HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
|
Hallo liebe Leser,
Vladimir Nabokov hat mehr geschrieben als seine "LOLITA".
Vladimir zählt zumindest für mich zu den wunderbarsten, großartigsten Autoren der Weltliteratur, des 20. Jahrhunderts sowieso. Seinen Erstling "Maschenka" halte ich schon für ein großartiges Werk. Hätte er nur dies geschrieben, wäre er auch berühmt.
Einige wenige Gedanken zu "Gelächter im Dunkel", habe ich aus meinen älteren Rezenzierzeiten wieder zu Tage gefördert.
Da mag man sich wundern und seiner Fantasie freien Lauf lassen warum Nabokov sich in diesem Roman einer ungewohnt einfach gängigen Sprache bedient. Schließlich ist man anderes gewohnt. In der Biografie von Boris Nossik las ich, Nobokov habe über die dümmsten amerikanischen Filme Tränen gelacht. Kino war auch damals im Berlin der zwanziger Jahre vorigen Jahrhunderts gute Unterhaltung für das Volk, jeder ging ins Kino und jeder sollte „Gelächter im Dunkel“ lesen, das seine große Liebe zum Film Tribut zollt.
Der Roman spielt im Künstlermilieu. Albinus, ein verheirateter wohlhabender Bildrestaurator um die dreißig, verliebt sich in die noch nicht achtzehnjährige Margot, eine gerissene Göre, die ihn schamlos ausnutzt. Als sie auf ihren früheren Geliebten Rex trifft, einen berühmten aber armen Künstler, treiben sie ein böses Spiel mit Albinus.
Albinus begegnet Margot erstmals im Kino:
„Er hatte die Dunkelheit kaum betreten, als der ovale Strahl einer Taschenlampe auf ihn zuglitt...Gerade als das Licht auf die Eintrittskarte in seiner Hand fiel, sah Albinus das geneigte Gesicht des Mädchens.“
Nun heißt der Roman im Russischen „Camera Obscura“. Das ist eine dunkle Kammer, in die durch ein Loch, in welches eine Linse angebracht sein kann, ein Lichtstrahl fällt und so auf der gegenüberliegenden Seite ein spielgelverkehrtes Abbild projeziert wird, welches auf dem Kopf steht. In gewisser Weise sieht auch Albinus das Mädchen Margot verkehrt herum, nicht so, wie sie ist, weil er ihre bösen Absichten nicht erkennen kann und nicht einmal merkt, wie er verhöhnt wird.
Nabokov parodiert in diesem Roman das Filmmelodram. So wird aus der tragischen Dreiecksgeschichte eine ins Groteske verzerrte Komödie, die so unwirklich scheint, als rolle sie von einer Filmspule ab. So hat der Roman mir oft genug mein Zwerchfell geschunden. Da traut er sich nicht, im Kino Margots Blicken zu begegnen,
„weil es wehtat hinzuschauen und weil er daran denken mußte, wie viele Male Schönheit – oder was er Schönheit nannte – an ihm vorübergegangen und verschwunden war.“
Amüsieren wir uns wie im Kino.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 22.10.2011 15:35von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Martinus
Amüsieren wir uns wie im Kino.
Ah... das gibt natürlich Sinn, darum ist auch alles so übertrieben, wie u. a. das Ende, dieses Finale par excellence (nach Kino-Bedingungen).
Art & Vibration
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 22.10.2011 18:55von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Martinus
In der Biografie von Boris Nossik las ich, Nobokov habe über die dümmsten amerikanischen Filme Tränen gelacht.
Sach mal, Martinus, wie gut oder ausführlich ist diese Biografie? Gibt sie einen guten Überblick über sein Leben?
Eine Biografie über ihn würde mich doch interessieren, da ich so gut wie überhaupt nichts über Nabokov weiß. Da gibt es ja einige Bücher über ihn, besonders die beiden dicken Exemplare von Brian Boyd scheinen ausführlich zu sein. Von Maar gibt es auch noch "Solus Rex"...
Art & Vibration
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 22.10.2011 19:32von Martinus • 3.195 Beiträge
werte Taxine,
ich habe nur wenig aus der Biografie von Boris Nossik gelesen. Aber, als ich von Dieter E. Zimmer den Verriss Meisterwerk der Schluderei gelesen habe, hat dieses Buch meinen Bücherbestand verlassen. Die Biografie von Brian Boyd kannste mir zu Weihnachten schenken (kleiner Spaß). Ich habe einiges darüber gelesen, es soll das Beste sein, was es zur Zeit über Nabokov gibt. Diese teure Angelegenheit lohnt sich bestimmt.
Aus "Gelächter im Dunkel" suche ich noch ein anderes Zitat, welches sich auf das Kino bezieht. Es ist schon verrückt. Vor diesem Roman hat Nabokov schon einige meisterhafte Prosastücke wie "Maschenka" u.a. geschrieben und hier, im Gelächter, bedient er sich einer saloppen trivialsimplen Sprache. Der Inhalt geht ja auch ein wenig in Richtung Hollywood. Es liegt der Verdacht nahe, dass sich Nabokov einen Spaß erlauben wollte. Trotzdem ein guter Roman.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 22.10.2011 22:50von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Vielen Dank für den Hinweis und den tollen Link auf Dieter E. Zimmer. Darunter auch ein Artikel über Nabokov und seinen Deutschenhass. (Sehr aufschlussreich.)
Von Thomas Mann sagte Nabokov, er hätte einen Humor wie Max und Moritz... Er hat wohl nicht viel von ihm gelesen.
Ja, "Gelächter im Dunkel" ist sehr simpel und nahezu ohne große Anstrengung geschrieben und auch zu lesen. Und gerade das ist daran auch so angenehm. Mich faszinierte insbesondere die Gemeinheit in diesem Buch, die Blindheit Albinus' später, während die beiden Ganoven (Margot und Rex) so unverfroren ihrer Liebe weiter frönen... (wahrscheinlich sehe ich einfach viel zu wenig Hollywoodfilme...)
Nächstes Buch ist "Maschenka", auch das "Bastardzeichen" folgt.
Im Moment lese ich seine Erzählungen zwischen 1935-1939.
Art & Vibration
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 31.10.2011 16:40von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo Taxine,
ich habe noch was vergessen. Neben der Biografie von Boyd ist natürlich die Autobiografie von Nabokov selbst das Beste.: "Erinnerung, sprich", Autobiografie und gleichzeitig gute Literatur (in dieser Hinsicht mit Elias Canetti vergleichbar). Das Buch umfasst die Jahre 1903-1940, es taucht auch die Frau auf, die dann zu seiner "Maschenka" wurde.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 01.11.2011 20:04von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
ja, habe ich mir bereits bestellt. Trotzdem herzlichen Dank für den Hinweis. Bin schon sehr gespannt, gerade auch darum, weil Nabokov von seinem ersten Biografen ja so schockiert war, dass er sich überhaupt erst an eine Autobiografie setzte, um den "Gerüchten" und Falschdeutungen entgegenzuwirken. Ich glaube allerdings, Nabokov als Mensch ist mir eher unsympathisch, denn er liegt mit all denen im Clinch, die ich bewundere, verurteilt z. B. Thomas Mann, Dostojewski oder Anna Achmatowa, deren Gedichte er persifliert. Das finde ich schade, denn mir scheint, dieser Schriftsteller kennt keine Zwischennuancen, sondern bewundert (z. B. Tolstoi) oder hasst (z. B. das Deutsche). Es gibt keinen Mittelweg und da er die Zeit als Gefängnis betrachtet, scheint er auch nicht über seine eigenen Ansichten hinauszufinden. Da ist er allerdings auch nicht der einzige Mensch auf der Welt und seine Romane sind teilweise einzigartig schöne Schöpfungen.
Ist Maschenka eigentlich Vera?
Da meine Bücher auf sich warten lassen, hier erst einmal mein Eindruck zu
"Einladung zur Enthauptung"
Dieser Roman ist ja nun freilich sehr weit zu interpretieren. Alles wirkt wie eine Attrappe, genau so also, wie der Protagonist die Welt empfindet. Hier meine Version an Interpretation.
Cincinnatus ist zum Tode verurteilt, das Urteil wird ihm, wie üblich, flüsternd übermittelt. Die geflüsterte Übermittlung ist bereits ein erster Hinweis auf Falschheit und Gegenteil einer normalen Urteilsverkündung, die entweder hinter dem Rücken oder laut ausgesprochen wird, aber sicherlich nicht in dieser eigenartigen Nuance. Aber das wird nicht das einzige Ungereimte dieser Nabokov'schen Vision sein.
Alle erheben sich bei der Urteilsverkündung, die beiden Anwälte – Staats- und Rechtsanwalt – müssen nach dem Gesetz miteinander verwandt sein, was nicht immer möglich ist, warum sie auf Ähnlichkeit geschminkt werden – all das deutet auf eine vorab surreale Welt hin, vielleicht auch auf ein unsinniges, von Nabokov parodiertes, totalitäres System, in dem Cincinnatus vor Gericht steht. Was Cincinnatus verbrochen hat, ist wie bei Kafkas „Prozess“ nicht explizit benannt, allerdings verweist Nabokov mehrfach darauf, dass seine Figur undurchdringlich für die Strahlen der anderen (war) und wirkte darum, wenn er nicht aufpasste, bizarr, wie ein einsames dunkles Hindernis in dieser Welt der für einander durchsichtigen Seelen.
Sein Verbrechen ist also seine Undurchschaubarkeit, seine Opazität. Ginge man jetzt von einem totalitären System aus, so kann man annehmen, dass gerade die Undurchschaubarkeit eines Menschen gefährlich ist, während alle anderen blind und sklavenhaft offen zeigen, wer sie sind. Auch Cincinnatus hatte sich angewöhnt… Transparenz vorzugaukeln, sozusagen mit Hilfe eines komplexen Systems optischer Täuschungen…
Doch, wie lange lässt sich solch eine Maske schon aufrechterhalten?
Auch erinnert diese Angst, sich verstellen zu müssen, an jene Zeit unter Stalin, in der jeder den anderen ausspionierte und verriet, um seinen eigenen Kopf zu retten. Jene Transparenz der Menschen, die sich vor niemandem verbergen konnten, durchschaut und überwacht durch das staatliche Auge. Auch in der Welt Cincinnatus herrscht „der besorgte Sonnenschein öffentlichen Interesses“.
Aber, ich denke, der Roman führt weit darüber hinaus, über die Grenzen der Realität ins Philosophische, ins Innere des Seins.
Nabokov war nicht von Kafka inspiriert, als er innerhalb von vierzehn Tagen die erste Fassung seines Werkes hinunterschrieb, aus sich heraus, sozusagen, während er ansonsten ein langsamer Schreiber war. Kafka hatte er gar nicht gelesen, kannte ihn nicht einmal, weil er die deutsche Gegenwartsliteratur seiner Zeit nicht mochte oder sich nicht dafür interessierte. (Später sagte er über Kafkas „Verwandlung“ , es wäre eines der größten Prosawerke aller Zeiten.) Er sagt im Vorwort, dass keiner der benannten Schriftsteller, mit denen er verglichen wurde (darunter auch Tolstojewskij – ähnliche Töne von Nabokov in „Pnin“, wo er u. a. in Bezug des Erlernens der russischen Sprache auch davon spricht, endlich „Anna Karamasow“ im Original lesen zu können), ihn zu diesem Buch angeregt hätten, und wenn, dann nur der Schriftsteller Delalande, der sowohl in „Einladung zur Enthauptung“ als auch in „Die Gabe“ auftritt und eine Erfindung von Nabokov selbst ist.
Auch das Vorzitat ist von jenem und lautet: Wie ein Wahnsinniger sich für Gott hält, so halten wir uns für sterblich.
Cincinnatus lebt in einer Attrappenwelt, in der nichts echt ist, die Menschen Gespenster, die Verwandtschaft eine künstliche (seine Mutter hat er nur einmal im Leben gesehen, und sie ist die einzige Täuschung, in der er einen Funken an Leben entdeckt haben will). Alles ist Schein, gemacht, sogar ein Gewitter, es gibt keine wirklichen Empfindungen und sie werden auch nicht geduldet. Daher ist nicht nur das Verbrechen des Protagonisten eine Farce, der sich weigert, sich in eine solche Schein-Gesellschaft einzugliedern, stattdessen zum Einzelgänger wird, sondern auch sein Gefängnisaufenthalt, seine Zelle samt Aufseher, Gefängnisdirektor und Zellennachbar. Sie alle wollen ihm die Traurigkeit nehmen, die ihnen zu wirklich erscheint, die sie ängstigt und irritiert, wollen, dass er aus sich herauskommt und ihre Welt annimmt, sich freut und tanzt und bei dieser ganzen Farce mitspielt, wie es sich für einen Verbrecher nach ihren Maßen gehört.
Nichts in der Zelle ist echt, dennoch ist alles auf Authentizität getrimmt, sogar der Freund des Gefangenen (man erinnere sich an Pellicos „Meine Gefängnisse“) fehlt nicht, die Spinne, die sogar gefüttert und gepflegt wird.
Cincinnatus fürchtet sich vor dem Tod. Er findet, sein Kopf sitzt perfekt auf seinem Hals und sieht all die Wege, die er noch gehen könnte. „Es wird kalt sein, meinen warmen Körper zu verlassen“. In diesem Roman geht es nicht so sehr darum, was Cincinnatus tatsächlich getan hat, als um die Ungewissheit, wann die Hinrichtung stattfindet. „Wie können sie es wagen, mir vorzuenthalten, wann… Ich, der ich durch diesen äußersten Schmerz hindurch muss…“
Die Wände seiner Zelle sind mit den Worten anderer zum Tode Verurteilter beschrieben, dazwischen die kindliche Schrift des Gefängnisdirektor, der von Bestrafung spricht, sobald die Wände beschrieben werden. Auch als Cincinnatus den Tisch ans Fenster heranrückt und auf den Stuhl steht, kann er nichts von der Welt dort draußen erkennen, stattdessen steht dort in feiner Handschrift: Man kann nichts sehen, ich habe es auch versucht.
Immer wieder tritt Nabokovs typischer Humor durch die Zeilen, wie ein Licht im Tunnel.
Die Zeitungen, die Cincinnatus ins Gefängnis erhält und die mit Nachrichten über sein Todesurteil und über ihn an sich gefüllt sind, sind bunt, nicht schwarz-weiß. Bunt, um die Enthauptung und das Urteil farbenfroh, also fröhlich darzustellen, in ein anderes Licht zu rücken. Hier tönt vollends die Boulevardpresse hervor, die alles grell überbeleuchtet darstellt und mit Schlagzeilen und bunten Beweisstücken, die eigentlich rein gar nichts besagen, um sich wirft. Das, was Cincinnatus aus der Zeitung erfahren will, ist weggestrichen, darum lohnt sich das Lesen für ihn auch nicht.
Der Besuch seiner untreuen und dümmlichen Frau Marthe, der einzige Hoffnungsschimmer, den er noch hat, verzögert sich. Versprechungen werden in dieser Welt der Unbeständigkeit nicht gemacht. Stattdessen wird Cincinnatus sein Gefängnisnachbar vorgestellt, der ihn wie ein Clown unterhält, während der Direktor des Gefängnisses fasziniert daneben steht.
Als Marthe endlich eintrifft, bringt sie ihre ganze Familie und die Möbel mit in das Gefängnis, um zu verdeutlichen, wie sie mit ihrer vertrauten Welt in seine karge Zelle einzieht, in der er nichts mehr zu suchen hat. Alles wirkt surreal, die Familie ist wütend, dass er zum Tode verurteilt wurde, nicht aufgrund des Urteils, sondern aufgrund seines Verbrechens der Undurchsichtigkeit. So wie Cincinnatus alle als Geister und unwirkliche Gestalten empfindet, während er anders ist und von sich denkt: „Ich bin der unter euch, der lebt…“, wirkt nun er in diesem häuslichen Chaos wie ein Geist in einer falschen Welt. Die Privatsphäre mit seiner Frau kommt nicht zustande, die bereits ihren nächsten Geliebten mitgebracht hat, stattdessen wird Privatsphäre vorgegaukelt, bis hin zu einem Apfel aus Wachs, der wie ein gemeiner Scherz in einer ansonsten so kargen Zelle wirkt, in der wohl kaum Atmosphäre und Häuslichkeit vorgetäuscht werden muss. Hier zeigt sich besonders schön, dass alles Attrappe ist.
Einen letzten Versuch unternimmt Cincinnatus, seine Frau zu erreichen und bittet sie, nur einmal in ihrem Leben Gefühl zu zeigen. Die Bitte bleibt unerhört, stattdessen tritt Marthe als das auf, was sie immer war.
Das ganze Gefängnispersonal erwartet von einem Häftling, dass er sie unterhält, sich präsentiert. Er soll sich offenbaren, als eine Art Schuldzugeständnis, er soll so falsch und oberflächlich werden, wie sie es sind, während sein Verbrechen gerade die Verschlossenheit ist, das sich dieser Gesellschaft und Welt nicht Öffnen-Wollen. Cincinnatus fühlt sich durch die Menschen bedrängt und steht der Ungewissheit des Zeitpunkts seines Todes ratlos gegenüber. Statt sich ihrem Rhythmus anzupassen, kann er nicht aus der eigenen Haut, grübelt, ist in sich gekehrt, zeigt sich nicht und dennoch mehr, als alle anderen zusammen. Er hat längst alle Heuchelei, jede vorherige Täuschung seiner selbst, aufgegeben.
Der größte Teil seiner selbst hat sich bereits mit dem Tod abgefunden und ist längst in einer anderen Welt, während ein kleiner Rest von ihm auf die Hinrichtung wartet.
Doch dann kehrt etwas in ihn zurück, eine Hoffnung, ausgelöst durch die Lebendigkeit eines Kindes, dem Mädchen Emmi. Er schöpft noch einmal Hoffnung zur Flucht, die sich ihm tatsächlich eröffnet, wenn auch anders, als erwartet und mit einem Ausgang, der darauf verweist, dass das Gefängnis nicht nur ein realer Raum in einer falschen Welt ist, sondern weit darüber hinaus, ins Innere des Menschen führt.
Das Gefängnis Cincinnatus‘ ist auch sein eigener Körper, seine eigene Verschlossenheit vor der Welt, die ihm, da gefangen in sich selbst, gleich einer Attrappenwelt erscheint. Nichts darin empfindet er als wirklich, alles ist Verstellung. Er selbst, traurig und in sich selbst zurückgezogen, kann sich selbst nicht entkommen. Er fügt sich in das Geschehen, als ein Hinweis darauf, dass er, statt Hoffnung zu hegen, die Hoffnung längst aufgegeben hat, vielleicht schon vor seinem eigentlichen Urteil, als die Welt sich ihm offenbarte und er sich in sich selbst zurückzog.
Auch in diesem Werk kommt Nabokovs Vision des sentimentalen Henkers (vergleiche „Tyrannenvernichtung“) zum Tragen. In seiner Erzählung schrieb er: „Leuten, die billige Paradoxa mögen, ist schon vor langem die Sentimentalität der Henker aufgefallen; und tatsächlich ist vor Fleischerläden der Bürgersteig immer feucht.“
In „Einladung zur Enthauptung“ wird der unangenehme und aufdringliche Zellennachbar, der glaubt, ein inniges Gefühl der Kameradschaft hergestellt zu haben, zum Henker, als ein Wolf im Schafspelz, von dem sich töten zu lassen, doppelt so schwer belastet. Der Clown, der bei allen Sympathie auslöst (ausgenommen bei dem, den er überzeugen will – Cincinnatus), stellt sich als Vollstrecker heraus, der routiniert seinem Geschäft nachgeht, das beinhaltet, dass er vom Gefangenen die Vergebung erlangt, die er sich, notgedrungen auch mit genügend Selbsttäuschung und Fremdtäuschung, verschafft.
Hier spielt Nabokov auf Sokrates an, besser gesagt, auf Platon und sein „Phaidon“. Derjenige, der Sokrates den Schierlingsbecher übergibt, wirkt sympathisch und mitfühlend auf Sokrates, der an ein Leben nach dem Tod glaubt. Da heißt es aus dem Munde Sokrates (Platons), als er sich verabschiedet: „Und zu uns sagte er: Wie fein empfindet dieser Mensch. So ist er die ganze Zeit mit mir umgegangen, hat sich bisweilen mit mir unterhalten und war der beste Mensch; und nun wie aufrichtig beweint er mich!“ (Platon „Phaidon“, Phaidon S. 192)
Wer könnte hier nicht sofort Vergleiche ziehen, nur dass Nabokov die ganze Situation als Farce darstellt, wo sich notgedrungen, in einer unechten Welt, die Sympathie zum Henker ins Gegenteil verkehren muss und ein Vergeben unmöglich wird. Doch die „Unterhaltung“ findet statt, der Henker als Clown empfindet fein, zu fein, genauer ist er eine Übertreibung seiner selbst und als oberflächlich unechtes Wesen ist ihm Aufrichtigkeit nicht möglich, die er häufiger betont, wenn er sagt, er könne nicht lügen, während er nicht nur beim Schach betrügt, sondern auch die Rolle des Retters spielt, der das Schicksal Cincinnatus teilt.
Was verwirrt, ist der Tausch der Figuren, die ganz plötzlich andere Personen sind oder andere Rollen übernehmen. Auch das Kind Emmi wechselt den Vater, der einmal der Aufseher, zum anderen der Direktor ist, ohne, dass Nabokov hier aufklärt, was es damit für eine Bewandtnis hat. Darin liegt vielleicht das Vertauschen hohler Schablonen, die die Rolle spielen, die ihnen der Autor, aber auch die Gesellschaft an Oberflächlichkeit aufprägt.
Cincinnatus befindet sich in einer unechten Welt, und weil sie unwirklich ist, kann sie reines Hirngespinst sein, er mit dem Geist jederzeit auch bestimmen, was sich ereignet, mit seiner Angst all das erst projizieren – das eigene Gefängnis und Schuldgefühl sich manifestieren lassen. Darauf deutet seine Fluchtmöglichkeit hin, das zeigt der Zerfall seiner Zelle, die sich auflöst, als wäre er nie darin gewesen, weil nichts von ihm bleibt, da er zu niemanden in dieser falschen Welt Kontakt hatte, das zeigt insbesondere sein Ende, wo er einfach der Spielverderber ist, aufsteht und geht. Man könnte allerdings gleichfalls deuten, er sei gestorben und seine Seele würde davon spazieren und weiterleben (und etwas sokratisch agieren). Man könnte auch alles auf einmal als „wahr“ für dieses Werk anerkennen. Was darauf hindeutet, ist wiederum jenes Vorzitat von Nabokovs eigener Schöpfung eines Schriftstellers:
Wie ein Wahnsinniger sich für Gott hält, so halten wir uns für sterblich.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 01.11.2011 20:19von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von Taxine
Ist Maschenka eigentlich Vera?
Nein. Maschenka, sie hieß, wenn ich mich recht erinnere, Tamara, und er musste sie in Russland zurücklassen, darum ist Machenka im Roman eine Metapher für die Sehnsucht des Exilanten nach seiner Heimat. Ich denke, in "Einladung zur Enthauptung" taucht sie auch auf.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 01.11.2011 20:20von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
In "Einladung zur Enthauptung" tauchen nur die Tamara-Gärten auf. Sie sind Sinnbild für glückliche Zeiten und die Liebe.
Art & Vibration
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 01.11.2011 21:01von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Na klar... Tamara ist der Inbegriff jugendlichen Glücks. Die echte Frau hieß Valentina Schulgin. In Tamara ist auch Tam enthalten. Tam heißt auf russisch "dort". Nabokovs "Tamara" taucht mehrfach in seinen Werken auf. Als (wirklich) "Tamara" dann in "Sieh doch die Harlekine!".
Art & Vibration
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 01.11.2011 21:23von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo Taxine,
danke, so genau hatte ich das nicht mehr im Kopf.
Noch einige Bemerkungen zum Roman:
1937 floh Nabokov aus dem Nazideutschland. Das war seine zweite Flucht. Die erste Flucht, war die Flucht aus seiner Heimat, aus Russland. Von 1921 – 1937 lebte er in Berlin und schrieb seine frühen Romane auf russisch, dazu gehört auch der Roman „Einladung zur Enthauptung“ aus dem Jahre 1935, der 1938 erstmals als Buch erschien. Nabokov kannte also totalitäre Systeme aus eigener Anschauung.
Wie du schon erwähnt hast, ist dieser Roman parodistisch. Er parodiert ein totalitäres Regime. Das Flüstern des Urteils in sein Ohr ist ja auch schon Parodie. Parodie ist auch seine Verschlossenheit, Undurchsichtigkeit (Opazität), weil in dem totalitären System Transparenz gefordert wird. An sich wird auf diese Weise der Totalitarismus lächerlich gemacht. Das Vorgaukeln von Transparenz wirkt sehr komisch, weil man nämlich entweder verschlossen ist, oder man ist es nicht. Solch eine Vorgaukelei ist doch kaum möglich.
Der Roman wirkte sehr grotesk und komisch auf mich. Lektüre schon einige Jahre her.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 09.11.2011 14:58von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hier ein Blick auf Maschenka
Maschenka… Maschenka. Da taucht sie in zwei verschwommenen Bildern in einer Schublade auf und reißt den Protagonisten Ganin aus der Lethargie, lässt ihn sich erinnern. Maschenka, die einzige und erste Liebe, die eng verbunden mit der russischen Heimat steht, die Ganin, wie mit ihm viele andere Russen, verlassen musste, der nun als Emigrant in Berlin lebt. Maschenka, deren einst getragene, schwarze Schleife an einen riesigen, dunklen Falter erinnert, die autobiographische Züge trägt, die Nabokov in „Erinnerung, sprich“ Tamara nennt, sein Inbegriff für die einstige Jugendliebe, das vergangene Glück und die innige Sehnsucht nach der Heimat. Tam – dort ist sie, dort wo die Erinnerung verweilt.
Ach, dieses kleine, erste Werk Nabokovs ist wunderschön. Man verweilt mit Ganin in diesem düsteren Berlin, in der Pension voller Russen, geführt von der verwelkten Wirtin, Frau Dorn, deren Hand so leicht wie eine Feder ist, die sich mühsam dahinschleppt und ihre russischen Mieter liebgewinnt, dass sie den Auszug wie einen Todesfall empfindet, während sie ansonsten kaum mit ihren Gästen verkehrt. Dort wohnt der alte und liebenswerte Dichter Podtjagin - „Ich habe alles, was ich in mein Leben hätte stecken sollen, in meine Gedichte hineingelegt, und jetzt ist es zu spät…“ -, der sein Leben verschwendet glaubt, der verzweifelt versucht, einen Pass zu beantragen, um nach Frankreich zu seiner Nichte zu reisen und schließlich keinen Pass mehr für seine letzte Reise benötigt, da lebt die in Ganin verliebte Klara, die mit der Geliebten Ganins – Ljudmila - befreundet ist, diese um die Beziehung beneidet und dabei von einem beklemmenden Gefühl der Einsamkeit überfallen wird, „das uns immer überfällt, wenn jemand, der uns teuer ist, sich einem Tagtraum hingibt, in dem wir keinen Platz haben…“, während Ganin sich tagelang abquält, wie er Ljudmila mitteilen kann, dass er sie nicht mehr liebt. Dort leben die beiden homosexuellen Balletttänzer Gornozwetow und Kolin und der leicht schmierige Alfjorow, der Russland nicht vermisst und davon schwärmt, dass am Samstag endlich seine Angetraute aus Russland zu ihm nach Berlin kommt. Mit diesem bleibt Ganin am Anfang des Buches im Fahrstuhl stecken und lernt ihn erst durch diese Situation näher kennen, wonach er eigentlich kein Bedürfnis hat.
Ganin ist arbeitslos, lustlos und launisch. Er fühlt das Leben wie eine leere Fläche, sein Dasein als Statistenrolle, wo die Welt auf Befehl applaudiert und ihren Schatten verkauft, anonym in der Traurigkeit des Daseins verschwindet.
Doch dann passiert etwas. Durch Zufall erfährt er, wer Alfjorows Frau ist (natürlich die wundersame Maschenka seiner Jugend) und spürt eine Veränderung in sich. Die Stelle ist eine der schönsten im Roman, warum sie hier als gekürzter Auszug zitiert werden soll und muss:
Zitat von Nabokov S. 48
… zu dieser späten Stunde zogen über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren: nicht mehr irgendein Nachtschwärmer, keine Frau, kein einfacher Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. (…)
In Augenblicken wie diesem geschieht es, dass alles mythenhaft und unauslotbar tiefgründig wird und das Leben schrecklich und der Tod noch viel schrecklicher erscheint. Und dann, während man schnellen Schrittes durch die nächtliche Stadt dahineilt, durch Tränen nach den Lichtern blickt und in ihnen eine herrliche, blendende Erinnerung an vergangenes Glück sucht – ein Frauenantlitz, das nach vielen Jahren öden Vergessenseins wieder emportaucht -, wird man plötzlich in seinen wilden Voranjagen höflich von einem Fußgänger angehalten und gefragt, wie er wohl in die und die Straße gelangen könne, gefragt in einem ganz alltäglichen Ton , aber in einem Ton, den man niemals wieder hören wird.
Von da an wird es auf einmal leicht, sich von der ungeliebten Freundin zu trennen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, die vergessen lag, sich der schönen und auch traurigen Momente zu erinnern, die hinter Ganin liegen. Wie ein Gott erschafft er sich diese andere Welt und lässt sie vor dem inneren Auge noch einmal neu auferstehen. Diese große erste Liebe war ein Leuchten, aber nicht nur. An ihr haftet auch das Versagen, das Erkalten an Gefühl, welches nun wieder stark und laut im Herzen schlägt. Neben der Innigkeit, spürte er damals „… wie dieses unvollkommene Beieinander ihre Liebe abnützte und allmählich brüchig werden ließ. Jede Liebe braucht Einsamkeit, Obdach, Zuflucht – aber sie hatten keine Zuflucht.“ All das ahnt man bereits, da Ganin Maschenka schließlich auch vollkommen vergessen hat, obwohl er ihre Briefe immer bei sich trägt. Das traumhafte Zusammensein auf der Datscha und die verzweifelte Suche nach Nähe im verschneiten und eisigen Petersburg verdeutlichen das Bild ihrer Empfindungen hervorragend. Nun aber - in Berlin - wächst in Ganin wieder etwas Sehnsuchtsvolles heran, weil die Liebe immer befreit und aus dem düster gewordenen Alltag hinausführt, diesen anders beleuchtet.
Die Briefe sind übrigens bemerkenswert, weil sie die echten Briefe von Valentina Schulgin sind, die Jugendliebe Nabokovs, die dieser in den Roman eingebaut hat. Er sagt in „Erinnerung, sprich“ über sie:
Zitat von Nabokov "Erinnerung, sprich", Kap. 12
„Glücklich der Romancier, dem es gelingt, einen echten Liebesbrief aus seiner Jugend in einem Roman aufzubewahren, wo er wie eine saubere Kugel in schlaffem Fleisch eingebettet liegt und zwischen den fiktiven Existenzen völlig sicher ist.“
Tatsächlich ist das Bild von „Tamara“ in „Maschenka“ klarer und vollständiger erhalten als in der Autobiographie selbst, ganz einfach darum, weil bei „Maschenka“ die Erinnerung noch frisch ist.
Ob Ganin mit seiner Maschenka zusammenfindet, soll jeder Leser für sich herausfinden. Auf jeden Fall hilft ihm die Erinnerung, seinen inneren Schweinehund endgültig zu überwinden und aus seiner Tatenlosigkeit hinauszufinden.
Tja, ich bleibe in Berlin. Das nächste Buch ist "Die Mutprobe".
Art & Vibration
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 10.11.2011 22:06von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo Taxine,
Die "Maschenka" habe ich zwar schon zweimal gelesen, habe aber viele Einzelheiten vergessen. Dann muss ich das doch irgendwann noch ein drittes Mal lesen. Habe so geschwärmt von diesem Roman. "Die Mutprobe" passt ganz gut, weil es auch um Exil geht. Den Roman kenne ich nicht. Ich lese immer noch im Schneckentempo "Das Bastardzeichen". Dieser Roman ist schwieriger als die frühen russischen Romane.
Zitat von Taxine
Ganin ist arbeitslos, lustlos und launisch. Er fühlt das Leben wie eine leere Fläche, sein Dasein als Statistenrolle, wo die Welt auf Befehl applaudiert und ihren Schatten verkauft, anonym in der Traurigkeit des Daseins verschwindet.
Zu dieser depressiven Stimmungslage habe ich ein schönes Zitat ausgesucht:
Zitat von Nabokov, Kap.8
Ganin ließ einen Augenblick von den Erinnerungen ab und grübelte, wie er so viele Jahre hatte leben können, ohne an Maschenka zu denken - und schon hatte ersie wieder eingeholt. Sie rannte einen dunklen raschelnden Pfad hinunter, ihre schwarze Haarschleife flatterte wie ein riesiger dunkler Falter, der Trauermantel.
Selbstverständlich ist bewusst der riesige dunkle Falter, der Trauermantel, erwähnt, und weil diese Stelle etwa in der Mitte des Romans steht, scheint es so, als ob Nabokov diese Exilmelancholie noch besonders hervorheben wollte, weiß aber nicht, ob Nabokov das so cool berechnet hat. Na, und das der Lepidopterologe an dieser doch wichtigen Stelle noch einen Falter erwähnt, finde ich super.
Diesen Roman sollte jeder Leser lesen.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Vladimir Nabokov
in Die schöne Welt der Bücher 11.11.2011 14:58von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Martinus
"Die Mutprobe" passt ganz gut, weil es auch um Exil geht. Den Roman kenne ich nicht.
Der Roman wäre auf jeden Fall auch etwas für dich, alleine schon darum, weil der Protagonist dein Namensvetter ist.
Dieses Werk ist nicht ganz so bezaubernd oder ausgeklügelt, wie es manche Werke Nabokovs sind, dennoch hat es seinen erzählerischen Charme, liest sich als ein gemächliches Dahintreiben, spiegelt eine unerfüllte Liebe wider und enthält etliche autobiographische Einschübe, die Nabokov zuvor im Vorwort auch erläutert. Es ist die Geschichte des jungen Emigranten Martin Edelweiß, berichtet von dessen Studium und Wanderjahre. So spielt der Roman hauptsächlich in England und Deutschland, zeigt Cambridge und Berlin.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration