HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Ulrich Woelk, geboren am 18. August 1960 in Köln, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er studierte in Tübingen Physik und schrieb 1987 seine Diplomarbeit zum Thema Chaostheorie. Bis 1995 war er als Astrophysiker an der TU Berlin tätig (Promotion 1991).
1990 wurde er für seinen ersten Roman „Freigang“ mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet.
Sein physikalisches Wissen ist das, was seine Bücher so interessant macht. Die kleine Überlegung zwischendurch, diese ganz klare Sprache, das ergibt eine schöne Mischung aus Literatur und Wissenschaft.
Nachdem ich zunächst seinen Roman "Freigang" gelesen habe, griff ich auch zu seinen anderen Büchern und war positiv überrascht. Für einen "Zeitgenossen" schreibt Woelk wunderbar erfrischend, mit neuen Ideen. "Die Einsamkeit des Astronomen", die Fortsetzung von "Freigang", hat mir ebenso gefallen. Dort heißt es u. a.:
In Antwort auf:
Betrachtet man Schneeflocken unter einem Mikroskop, so findet man im ganzen Universum keine zwei, die einander exakt gleichen... Die Natur ist eine Überflussmaschine, die mit ihrem ununterbrochenen Hervorbringen und Verwerfen von Konstellationen nicht die geringste Rücksicht nimmt auf unsere Sehnsucht.
Aber noch einmal zu "Freigang" zurückgekehrt.
Hier wird die Geschichte des jungen Physikers Zweig erzählt, der seine Vergangenheit zu rekonstruieren versucht.
In Antwort auf:
Zwischenstationen auf dieser Reise durch seine Erinnerungen sind ein baufälliger Palast in Italien, ein mindestens ebenso geheimnisvoller Turm in Deutschland, der Besuch in einem fingierten Spielcasino, der Abstecher in ein reales Rotlicht-Kino, bierselige Gespräche in einer Kneipe und ein Vatermord.
Das ist so ganz gut zusammengefasst.
Derweil sitzt der Protagonist in einer Irrenanstalt, weil er angeblich seinen Vater umgebracht haben soll und wartet auf sein Urteil, wobei er nicht weiß, ob er seinem Arzt trauen soll:
In Antwort auf:
Er ist Arzt; von Ärzten erfährt man die Wahrheit grundsätzlich nur auf Raten.
Hier nun hat er viel Zeit, um sich mit dem eigenen Selbst auseinanderzusetzen.
In Antwort auf:
Wenn schon Kunst, dann Literatur. Er sehe einen großen Vorteil darin, dass sich die Dichter des Wortes bedienten, was sie kritisierbar, widerlegbar mache, was man von anderen Künsten nicht gerade sagen könne, er jedenfalls sehe keine Möglichkeit, eine Staute oder eine Sinfonie zu widerlegen.
... Und der Physiker schimmert durch alles hindurch.
In Antwort auf:
Realität kann man nicht analysieren, sie ist. Einsteins Gleichungen entziehen sich psychologischer Interpretation.
In Antwort auf:
Ahnungen sind Vorstellungen dessen, was passieren könnte, und da ungeheuer viel passieren kann, sind die meisten Ahnungen Makulatur: Man vergisst das Befürchtete, froh, dass es nicht eingetreten ist. Aber wehe, es tritt ein! Dann erzählt man jedem, der es hören oder nicht hören will, dass man es bereits vorher gewusst habe; also Ahnung als Eitelkeit des alltäglichen Vorstellungsvermögens.
Schön ist der offene Text, nicht das aufdringliche Erklären-Wollen.
Die Phantasie, bei der Zweig auf der Suche nach sich selbst verletzt wird, ist richtig verwirrend. Er gibt fälschlicherweise aus Liebeskummer an, dass er seinen Vater umgebracht hat, wird dann vom Arzt schuldig gesprochen, obwohl er eingesteht, dass der Vater noch lebt, wird beschuldigt, den Vater in irgendeinem anderen unbekannten Toten hineininterpretiert zu haben und träumt dann, dass ihm Blut aus dem Ohr läuft, als er sich möglicherweise neu verlieben könnte.
Vielleicht heißt das, der Liebeskummer eines Physiker kann ohrenbetäubend sein.
Es ist auf jeden Fall ein schönes Buch.
Nun ist mir sein Buch "Einstein on the lake" in die Hände gefallen. Hier dreht sich alles um folgende Frage:
[size=18]Hat Albert Einstein seine geheimsten Unterlagen im Templiner See versenkt?[/size]
Der Ich-Erzähler trifft hier auf seinen alten Schulfreund, einem Juristen, der herausfinden möchte, ob Einstein, weil er aus Deutschland fliehen musste, seine Aufzeichnungen vielleicht irgendwo im Wasser versenkt haben könnte, um sie vor den Nazis zu verstecken. So ziehen die beiden Männer los, um das selbst erschaffene Geheimnis zu ergründen.
Woelk schreibt auch hier, wie in allen seinen Romanen, mit feinem Humor. Zum Beispiel, als der Ich-Erzähler die Taucherausrüstung beschreibt und um seine eigene Detailgenaugigkeit erstaunt ist:
In Antwort auf:
Ich muss zugeben, dass es mich immer sehr beeindruckt, wenn Menschen sich in völlig nebensächlichen und absolut nicht lebensnotwendigen Gebieten minutiös auskennen, da es mir beerits schwerfällt, in den wichtigen die nötige Sachkenntnis zu erwerben, beziehungweise wach zu halten. Aber vermutlich ist bereits die Unterscheidung zwischen wichtigem und unwichtgem Wissen altmodisch.
oder wenn er so seinen Freund betrachtet:
In Antwort auf:
Und auf einmal wirkte er wie das Sinnbild einer Generation, die es post mortem nie zu heroischen Marmorstatuen bringen wird, dafür zu Lebzeiten aber zu Millionen von friedlichen Schaufensterpuppen.
Nun habe ich das kleine Büchlein durch. "Einstein on the lake" zeigt wenig Tiefe, ist aber im Großen und Ganzen recht passabel.
Noch einen Satz fand ich lustig:
In Antwort auf:
Vielleicht sollte man Beerdigungen nicht als Zaungast mitverfolgen, ebensowenig wie man bei einer Theateraufführung hinter den Kulissen stehen sollte. Es kann nur sonderbar oder ziemlich desillusioniernd sein, Hamlet zwischen zwei selbstzerstörerischen Monologen in der Kantine ein Bier trinken zu sehen.
Es bleibt ein Buch, das man nicht unbedingt lesen muss.
Art & Vibration