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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 10.05.2009 12:26
von Martinus • 3.195 Beiträge
Joseph Roth, 2. September 1894 in Brody bei Lemberg ; † 27. Mai 1939 in Paris

Kurze bescheidene Einführung zu Joseph Roth (Quelle: Joseph Roth, Leben und Werk in Bildern, von Heinz Lunzer & Victoria Lunzer-Talos, Kiepenheuer & Witsch, 1994)

Joseph Roth ist am Ostzipfel der k.u.k. Monarchie, in Brody/Galizien am 02. September geboren. Sein Werk beschreibt Heimatlosigkeit und Exil, wie auch Sándor Márai, beklagt Roth den Untergang seiner Epoche. Obwohl Roth sich im Wintersemester 1913/14 in der Universität zu Lemberg einschrieb, kam er warscheinlich schon im Jahre 1913 nach Wien und studierte dort ab dem Sommersemester 1914, arbeitet daneben als Hauslehrer und veröffentlichte in Zeitschriften und Zeitungen seine ersten Lyrik- und Prosatexte. Erinnerungen an seine Studienzeit schimmern später in atmosphärischen Schilderungen durch, wie etwa im Romanfragment „Der stumme Prophet“.

Ob Roth, der sich 1916 freiwillig zur Armee meldete, wirklich bei den Begräbnisfeierlichkeiten von Kaiser Franz Joseph anwesend war, wie er behauptet hat, ist unsicher. Das Begräbnis war für sein Bild der untergehenden Monarchie von großer emotionaler Bedeutung. Dieses ist ein Beispiel dafür, wie Joseph Roth seine eigene Biographie mit Legenden ausgeschmückt hat. Auch seine angebliche russische Kriegsgefangenschaft ist nicht nachweisbar und warscheinlich nur von Roth erfunden.

Joseph Roths frühe journalistischen Arbeiten, die er für die Wiener Zeitung „Der Neue Tag“ schrieb (1919/20) behandelten die sozialen Folgen des Krieges: Armut, Arbeitslosigkeit, Mangel an Konsumgütern, die Not der Kriegskrüppel. Roth blieb mit vielen Mitarbeitern dieser zeitung befreundet, zB. mit Alfred Polgar, Arnold Höllriegel, Karl Otten (u.a. Herausgeber von Anthologien expressionistischer Literatur), Egon Erwin Kisch u.a. Nachdem die Wiener Zeitung „Der Neue Tag“ eingestellt worden war, ging er für einige Jahre nach Berlin und setzte dort seine journalistische Arbeit fort.

In Briefen ging Joseph Roth mit privaten Äußerungen und Emotionen sehr sparsam um. Auch über seine Frau Friedl, die sich von einer schönen liebreizenden Frau zu einer Geisteskranken entwickelt hat, machte er kaum mehr als Andeutungen.

Joseph Roths erster Roman „Das Spinnennetz“ (Verfilmung von Bernhard Wicki, 1989) erschien in 28 Fortsetzungen zwischen dem 07.Oktober bis 06. November 1923 in der Arbeiter Zeitung, Wien. Was Roth im „Spinnennetz“ beschrieb, wurde vom tatsächlichen Geschehen schnell eingeholt. Am 08. und 09. November 1923 versuchten Hitler und Ludendorff zu putschen.Die Rechte wollte in München zum ersten Mal an die Macht. Immer wieder warnte Roth in seinen Arbeiten vor der Gefahr des Nationalsozialismus, erkannte aber, wie wenig er als Journalist gegen den Faschismus ausrichten konnte.

Roth wurde einer der bekanntesten Mitarbeiter der überregionalen „Franfurter Zeitung“, zu erst als Feuilletonist in Berlin, dann in verschiedenen Ländern Europas (1923-1932). Als Roth 1925 nach Paris kam, glaubte er eine neue Heimat gefunden zu haben. Im Gegensatz zur Engstirnigkeit, die ihn bei vielen Deutschen störte, gefiel im die offene, lockere Atmosphäre in Frankreich. Im Auftrag der "Frankfurter Zeitung“ schrieb er Reisereportagen. Roth erweist sich als ungemein hellsichtiger Warner, als Diagnostiker der Schwäche der Weimarer Republik.

Emigration

Nachdem die Nationalsozialisten 1933 die Regierung übernommen haben, siedelte Joseph Roth entgültig nach Paris über. Roth kämpfte publizistisch gegen den Nationalsozialismus an und hat sogar vorausgesagt, dass viele Intelektuelle wie de Juden ins Exil gehen werden.

An Stefan Zweig schrieb er im Februar 1933:

In Antwort auf:
Inzwischen wird es ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet - führt das ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barberei regieren zu lassen. Machen sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert.


Roth war einer der am besten verdienenden Exilautoren. Allerdings verschlang sein Alkoholismus viel Geld, und er musste für die Pflege seiner kranken Frau aufkommen. Auch sein kostspieliger Lebensstil verschlang Geld, auch die Versorgung seiner Lebensgefährtin Andrea Manga Bell und deren zwei Kinder. Aus finanziellen Gründen siedelte Roth im Frühsommmer 1934 nach Südfrankreich. Dort war das Leben billiger als in Paris. Seine Stationen: Marseille und Nizza. Auch seine Werke erschienen nun im holländischen Exilverlagen wie Querido, Allert de Lange und bei de Gemeenschap. Im Querido Verlag waren viele bekannte Exilanten beheimatet.

Roth verfiel dem Alkohol, Stefan Zweig versuchte ihn vom Alkohol abzubringen, und glaubte, ihn wegen dem Verlust von Roth Beziehung zu Andrea Manga Bell trösten zu müssen. Roth schrieb einmal, Zweig war „rührend zu mir, wie ein Bruder.“ (in einem Brief an Blanche Gidon). Sein letzes Werk ist „Die Legende vom heiligen Trinker“.


Liebe Grüße
mArtinus



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 10.05.2009 12:33 | nach oben springen

#2

RE: Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 10.05.2009 15:35
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge
Vielen Dank, werter Martinus, für die tolle Einführung. Da wird Roth viel sichtbarer. Ich habe irgendwo gelesen, dass er in seinem Buch "Hiob" die Krankheit seiner Frau verarbeitet haben soll. Wenn er sich da in Briefen zurückgehalten hat, so kann man vielleicht in seinen Büchern mehr über ihn und seine Erfahrungen lesen.

Es kommt nicht auf die Wirklichkeit an, sondern auf die innere Wahrheit.
(Joseph Roth)


Ich beginne direkt einmal mit

Hotel Savoy

Jeden hielt ein Unglück fest: Jedem war Hotel Savoy das Unglück, er wusste nicht mehr gerecht zu scheiden zwischen dem und jenem.
Alles Mißgeschick stieß ihnen in diesem Hotel zu, und sie glaubten, Savoy heiße ihr Unglück.


Da kommt der Protagonist aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft aus Sibirien zurück und gönnt sich in Lodz ein Zimmer im "Hotel Savoy", spricht in Gefühlen, wie all das auf ihn wirkt. Die verschiedenen Etagen weisen eine Ähnlichkeit der Gänge auf, jedoch nur oberflächlich betrachtet, denn desto tiefer sie gehen, desto schöner werden sie, mit Teppichen ausgestattet, durch Uhren gekennzeichnet, die, je tiefer es hinabgeht, jeweils um zehn Minuten versetzt sind. Unten, wo die Reichen untergebracht werden, benötigt man keine konkrete Uhrzeit, da sie sowieso viel Zeit haben. Ein schönes Bild von Roth; in der obersten Etage, wo die Ärmsten der Armen leben, gibt es gar keine Uhr. Auch für sie ist die Zeit nicht notwendig, sie spüren sie wahrscheinlich durch ihr Hungergefühl. Überhaupt tragen die oberen Bewohner keine Namen, sondern nur Zimmernummern, wie z. B. der Clown Santschin, der zu Nummer 748 wird.
Der Erzähler heißt Gabriel Dan.
In Antwort auf:
… ich weiß nicht, was ich bin. Früher wollte ich Schriftsteller werden, aber ich ging in den Krieg, und ich glaube, dass es keinen Zweck hat zu schreiben. – Ich bin ein einsamer Mensch, und ich kann nicht für alle schreiben.


Die Figuren, denen man dort im Hotel begegnet, sind von Roth herrlich gezeichnet. Er selbst als Erzähler dringt einem tief ins Herz. Da ist der Hotelbesitzer, scheinbar ein Grieche, Herr Kaleguropulos, von dem der Erzähler immer nur Zettel vorfindet, da ist die Varieté-Tänzerin Stasia, die arm ist und von dem verwöhnten Sohn des reichen Vetters Böhlaug verehrt wird, Alexanderl, der frisch aus Paris eingetroffen ist, „dorther, wo es am stärksten Paris ist“. Der Erzähler erlebt, wie Stasia sich in ihrem Umfeld zu helfen weiß. Armut verlangt Kreativität.
Diese oberen und unteren Stockwerke „der Gefangenen“, „was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit, unbeschwert von den leichtgezimmerten Särgen“, während bei den Armen, die in den oberen Stockwerken neben dem Dunst und Gestank der Waschküche leben, die Koffer verriegelt werden, verpfändet solange, bis sie die Miete aufbringen.
Und Gabriel Dan selbst? Er erkennt, dass er so schnell wie möglich aus diesem Hotel verschwinden muss, er gehört auch" zu den hoch Begrabenen".
In Antwort auf:
Wohne ich nicht im sechsten Stockwerke nur? Nicht acht, nicht zehn, nicht zwanzig? Wie hoch kann man noch fallen?


Sein Vetter Böhlaug ist reich. Er erhofft sich von ihm etwas Reisegeld und muss sich darum mit seinem Charakter auseinandersetzen, der ein Mensch ist, der zeigt, was er hat und vor allen Dingen, was er gibt, darauf deutet er immer wieder, selbst wenn es sich um einen getragenen Anzug handelt, den nicht er, sondern seine Frau für Gabriel Dan herausgesucht hat.
Jemand sagt über ihn:
In Antwort auf:
Böhlaug ist ein reicher Mann mit einem kleinen Herzen. Sehen Sie, Herr Dan, die Menschen haben kein schlechtes Herz, nur ein viel zu kleines. Es fasst nicht viel, es reicht gerade für Frau und Kind.


Die Ängste und Nöte der Menschen, die in Armut leben, werden beleuchtet. Ein Milliardär wird erwartet, Bloomfield, die Menschen reißen sich um seinen Empfang, da muss die Nummer 13 auf die Tür gemalt werden, weil diese im Hotel aus abergläubischen Gründen fehlt, Bloomfield jedoch, auch aus abergläubischen Gründen, darauf besteht, diese Zimmernummer zu beziehen, wohl als Zeichen dafür, dass er sich vor nichts fürchtet, dass er bereits alles hat und selbst gegenüber einem Schicksal unangreifbar ist, da wird getuschelt und gemunkelt, über den reichen Mann, der kommt, da ist ein Fabrikant, der sich beklagt, dass gerade jetzt seine Leute streiken, weil er "Zulage auf jedes neugeborene Kind" gibt und auf seine Arbeiter nun "ein Kindersegen hereingebrochen ist", was ihn immernoch billiger kommt, als in seiner Fabrik bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen, weil seine Arbeiter an den schlechten Bedingungen ihrer Arbeit sterben, während der träge Arzt ständig Herzversagen diagnostiziert – „Es war ein herzkranker Menschenschlag…“, da ist Hirsch Fisch, der viele Gönner bei den Reichen hat, weil er Lottozahlen erträumt, und sich dann immer wieder für neue Zahlkombinationen entscheidet, sein Los verkauft, und dieses Los dann tatsächlich gewinnt.
Durch die Erkrankung des Clowns Santschin diese „plötzliche“, weil niemand weiß, „dass Santschin zehn Jahre lang unaufhörlich gestorben ist. Tag für Tag“, wird dem Protagonisten auf einmal immer klarer, wie schrecklich die Armut im Hotel und um all das herum wuchert, wie heruntergekommen es in dieser Gegend ist und wie heruntergekommen all die Menschen behandelt werden, die nicht viel besitzen.
Beeindruckend, wie Roth diesen Todeskampf schildert, den gleichgültigen Arzt, der kein Geld nehmen will, weil er sowohl die Ursache als auch den Ausgang solch eines Lebens zur Genüge kennt, den Protagonisten am Bett, der sich durch diese furchtbare Nacht an einen „dunklen Himmel von roten, glühenden Wunden zerfurcht“ erinnert, wo er selbst zwischen Leben und Tod schwebte, seine Unfähigkeit, etwas Herzliches zu Stasia zu sagen, als sie sich zuvor über den Kranken unterhalten, Santschin selbst, der auf dem Bett phantasiert und im Fieberwahn eine letzte Gratisvorstellung gibt, während auf dem Flur der alternde Liftknabe Ignatz wie der leibhaftige Tod aussieht, als würde er auf die Seele des Sterbenden warten (auch ein Sinnbild dafür, wer er eigentlich ist oder dass er ein ganz anderer ist). Am Grab steht dann Santschins alter Esel, was dem Ganzen einen zynischen Tritt versetzt und die Traurigkeit ein Stück weit mehr herauskristallisiert.
Als ihm Alexanderl Böhlaug Geld anbietet, damit er ihm das Zimmer im Hotel Savoy abtritt, damit dieser näher bei Stasia sein kann, wird sich Dan auf einmal darüber bewusst, dass er sich in Stasia verliebt hat, in ganz Lodz mit seiner „trägen Schönheit, eine verblühende Frau, der Herbst meldet sich allerorten, obwohl die Kastanien noch tiefgrün sind (…), es riecht nach Steinkohle, grauer Dunst lagert über den Häusern – das Ganze ist wie ein Bahnhof, man muss weiterfahren“. Er sucht nach Ausreden, um zu bleiben, denn eigentlich wollte er nichts anderes, als endlich weiterzureisen, er sagt sich, er müsse herausfinden, wer der Hauswirt Kaleguropulos ist, was passiert, wenn Bloomfield eintrifft, wenn das Los, das er Hirsch Fisch abgekauft hat, tatsächlich gewinnen würde. (Da fällt mir ein, dass die Angst, dass die Lotterie verboten werden wird, die in Roths Roman gerade bei den armen Menschen vorherrscht, mich stark an Orwell und seine Proles erinnert, wo in "1984" gerade die Armen mit der Aussicht auf einen Lottogewinn besänftigt werden. Sicherlich ist es bei Orwell ein Kontrollmechanismus, aber auch Roth deutet diese unbeständige Hoffnung im Abbild des armen Fischs an, der die Zahlen tatsächlich träumt, aber nie für sich selbst gewinnt. Seine Zweifel und seine Unbeständigkeit bringen ihn immer wieder um die Chance zu gewinnen. Hier ist es die Hoffnung „Bloomfield“, die die Menschen beruhigen und unter Kontrolle halten soll.) In all diesen Auseinandersetzungen mit sich selbst, beschließt Dan abzureisen, das Angebot anzunehmen. Erst, als Alexander, der mit „seinen lausigen zweiundzwanzig Jahren“ schon so viel erlebt hat, ohne ihn zu fragen vor Stasia davon ausgeht, dass er käuflich ist und das Zimmer abgeben wird, zieht er sein Vorhaben zurück und bleibt.

Als schließlich sein alter Freund und "Revolutionär" Zwonimir Pansin anreist, wird die Nachkriegssituation viel deutlicher. Ein schrecklicher Verfall der Horden, das Schnapsverbot, dass am Bahnhof die Menschen ihren Alkohol in Kaffeekannen getarnt trinken, Frauen und Männer im Rausch, weil sie sonst nichts haben; auch Dan weiß mit seiner Bildung nichts anzufangen, weil er Arbeit sucht und diese sich nur in körperlicher Arbeit ausdrückt, während die Bildung selbst auch unter den Revolutionären verpönt ist. Als er von sich sagt, er sei ein Egoist, meint Zwonimir:
In Antwort auf:
Alle gebildeten Worte sind schändlich. In der einfachen Sprache könntest du so Hässliches gar nicht sagen.

Gabriel Dan denkt sich aber:
In Antwort auf:
Ich stehe allein. Mein Herz schlägt nur für mich. (…) Im Krieg fühlte ich mich nicht eins mit der Kompanie. Wir lagen alle im gleichen Dreck und warteten auf den gleichen Tod. Aber ich konnte nur an mein eigenes Leben denken und an meinen eigenen Tod. Ich ging über Leichen, und manchmal tat es mir weh, dass ich keinen Schmerz empfand.

Schließlich findet er durch das robuste Wesen seines Freundes Arbeit, durch die er mit denen zusammenwächst,die da mit ihm arbeiten, und legt so dann seinen Egoismus ab.

Eine schöne Stelle ist die „Zeit der Heimkehrer“:
In Antwort auf:
Der Staub zerwanderter Jahre liegt auf ihren Stiefeln, auf ihren Gesichtern. Ihre Kleider sind zerfetzt, ihre Stöcke plump und abgegriffen. Sie kommen immer denselben Weg, sie fahren nicht mit der Eisenbahn, sie wandern. Jahrelang mögen sie so gewandet sein, ehe sie hier ankamen. Sie wissen von fremden Ländern und fremden Leben und haben, wie ich, viele Leben abgestreift. Sie sind Landstreicher. Ob sie mit Freuden nach Hause wandern? Wären sie nicht lieber in der großen Heimat geblieben, statt in die kleine heimzukehren, zu Weib und Kind und Ofenwärme?
Es ist vielleicht nicht ihr Wille, nach Hause zu gehen. Sie werden nach dem Westen gespült wie Fische zu gewissen Jahreszeiten.
(…)
Ausgezogen waren sie als kräftige und stolze Männer, und jetzt konnten sie sich nicht mehr das Betteln abgewöhnen.


Durch den Ansturm der Heimkehrenden herrscht Chaos auf den Straßen und liegt Gestank in der Luft. Die Menschen sind vom Krieg abgestumpft, bemühen sich nicht mehr um ein gewohntes, zivilisiertes Leben. Alles gerät ins Chaos. Die einzige Hoffnung bleibt Bloomfield, der auch tatsächlich eintrifft, doch Geld kann nicht für alles bezahlen, die große Hoffnung in ihn zerplatzt, wo dieser einfach nur das Grab seines Vaters besuchen will. Auch wurde er durch all die, die ihren eigenen Geiz und ihr Desinteresse hinter Bloomfields Gaben verbergen wollten, bewusst zu einer mächtigen Seifenblase der Hoffnung aufgebauscht. Zuerst ist Bloomfield die kommende Lösung, dann, weil es unmöglich ist, dass ein einziger, überreicher Mensch den Hunger aus der Welt schafft, gerät er zur Schuld an allem. Der Schrecken der Nachkriegszeit, das Chaos, die hungernden und verkommenden Menschen benötigen einen, auf den sie schimpfen können, ihre Unzufriedenheit wächst weiter.
Joseph Roth beleuchtet seine auftretenden Figuren von verschiedenen Seiten, treibt auch den Leser in die Hinterfragung. Da werden Unsinnigkeiten, "satte Dinge" ermöglicht, und all as Notwendige abgelehnt. Doch hier muss man sich vor Augen halten, dass ein Mann (nicht umsonst ist Bloomfield von Roth so klein und schwächlich gezeichnet) kaum die Verantwortung für alles übernehmen kann, schuldig sind auch all die, deren Desinteresse und Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen selbst in das Chaos führen.
Die Welle der Empörung wächst nicht, weil die Heimkehrer unzufrieden aus dem Krieg zurückkehren, sondern weil sie weiter hungern müssen, vor die Hunde gehen, weil sich trotz der schlimmen Erlebnisse nichts verbessert oder verändert. Die Heimkehr war auch eine Hoffnung, die in den dreckigen Straßen und Umständen verpuffte. Die Reichen bleiben weiterhin reich und gleichgültig, die Armen hungern, das sind die Bedingungen; und da sich der Reichtum oder die Helfershand heimlich davonstiehlt, wird ein neuer Sündenbock gesucht, einer, der nicht davonlaufen kann, das "Hotel Savoy", weil es als einziges tatsächliche Angriffsfläche bietet.
Alles verfällt und artet in der Revolution und in der Gewalt aus.

Der Erzähler Gabriel Dan drückt es, meiner Meinung nach, gut in seinen Gedanken über sich und Stasia aus, was in allen Menschen wuchert. Er sagt:
In Antwort auf:
Ein großer Haufen Einsamkeit hat sich in mir angesammelt, sechs Jahre große Einsamkeit. (...) Ich bin kein Eroberer und kein Anbeter. Wenn sich mir etwas gibt, nehme ich es und bin dankbar dafür. Aber Stasia bot sich mir nicht. Sie wollte belagert werden. (...) Ich war verstockt. Mir war, als ob Stasia schuld wäre an meiner langen Einsamkeit, und sie konnte es ja gar nicht wissen. Ich warf ihr vor, dass sie keine Seherin war.


Obwohl Roth einfach schreibt, schafft er es mit seinem Blick auf die Menschen Mitgefühl und Traurigkeit zu erzeugen, die sich tief in das Herz des Lesers eingraben. Seine Figuren sind lebendig und liebenswert. Wahrscheinlich ist Roth überhaupt der Schriftsteller schlechthin, dessen Romane die schönsten, traurigsten, sentimentalsten Seiten im Leben der Menschen und ihrer Zeiten aufweisen, solche, die von innen nach außen dringen, und jeden, der sich darauf einlässt, bis in die Tiefen des Buches ziehen.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 11.05.2009 22:59 | nach oben springen

#3

RE: Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 10.05.2009 17:07
von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von Taxine
Ich habe irgendwo gelesen, dass er in seinem Buch "Hiob" die Krankheit seiner Frau verarbeitet haben soll. Wenn er sich da in Briefen zurückgehalten hat, so kann man vielleicht in seinen Büchern mehr über ihn und seine Erfahrungen lesen.


durchaus, ja, jedenfalls wird der Protagonist Mendel Singer vom Schicksal sehr gebeutelt: Die Söhne Mendels kommen im Weltkrieg um, die Mutter stirbt darüber und die Tochter (enspricht Friedl?, Roths Frau) wird wahnsinnig.

Meine Leseplanung in Sachen Roth sieht so aus: Ich habe bereits mit der Legende vom heiligen Trinker begonnen, dann mache ich einen reread von "Hotel Savoy" und dann wird "Hiob" gelesen. Übrigens währt am 27. Mai Joseph Roths 70. Todestag. Ein Grund mehr, sich mit Roth zu beschäftigen.

Liebe Grüße
mArtinus



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 13.05.2009 19:47 | nach oben springen

#4

RE: Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 10.05.2009 17:17
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Gut, bei "Hiob" bin ich dabei!

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
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#5

RE: Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 15.05.2009 14:31
von Martinus • 3.195 Beiträge

"Die Legende vom heiligen Trinker"

Ist Honoré de Balzac an Überanstrengung und an exzessivem Kaffetrinken gestorben, so war es bei Joseph Roth der Alkohol, der ihm einen frühen Tod bescherte. Es ist schon sonderbar, dass Roths letztes Werk von einem Trinker handelt, dem auch ein früher Tod ereilt. Aber Joseph Roth erzählt in dieser Geschichte von wundersamen Dingen, sodass man wirklich von einer Legende sprechen kann.

Es geht um den Clochard Andreas, der in Paris unter Seinebrücken nächtigt, sich dabei mit einer Zeitung zudeckt, die ihn wärmt, so wie es alle Obdachlose machen. Nun begegnet Andreas einen Herrn gesetzten Alters, der ihm 200 Francs schenkt. Andreas wolle aber, auch wenn er unter den Brücken wohne, ihm das Geld irgendwann zurückbezahlen. Er habe aber kein Bankkonto. Wie nun solle er das Geld zurückbezahlen. Der alte unbekannte Herr aber sagt, er habe ebenfalls keine Bank, und da er Christ geworden sei, und die Geschichte der kleinen heiligen Therese von Lisieux gelesen habe, verehre insbesondere jene kleine Statue der Heiligen, die sich in der Kapelle Ste Marie de Batignolles befinde.

In Antwort auf:

"Wenn Sie es überhaupt jemanden schulden, so ist es die kleine Therese.."


Darauf sagt "der verwahrloste" Andreas:

In Antwort auf:
"Ich sehe, daß Sie mich und meine Ehrenhaftigkeit vollkommen begriffen haben. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich mein Wort halten werde..."

Was seine Ehrenhaftigkeit betrifft, so behält er sie, denn er ist versucht, das Geld der heiligen Therese zu geben. Doch es kommt immer wieder etwas dazwischen. Da versäuft er das Geld mit Pernod, und wenn ihm auf wundersame Weise eine prallgefüllte Brieftasche in die Hände gerät, dauert es nicht lange, und die Francs minimieren sich - wie das Leben so spielt. So erzählt Joseph Roth die Legende sehr liebevoll weiter, das Herz immer auf der Seite des Obdachlosen. Das Innere des Menschen zählt hier noch mehr als die äußere Verwahrlosung des Andreas, und weil es eben eine Legende ist, endet die Geschichte sehr wunderlich. Mit dieser herzlichen Geschichte hat sich Joseph Roth von der Welt verabschiedet.

Liebe Grüße
mArtinus




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#6

RE: Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 17.05.2009 16:43
von Martinus • 3.195 Beiträge
zu Hotel Savoy

Zitat von Taxine
Als schließlich sein alter Freund und "Revolutionär" Zwonimir Pansin anreist, wird die Nachkriegssituation viel deutlicher.


Ja, so ging es mir auch. In der ersten Romanhälfte war mir noch nicht so klar, worauf der Roman hinauslaufen würde. Er dann, in der zweiten Romanhälfte wird es deutlich, wenn unendlich Heimkehrer die Stadt überschwemmen. Heimkehrer, deren die Heimat genommen wurde, nur wenige werden sich in der nachkommenden Zeit noch zurechtfinden. Alexander Böhlaug, der aus dem Exil (Paris) anreist, schließlich die Varieté Sängerin Stasia mitnimmt, sie sind nur wenige, die in der neuen Welt nach dem Krieg sich irgendwie zurechtfinden werden. lDer amerikanische Miliardär Henry Bloomfield, der wegen des Todestages seines jüdischen Vaters Blumenfeld gekommen ist, verkörpert den Juden, der sich in der Neuen Welt (Amerika!) fest etabliert hat.

Bevor Zwonomir und Bloomfeld auftauchen, hat mich ebenfalls besonders das Schicksal des Clowns Santschin sehr beeindruckt.

Zitat von Taxine
....den gleichgültigen Arzt, der kein Geld nehmen will, weil er sowohl die Ursache als auch den Ausgang solch eines Lebens zur Genüge kennt


Der Arzt weiß, dass Santschin sterben wird. Da denke ich, das Sterben hier ist eine Metapher für das Sterben der alten k.u.k. Welt. ( übrigens wird in Sándor Márais Roman „Die jungen Rebellen“ die ältere Generation aus dem selben Grund krank, schwächlich und ein bisschen verrückt umschrieben). Über Taddeus Montag, Zwonomirs Freund, wird auch gesagt, er sei ein Todeskandidat. „Dünn, blaß und groß steigt er sachte herum..“ Und wenn wir gerade dabei sind, der alternde Liftboy Ignatz verkörpert auch das Sterben.

Zitat von Joseph Roth
Hier steht Ignatz mit seinen gelben Bieraugen und fährt hinauf und hinunter mit dem Fahrstuhl und hat auch Santschin zum letzten Mal hinuntergefahren.


Ignatz erscheint hier wie ein Bote des Todes.

mArtinus



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zuletzt bearbeitet 17.05.2009 18:43 | nach oben springen

#7

RE: Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 31.05.2009 14:09
von Martinus • 3.195 Beiträge
"Hiob"

erste Eindrücke der ersten Kapitel:

Joseph Roths Roman „Hiob“ erzählt die Leidensgeschichte Mendel Singers, eines orthodoxen Ostjuden. In den beiden ersten Absätzen des Romans, erfahren wir, wie damals vor dem ersten Weltkrieg Ostjuden gekleidet, wie sie ausgesehen haben: Der Mund vom Bart verdeckt, auf dem Kopf eine schwarze Mütze, hohe Lederstiefel, ein landesüblicher jüdischer Kaftan, die traditionelle Kleidung von Ostjuden. Mendel Singer wird als konventioneller Ostjude beschrieben, der durch nichts besonderes herausragt, „den schlichten Beruf eines Lehrers“ ausübt, den Kindern des Ortes die Kenntnis der Bibel (die Thora) lehrt. „Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht“. Er ist gottergeben und stellt sich seinem Schicksal.

Zitat von Joseph Roth
..die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen....Gegen den Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. > Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen< - so steht es geschrieben.


Diese Einsicht Mendels führt zu Spannungen mit seiner Frau Deborah. Sie wirft ihm vor, immer die falschen Sätze auswendig zu wissen, denn „ der Mensch muss sich zu helfen suchen, und Gott wird ihm helfen,“ so stehe es geschrieben. Diese Auseinandersetzung mag aufzeigen, dass das Judentum eine Buchreligion ist, die heiligen Texte ausgelegt werden müssen. Da kann es schon mal zu Differenzen kommen.

Deborah ist anders gestrickt als Mendel. Sie ergibt sich nicht einfach dem Schicksal, sondern geht zu einem Wunderrabbi. Sie glaubt an die Prophezeiung, das ihr schwerkranker Sohn Menuchim, einmal gesund sein wird (solch eine Wundergläubigkeit wird dem Chassidismus zugerechnet; andere jüdische Strömungen siehe hier):

Zitat von Joseph Roth
Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitterkeit milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und voll Wiederhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie gutes künden.


später mehr
mArtinus



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zuletzt bearbeitet 31.05.2009 14:12 | nach oben springen

#8

RE: Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 06.06.2009 14:48
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge
Nein, hier lässt sich nicht mehr an den Anfang zurückkehren und ganz langsam Schritt für Schritt das Buch erörtern... Oder doch? Ich werde es versuchen. Der Roman ist ja wirklich nicht besonders dick und doch lässt er einen nicht mehr los, lässt einen auch lange danach noch herumgrübeln und abwägen. Ja, was ist passiert? War es ein Wunder? Hat sich die Prophezeiung erfüllt? Ist Mendel Singer letztendlich doch gestorben?
Ich nehme an, jeder Leser wird sich hier sein eigenes Ende zurechtlegen, denn Roth hat den Raum nur geöffnet. Hier hat jeder die Möglichkeit, nach seinem eigenen "Glauben" und Denken zu erkennen, was mit Mendel geschehen ist.
Ich habe gezittert, die letzten Zeilen rasten nur so vorbei, der allzu blaue Himmel tat sich auf, die Ruhe kehrte ein, alles hat sich zum Guten gewendet, und Mendel Singer erholt sich von diesem Wunder, das ihn mit allem versöhnt, ob nun tot oder lebendig, spielt dabei dann letztendlich keine Rolle mehr.
Immer hatte ich die Befürchtung, das gleich noch ein hiobscher Schlag erfolgt, das er irgendwo liegt und alles nur geträumt hat oder sich sein geheilter Sohn Menuchim vor seinen Augen auflöst. Aber Roth legt sich hier nicht fest. Das rasende, Glück versprühende Ende ist genau das, wie man sich ein Wunder vorstellt. Aus dem Gekrümmten in die Höhe, aus der Lethargie und dem Verfall Mendel Singers, der seinen Glauben verliert und sich durch seine voran gegangene Frömmigkeit damit selbst mehr bestraft, als er je Gott damit strafen könnte, denn:
Zitat von Roth
Obwohl Mendel mit Gott böse war, herrschte Gott noch über die Welt. Der Hass konnte ihn ebenso wenig fassen wie die Frömmigkeit.

... erhebt sich Mendel seinen Wunschträumen entgegen und empfängt diese im Angesicht seines Glaubens an Gott, dem er zwar den Krieg erklärt, der aber weiterhin für ihn existiert, immernoch Macht über ihn hat, warum er auch seine Gebetsutensilien nicht wegwirft.
Schon bei Malamuds "Der Fixer" konnte man die jüdische Art zu Beten sehr gut nachvollziehen, Roth zeigt die Juden in Gebet, beim Sabbat, beim Gesang. Auch die Reaktionen der anderen Gläubigen, als Mendel Singer seinen Glauben verliert, fand ich großartig, wie sie ihn in ihrer Mitte aufnehmen und ihm verzeihen:
Zitat von Roth
Es war, als glaubten die Juden, dass Mendel und Lemmel (der im Krieg seine Hand verloren hat) das ganze Ausmaß des Unglücks, das allen zugedacht gewesen, untereinander aufgeteilt hätten.


Die unterschiedliche Art zu glauben, zeigt sich ja bereits am Anfang zwischen Mendel und Deborah, das hast du ja schon schön ins Wort gefasst, Martinus.
Mendels „gerader Sinn (ist) auf die einfachen irdischen Dinge gerichtet und (verträgt) kein Wunder im Bereich der Augen“, er hat tiefes Vertrauen in Gott, ohne ihn in Frage zu stellen oder das, was er mit ihm vorhat. Seine Frau benötigt etwas, an das sie sich klammern kann, darum rennt sie zu dem Wunderrabbi und will die Prophezeiung aus einem Mund vernehmen, sie benötigt Tatsachen. Gott ist zu weit weg, hinter „unendlichen Himmeln“, zu groß, als dass sie es wagt, ihre Gebete an ihn zu richten.
Beide glauben eigentlich an das Gleiche, lehnen den Arzt ab, die Medizin, wollen die Heilung von ihrem epileptischen und verkrüppelten Sohn Menuchim alleine durch ihren Glauben ermöglichen.
Man betrachte hier den Aufwand, den die Frau sich aufbürgt, um sich in ihrem Glauben zu bestärken, sie fährt eine sehr weite Strecke, liegt dann in irgendeinem fremden Zimmer, wartet zum nächsten Morgen, um vom Rabbi dann genau das zu hören, was Mendel für sich selbst – ohne den ganzen Aufwand – bereits weiß. Sein Glaube ist uneingeschränkt, ohne Zweifel. Er benötigt keine Beweise.
Aus anderer Perspektive wirkt Mendel selbst streng und kühl, während seine Frau Deborah vor Liebe zu ihrem Kind brennt, beinahe verbrennt.
Zitat von Roth
Die älteren Kinder wuchsen und wuchsen, ihre Gesundheit lärmte wie ein Feind Menuchims, des Kranken, böse in den Ohren der Mutter. Es war, als bezögen die gesunden Kinder Kraft von dem Siechen, und Deborah hasste ihr Geschrei, ihre roten Wangen, ihr geraden Gliedmaßen.


Bis sie ihn in Russland zurücklassen und nach Amerika gehen, ist es noch ein weiter Weg.
Ja, Roth und seine Fähigkeit vom Gefühl, nein... DAS GEFÜHL zu schreiben. Wie schnell will man diesen kleinen, kranken Jungen vor der Welt retten, vor seinen Geschwistern, die noch zu eitel sind, um sich liebevoll um ihn zu kümmern, die Schwester, in deren Augen die Abscheu vor dem lächerlichen Bruder aufleuchtet:
Zitat von Roth
Die Zärtlichkeit, mit der sie sein aschgraues verknittertes Angesicht streichelte, hatte etwas Mörderisches.


Das Vertrauen Mendels ist unbegrenzt, auch dann, wenn ihm Schlimmes widerfährt. Gott wird geben, Gott wird strafen. So, seine einfache Erklärung für alles. Nur darum wird er am Ende auch verzweifeln. Unbegrenztes Vertrauen wird irgendwann bis ins Mark erschüttert, wenn man den Grund nicht versteht. Ein Zweifler wäre nicht so angreifbar, hätte bestimmte Erklärungen, warum Gott ihn straft. Und doch könnte der Außenstehende einige Gründe für Mendels Verwandlung in Hiob nennen. Er ruht, dagegen versucht seine Frau, sich den Ereignissen als Mensch zu nähern, etwas zu unternehmen. Beide Richtungen erscheinen fragwürdig, während die Ruhe Mendels, der sein Schicksal akzeptiert, der Unruhe seiner Frau gegenüber gestellt, vorerst vernünftiger erscheint. Sie aber ist ein knauseriger Mensch, versteckt Geld unter der Fußbodendiele, richtet ihre Liebe auf nur ein Kind, vernachlässigt die andere Liebe zu ihrem Mann. Mendel erkennt später in Amerika, dass es vielleicht auch Grund dafür war, dass Gott ihn straft, weil sie nicht in Liebe, sondern in Gewohnheit miteinander lebten. Er hat Gott mehr geliebt, als seine Frau und seine Kinder.
Als beide Söhne als Soldaten eingezogen werden, Jonas schließlich seinem Naturell entsprechend, Freude daran zu haben scheint, während sein schmächtiger und klügerer Bruder durch die Bestechung eines Beamten durch seine Mutter noch einmal davonkommt, wird Mendel zum ersten Mal auf die Unterschiede zwischen ihnen aufmerksam.
Schön fand ich diese Szene, als Jonas sich beim Fuhrmann durchschlägt, die Mägde beglückt und jeden Tag betrunken ist:
Zitat von Roth
Er war sehr betrunken, und er erkannte seinen eigenen Vater nicht, der manchmal zögernd vorbeischlich, ein Schatten, der sich vor sich selbst fürchtet, ein Ater, der nicht aufhörte zu staunen, dass dieser Sohn seinen eigenen Lenden entsprossen war.


Überhaupt hat Roth viele liebenswürdige Szenen im Text, durch die man jede Figur auf ihre Art lieb gewinnt. Die Strenge im Haus Singers deutet sich nur an und zeigt sich höchstens in den Reaktionen der Kinder. Mirjam sehnt sich nach Liebe und Freiheit und schläft dafür mit jedem Kosaken, der ihr ein Gefühl vermitteln kann, Schemarjah flüchtet nach Amerika und verwandelt sich in Sam, einem nach Reichtum und Erfolg strebenden Menschen, der auf der Stirn den Stempel des American Way of Life trägt, Jonas flüchtet vor dem Glauben selbst und wird ein grobschlächtiger, saufender Soldat. Selbst in Deborah zeigt sich der Wunsch, dem absoluten Glauben ihres Mannes ab und an zu entkommen, sei es durch den Glauben an den Rabbi, durch das Verstecken von Geld (die bewusste Sünde), durch die Worte: "Ach ja, du gehst beten. Beten gehst du!" oder ihren Liebesentzug schlechthin. All diese Bewegungen in den Menschen werden nur am Rande sichtbar, während Mendel mit seinem reinen, aufgeräumten Inneren dazwischen erstrahlt und unangreifbar bleibt.
Warum die Familie dann letztendlich nach Amerika aufbricht - die Rettung der Tochter vor den schlimmen Kosaken erscheint mir doch eher als Ausflucht -, warum das kranke Kind zurückgelassen wird, verstehe weder ich als Leser noch die Familie am Ende selbst. Der Reichtum, die bessere Welt locken, die Hoffnung auf etwas Glück vielleicht.
Roth versteht es auch dort die Gegensätze großartig aufzuzeigen, wo er einmal die Sicht aus dem Blick des gläubigen Mendel Singers zeigt, die Art, wie sie sich schnell einleben, die Theater- und Kinobesuche seiner Frau, die wenigen englischen Worte, mit denen sie sich verständigen können (oder auch nicht), die Freuden am Miteinander, das scheinbar kurzzeitig eingetretene Glück, während sie - dem schnell als Wirklichkeit gegenüber gestellt - in einer trüben Absteige leben, in der Schmutz, Ratten, Flöhe und Wanzen Normalität sind, die Schritte der Schlaflosen über ihrem Kopf erklingen… usw.
Hier vermittelt Roth einen guten Einblick in den Blick von innen und den äußeren Blick der Tatsachen, die immer sind, wie man sie sieht.

Als dann der Krieg ausbricht, beginnt der Glaube Mendels zu bröckeln. Schon als er nicht mehr nach Russland zurück kann, weil er sich nach seinen kranken Sohn sehnt, wo er ahnt, dass Jonas auf dem Schlachtfeld gefallen und Menuchim zurückgelassen im eigenen Haus verbrannt sein könnte, fragt er sich, ob sein Singen der Psalmen nicht zu wenig ist.
Zitat von Roth
"Die Kanonen", dachte er "sind laut, die Flammen sind gewaltig, meine Kinder verbrennen, meine Schuld ist es, meine Schuld Und ich singe Psalmen. Es ist nicht genug! Es ist nie genug!"


Natürlich trägt er nicht Schuld an all diesen Umwälzungen und dem Ausbruch des Krieges, und beschützen kann er seine Kinder nicht in jeder Konsequenz, jedoch verurteilt ihn sein Vertrauen in Gott, sein absoluter Glaube in ihn und sein Tun, zur Handlungslosigkeit, was ihm in solchen Momenten bewusst wird. Er hätte seinen kranken Sohn nicht verlassen sollen, auch das war nur durch seinen Glauben möglich, er hätte Sam abhalten können, in den Krieg zu gehen, er hätte…
Es ist schwierig, hier zu urteilen, die verschiedenen Blickwinkel lassen sich nicht alle gleichzeitig betrachten.

Ich nehme stark an, dass der Verfall Mirjams und der vor Kummer eintretende Tod von Deborah (die sich die Haare ausreißt) Einiges von den Erlebnissen widerspiegeln, die Roth mit seiner Frau erlebt hat. Das Gesicht des Wahns zeigt sich ihm böse und hässlich:
Zitat von Roth
Dann sah er durch die breite Tür aus spiegelndem Glas, die diesen Warteraum von dem weißgetünchten Korridor trennte, wie draußen Menschen in blaugestreiften Kitteln paarweise vorbeigeführt wurden. Zuerst Frauen, dann Männer, und manchmal war einer von den Kranken sein wildes, verkniffenes, zerrissenes, böses Gesicht durch die Scheibe der Tür in den Wartesaal. Alle erschauerten, nur Mendel blieb ruhig. Ja es erschien ihm merkwürdig, dass nicht auch die Wartenden blaugestreifte Kittel trugen und er selbst auch nicht.


Das sind einmal die ersten Eindrücke, die mich sofort überflutet haben, nachdem ich das Buch jetzt wirken ließ. Ich bin begeistert von Roth, weil er mir die Möglichkeit gibt, mir selbst ein Bild zu machen, was ein Wunder und was geschehen ist. Aus der grauen und düsteren Hinterhofstadt gelangt Mendel Singer an der Hand seines nun schönen und erfolgreichen Sohns an das ewige Meer seiner Träume, wo sich all seine Wünsche erfüllen und sein Glaube an Gott nicht mehr zu hinterfragen ist.



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 06.06.2009 15:16 | nach oben springen

#9

RE: Joseph Roth

in Die schöne Welt der Bücher 07.06.2009 15:59
von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von Taxine
Das Vertrauen Mendels ist unbegrenzt, auch dann, wenn ihm Schlimmes widerfährt. Gott wird geben, Gott wird strafen. So, seine einfache Erklärung für alles. Nur darum wird er am Ende auch verzweifeln. Unbegrenztes Vertrauen wird irgendwann bis ins Mark erschüttert, wenn man den Grund nicht versteht.


Mendels Glauben wird erst erschüttert, als er als einziger zurückbleibt. Er sucht hierfür eine Erklärung. "Vielleicht war das unsere Sünde", sagt er, weil er sie (Deborah) in späteren Jahren verschmäht habe. Die andere Sünde, die hier im Raum steht ist, dass sie Menuchim verlassen haben, obwohl der Wunderrabbi gesagt hat, sie sollen ihn niemals verlassen.
Zitat von Roth

"Für Wunder muß man auch Glück haben. Mendel Singers Kinder haben kein Glück! Sie sind eines Lehrers Kinder!"


Hier hat selbst der Erzähler alle Hoffnungen aufgegeben. Auch Deborah ist im Glauben erschüttert:

Zitat von Roth
Haben wir Unrecht getan? Warum ist er so grausam?


Mendel wirft ihr Lästerung vor. Als Mendel in aller Härte vom Schicksal getroffen wird, lästert er quasi auch, weil er "Gott verbrennen" will. Mendel läuft Phasen des Glaubens durch, wird selbst zum Zweifel. Sein Leben scheint aus ihm gewichen zu sein. Die Schicksalsschläge führen ihn in eine seelische Erstarrung.

Zitat von Roth
Aber mein Blut stockt, meine Hände sind welk, mein Herz ist leer. Ich bin nicht Mendel Singer mehr, ich bin der rest von mendel Singer. Amerika hat uns getötet.


In dieser Erstarrung, dem Gefühl von getötet sein, steckt noch viel mehr als nur das. Dieses Gefühl der Abgestorbenheit vom Glauben ist verursacht vom Leben in der Diaspora. Mendel jedenfalls glaubt im Moment jedenfalls das. Die Zerrissenheit seiner Familie steht für die Zerrissenheit des jüdischen Volkes, die aus dem heiligen Land Pälästina ausgewandert sind und nun in der Fremde leben. Dieses in der Fremde leben, kann auch Abtrünnigkeit vom jüdischen Glauben bedeuten. Das sieht man am Beispiel von Jonas sehr deutlich, der nun bei den Kosaken auf der Seite des Zaren kämpft. Hierzu muss man wissen, dass die Kosaken schon seit langem antisemitisch waren. Schon vor dem ersten Weltkrieg gab es im polnisch-russischen Grenzgebiet gewalttätige Übergriffe von Kosaken anden Juden (Progrome); damals sind schon viele Juden aus dieser gegend geflüchtet. Darüber erzählt Henry W. Katz in seinem Roman "Die Fischmanns". Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wurden schon polnische Juden von griechisch-orthodoxen Kosaken umgebracht (historisches Stichwort: "ukrainisches Gemetzel" von 1648/49; vgl. auch Isaac Bashevis Singer"Jakob der Knecht".

Das jüdische Schicksal in der Diaspora steht also hinter der Zerrissenheit von Singers Familie. Doch das Wunder, die Erscheinung Menuchims in Amerika, führt zur Läuterung Mendel Singers. Er glaubt nun, selbst in der Fremde ist jüdisches Leben möglich, seine Religion ist doch nicht Verschutt gegangen.

Über Menuchim sagte der Wunderrabbi: "Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel." Es wird auch gesagt, Menuchim habe „die ganze Anzahl menschlicher Qualen auf sich genommen, die sonst vielleicht eine gütige Natur sachte auf alle Mitglieder verteilt hätte.“ Menuchim erscheint wie ein vom Tode auferstandener, wie ein Messias.

Liebe Grüße
mArtinus



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 07.06.2009 16:01 | nach oben springen


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