nicht modern. Aber wie wäre es mit Fritz Zorn: Mars, darin "böse" kritische Passsagen enthalten sind.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 24.12.2011 14:11 | nach oben springen

#8

RE: Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 24.12.2011 14:39
von Wolf • 2 Beiträge

Danke, dann stoppe ich erstmal das Lesen. hehe
Wow gleich so viele Vorschläge. Vielen Dank, ich werde mir die Bücher gleich mal checken. :)

Ich möchte nicht allzusehr vom Thema abschweifen, aber ich bin zudem noch auf der Suche nach einem naturalistischen oder realistischen Monolog. Hättet ihr da vielleicht auch noch spontane Vorschläge?

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#9

RE: Jewgeni Jewtuschenko

in Die schöne Welt der Bücher 28.12.2011 17:53
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Hallo Wolf, könntest du das etwas genauer beschreiben? Naturalistisch wie Zola, Strindberg und co? Realistisch? (Wie weit darf es denn zurückreichen... in der Zeit?) Es gibt sogar Naturalistisch-Realistisch...




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 28.12.2011 18:31 | nach oben springen


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