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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Charles Robert Maturin

in Die schöne Welt der Bücher 03.11.2009 20:12
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Melmoth, der Wanderer

So trete ich denn wieder in dem unziemlichen Gewande eines Romanschreibers vor das Publikum, freilich nicht ohne die Notwendigkeit gebührend beklagt zu haben, welche mich zu solchem Schritt zwingt. Würfe mir mein Amt genug ab, ich erachtete es für sträflich, meinen Lebensunterhalt auf andere Weise zu verdienen.

Charles Robert Maturin - auch wieder einer dieser Schriftsteller, die lange und vielleicht auch längst vergessen sind und durch die Surrealisten wiederentdeckt wurden (wie z. B. auch Lautréamont). Blickt man auf das Wenige, was über Maturin bekannt ist, so muss er auch als Mensch hinter seiner Literatur interessant gewesen sein, als einer der Vorgänger des bald darauf folgenden Dandy-Typs. „Sein langes, bleiches, Don Quixote-, Out-of-the-world-Gesicht hätte einen glauben lassen können, dass Dante, Bajadez und der Cid gemeinsam aus ihren Gräbern gestiegen seien und ihre Gesichter um der Wirkung willen vereint hätten.“ – schreibt der Zeitgenosse James Clarence Mangan in „The Irishman“ über ihn. Unangepasst, exzentrisch, auffallend, seiner Zeit nicht entsprechend, schon gar nicht in Irland, wo er am 25. September 1780 in Dublin zur Welt kommt und ziemlich jung (44 Jahre alt) wieder stirbt, wo er bald schon den zweifelhaften Ruf eines Geistlichen genießt, der sich in düsterem Hinterzimmer in aller Armut am Schreiben erprobt und sein Werk mit zynischen und sehr kritischen Auseinandersetzungen mit den Zuständen um ihn herum und dem Irrgehabe der Religionen und ihrer Anhänger spickt.
Aus einer Familie stammend, in der bereits sein Ahn, Gabriel Maturin, Flüchtling bei der Hugenottenverfolgung unter Ludwig XIV. war, ist das vielleicht gar nicht so verwunderlich, so liegen seine Wurzeln in Frankreich, bis seine Vorfahren dann nach Irland flohen. Und das, was als Religionschaos um ihn herum und in der Welt tobte, tat das Übrige, wobei er schnell zum Freigeist – zu freigeistig – geriet, woraufhin dann wiederum die Ablehnung aus allen möglichen Richtungen erfolgte, weil er all diesen Menschen ihr fanatisches Gesicht vor Augen hielt, ohne Partei zu ergreifen, höchstens im Sinne des natürlichen Christentums.
Es heißt, dass Maturin sehr theatralisch war, „zu gern“ tanzte und angeblich immer auffallen wollte. So soll er sich u. a. zu Hause beim schreiben, zum Zeichen, dass er nicht gestört werden wollte, eine Hostie auf die Stirn geklebt haben.
So tanzte er als ein pathetischer, bald ungestümer, bald melancholischer geistlicher Clown in dem kleinen Rund, das die Gesellschaft ihm zugewiesen hatte. Seine eigentliche Revolte war das Schreiben.… heißt es so schön über ihn im Nachwort.

Wenigstens vom Gefühl her scheint das Glück auf seiner Seite zu sein. Er heiratet seine Jugendliebe und amtiert bald als Hilfsgeistlicher, bis er 1805 Pfarrer wird.
Sorgenfrei lebt Maturin deswegen keinesfalls. Sowohl die finanzielle Bedrängnis, wie auch die wachsende, soziale Ächtung verfolgen ihn ein Leben lang (wenn es auch nicht besonders lang war), sein Vater wird trotz erwiesener Unschuld unehrenhaft aus dem Staatsdienst entlassen, und Maturins erstes Stück, das zwar einigen Erfolg hat, wird durch die Bürgschaft für einen insolventen Verwandten in seinen Tantiemen schnell aufgebraucht. In London genießt Maturin seinen kleinen Erfolg, außerhalb der Theater ist diese Stadt für ihn aber ein Albtraum, was ihn zurück nach Dublin führt. Auch folgen darauf zwei – eher durch die kurze Anerkennung geprägte– Stücke, die beim Publikum vollkommen durchfallen und ihn lächerlich machen.
Maturins letzte Jahre, in denen er auch „Melmoth, der Wanderer“ schreibt, sind voll von Verbitterung und Einsamkeit. Durch seinen sehr kritischen Blick zieht er die Skeptiker an oder stößt sie vielmehr ab, Protestanten wie auch Katholiken meiden ihn gleichermaßen, bis er selbst ungesellig wird und sich zurückzieht.
Am 30. Oktober 1824 stirbt er nach vierwöchiger Krankheit: angeblich hat er bei der Einnahme seiner Medizin einen Fehler gemacht.

Der Tod alleine reicht aber noch nicht für das schnelle Vergessen aus. Walter Scott, einer seiner begeisterten Anhänger, will ihn in gesammeltem Werk herausbringen und seine Biographie schreiben, wobei ihm die Geldmittel ausgehen. In dieser Zeit vernichtet Maturins ältester Sohn – „geistlichen Ekels voll, den Namen des Vaters mit der Literatur und der Theaterbühne verbunden zu sehen“ – die hinterlassenen Manuskripte. Ein irgendwie fast schon klassischer Ausgang.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde seine Figur „Melmoth“ dann kurzzeitig zum Emblem des Selbstverständnisses der Literaten in ihrer Revolte gegen die Gesellschaft des Hochkapitalismus. So haben Baudelaire und Lautréamont ihn geschätzt, und sein – aha – Großneffe Oscar Wilde sich für die letzten Jahre in Paris seines Figur-Namens als Pseudonym – Sebastian Melmoth– bedient, während noch Hofmannsthal annahm, „Melmoth“ wäre eine Erfindung von Balzac. Dieser sagte über Wilde und sein Pseudonym:

Zitat von Hofmannsthal - Prosa 2/Sebastian Melmoth
Dieser Name war die Maske, mit der Oscar Wilde sein vom Zuchthaus zerstörtes und sein von den Anzeichen des Todes starrendes Gesicht bedecke, um noch einige Jahre im Dunkel dahinzuleben.





Es liegt etwas Dramatisches im Üblen, wir verweilen lange bei der Beschreibung eines Sturms oder einer Pestilenz (...) aber wer hat jemals ein Buch geschrieben, der Menschheit mitzuteilen, dass er glücklich war? Glück ist eine einzelne, eine vielleicht nicht mitteilbare Empfindung, aber Schmerz ist unerschöpflich fruchtbar und beredt.

„Melmoth, der Wanderer“ ist durchaus kein reiner Schauerroman, reiht sich höchstens in die Reihe der mythologischen Romane, dabei der Kunst der „gothic novel“ folgend, und wird damit zu einem Werk, das sich in spiritueller Radikalität versucht, philosophisch und hauptsächlich theologisch ist, auf eine allgemeine Umdüsterung des Gemüts hinausführt und zu einem Kondensationspunkt an romantischer Sensibilität gerät, die einem bisweilen als Leser auch ganz schön auf die Nerven gehen kann, wenn dann immer wieder dieses „Jene Menschen, die…“ erfolgt. Das alles ist pur Maturin.

„Melmoth“ wird 1820 geschrieben. Die Literatur erfährt zu der Zeit einen Umschwung ins Mythologische, befasst sich mit dem Bürgertum als eine Art Neukonstruktion menschlicher Beziehungen, wobei die Mythologie dann den Bruch mit dem, was als geschlossener Kreis und Erfahrung gilt, erneut rekapituliert. Die Helden solcher Romane geraten so zwiespältig wie deren Gefühle. Hungrige nach Unbedingtheit, die als „totale Individuen Unendlichkeit verstehen“, die genießen wollen und somit Verbündete des Teufels sind. Ursprung und Veränderung werden durch die äußeren Umstände, besonders durch die französische Revolution entfacht, die durch die blutrünstige Wirklichkeit auch die blutrünstige Literatur ermöglicht, wo nicht mehr nur angedeutet, sondern auch ausgesprochen werden muss und wird. Die bürgerliche Klasse bestraft sich selbst und porträtiert sich als verfolgte Unschuld, durch sich selbst bedroht.
Im „Prinzip der Hoffnung“ schreibt Ernst Bloch:

Zitat von Bloch
"Die bürgerliche Gesellschaft hat mit der individuellen Wirtschaftsweise den Sinn für abenteuerliche und gigantische Subjektreize erst erzeugt; gleichzeitig erschienen ihr diese, gemessen am wirklichen Bürger, dem Bourgeois, als „unbürgerlich“.



Melmoth nun ist eine Figur, die Mephistopheles und Faust in sich vereint. Es gibt nicht mehr das „nur Böse“, der Drang nach Wissen hat Melmoth zu dem gemacht, was er ist. Die verfluchte Gestalt, die mit samt seines ewigen Wissens herumirrt, der zum Mensch-Sein Verdammte, den die Welt samt Inhalt anekelt (wobei er sich dabei nicht ausnimmt). Dabei trägt er auch eine seltsame Art Unschuld in sich. Seine Chance zur Erlösung ist nur unter Menschen im Elend möglich, wodurch sich die gesellschaftliche Ordnung auch im Roman in seiner Verblendung, Versklavung und Vernichtung zeigt, somit in einer Wirklichkeit, in die hinein eine fantastische Figur versetzt wurde, um in ihr dann in gleicher Form zu scheitern, das Erfahrene wieder umzukehren und somit aus dem Negativen wieder eine positive Wendung zu bedingen. Das Interessante ist, dass Melmoth den Glauben selbst nicht verachtet, sondern was aus ihm gemacht wird. Da spricht aus ihm wohl eindeutig die Stimme Maturins.

Bei diesem Roman handelt es sich (wie auch bei Potocki, der am Rande durch Maturin inspiriert war, wie andere dann wiederum durch ihn) um ein Geschichten-in-der-Geschichte-Werk, wobei dieses sich nicht sonderlich verschachtelt. Maturin geht von einer Nebenfigur aus (der Nachfahre Melmoths), die auf eine andere trifft (der Spanier), die dieser dann die Geschichte über sich selbst und der Begegnung mit dem düsteren Melmoth erzählt, die wiederum durch eine Geschichte in einer anderen Geschichte (also aus anderer Perspektive) auf Melmoth zurückführt, sich dabei auch gerne in verschiedene Erzählungen verzweigt und damit von der eigentlichen Erzählung kurzzeitig abweicht, bis all das schließlich wieder in der ersten Szene schließt, wo Melmoth dann auch selbst auftritt, um zu sterben.
Man ist leicht irritiert, weil Maturin in unterschiedliche „Räume“ springt, wo er von der felsigen Küste Irlands über das düstere Spanien auf eine nahe Indien gelegene Insel gerät, um dann wieder von Spanien nach Irland zurückzukehren. Diese Reiselust im Roman, so wird ihm unterstellt, hängt mit der äußeren Ereignislosigkeit seines eigenen Lebens zusammen, so dass er sich in seinem theatralisch geneigten Wesenszug diese Reisen dann so im Geist ermöglichte. Wer weiß...




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 03.11.2009 22:24 | nach oben springen

#2

RE: Charles Robert Maturin

in Die schöne Welt der Bücher 03.11.2009 20:13
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zunächst aber zum Anfang:
Der junge John Melmoth kehrt auf das Anwesen seines im Sterben liegenden Oheims zurück, bei dem er aufgewachsen ist, ein Geizhals erster Güte, umkreist von einer von seinem Geiz befallenen Umgebung, und trifft dort auf ein eigenartiges Portrait, das einen seiner Vorfahren darstellt, mit teuflisch starren Augen, ein Mensch, der - laut Aussagen verschiedener Leute -scheinbar als Geist und immernoch lebendig gesehen worden ist. Als sein Oheim stirbt, trägt er ihm testamentarisch auf (denn es war scheinbar sein Entsetzen vor dieser Erscheinung, die ihm das Leben kostete), dieses Portrait und ein dazu gehöriges Manuskript zu verbrennen, wobei es John überlassen bliebe, dieses zu lesen.
Das besagte Manuskript ist von einem Stanton verfasst, und geht dieser Geistererscheinung auf den Grund, um besagter Person, nämlich Melmoth, dann tatsächlich in einer Irrenanstalt zu begegnen, weil Stanton durch die verbissene Forschung, ihn zu finden und zu definieren, von den Leuten für verrückt erklärt wird. Dort offenbart sich Melmoth dann zum ersten Mal als teuflischer Verführer und lässt eine Art ihm eigene Macht erkennen, wobei das Manuskript an dieser Stelle unleserlich wird. John verbrennt das Portrait schließlich, wobei ihm der Abgebildete nun selbst leibhaftig erscheint.

Ein Schiffsunglück führt einen Spanier in das von John Melmoth nun geerbte Haus, wobei dieser dem anderen zuvor, trotz des eigenen Ertrinkens, das Leben gerettet hat. John Melmoth hatte den anderen Melmoth inmitten des tobenden Sturms starr und lachend über dem - sich vor ihrer beiden Augen abspielende - Unglück auf oberstem Felsen stehen gesehen (ein wirklich herrliches Bild, das sich am Ende erneut bildet) und war beim Versuch, diesen zu erreichen, ins Wasser gestürzt. Sein Retter, wenig erholt, scheint erschrocken über die Namensverwandtschaft, denn auch er kennt die düstere Gestalt Melmoths und beginnt seine Geschichte zu erzählen, die im Gesamten dann eigentlich auch den ganzen Roman ausmacht.
Wir treffen auf ihn als ein Kind in Spanien, das durch die Eltern gezwungen wird, die Mönchskutte überzuziehen (wobei sich die Eltern, wie es damals Brauch war, auf diese Art unliebsamer Kinder entledigten), wobei damit das Gewand des Glaubens zum Kostüm gerät, wie auch der Mensch darunter, verloren vor Kummer und falscher Berufung. Es wird aufgezeigt, wie heuchlerisch und falsch es hinter den Mauern des Klosters zugeht, während die Geißelungen und all die zum Vorteil des Klosters über jede Menschlichkeit steigenden Maßnahmen dem erzählenden Spanier zur immer größeren Last werden. Als unehelich gezeugtes Kind muss er für die „Sünden“ seiner Eltern büßen, man verlangt von ihm, sich zu Gott zu bekennen, während er völlig richtig erklärt, dass er, würde er sich zum Leben im Kloster bekennen, Gott mehr verriete, als durch seine Ehrlichkeit im Verzicht. Doch all das ist längst beschlossene Sache und natürlich nur Vorwand, um ihn „freiwillig“ dazu zu nötigen, sein Gelübde abzulegen, was auch unter den erbärmlichsten Bedingungen geschieht.

Während man das alles so liest, wird man dann immer stutziger, denn irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas legt sich nach und nach als Bild über ein anderes, längst bekanntes. Da folgt man diesen ersten 150 Seiten und gerät auf einmal ins Zweifeln, bis sich all das zu einer Tatsache anordnet. Denn da muss Maturin ein außergewöhnlicher Einfall gekommen sein, durch ein Buch angeregt, dass ein gewisser Diderot 1760 verfasst hat.
Vielleicht dachte er sich, dass die Schrift nicht bekannt genug war/sein würde, um sich ihrer ganz einfach zu bedienen, und zwar nahezu komplett.
Die gesamte Klosterszene im Bericht des Spaniers ist die genaue Kopie von Diderots Roman „Die Nonne“, nur dass sich eben die Geschlechter unterscheiden, bei Diderot ein junges Mädchen dem Zwang ihrer Eltern unterliegt, während es bei Maturin eben jener Spanier ist, der Melmoth seine Irrfahrt berichtet. Natürlich könnte man annehmen, dass sich damals die Geflogenheiten in den Klöstern glichen, dort die gleichen Bedingungen herrschten (ich muss zugeben, ich hatte aus Sympathie für den Autor kurz wirklich diesen Verdacht, der sich aber schnell wieder verflüchtigte), doch leider ähneln nicht nur die Aussprüche und Reaktionen dem diderot’schen Roman, sondern der gesamte Ablauf, alle nacheinander folgenden Vorgänge, die Handlungen aller Personen, die Gedanken, der Anlass, warum beide Menschen ins Kloster gesperrt wurden, wie auch die darauf erfolgenden Reaktionen sowohl der Kinder, der Eltern, wie auch der Geistlichkeit. Der heimlich verfasste Brief an den Advokaten, die Ablehnung der Gerichtsbarkeit, der Kampf mit den „Maßnahmen der Mönche“, bishin zu jenen, bis ins Kleinste kopierten Details wie der Totenschädel im Verlies, das von Tränen benetzte Brot und die Anreise durch eine höhere Instanz (bei Maturin durch den Bischof dargestellt). Man könnte beide Romanfiguren einander gegenüberstellen, und sie würden sich in ihrem gesamten Erlebnis und Denken spiegeln.
Wäre diese gesamte Szene nun nicht geklaut, so könnte man ihm durchaus zugute halten, dass er sie besser und bildhafter (auch durch seine Ausführlichkeit und seiner Neigung zur dramatischen Szene (er eben, ein Anbeter Shakespeares) ins Wort gefasst hat. Auch wirkt seine Religionskritik wesentlich kritischer und intensiver, wo Diderot ganze sechzig Jahre vorher nur andeuten durfte, Grenzen einhalten musste, die er freilich hin und wieder überschritt.
Bei Maturin nehmen sich die Stellen, neben der allgemeinen Heuchelei und Boshaftigkeit des Mönchstums, zusammengefasst in etwa so aus:

Zitat von Maturin
Alle, die das besitzen, was man als mönchisches Wesen bezeichnen mag, jene also, die ungefestigt und mit der Welt zerfallen sind, zu Schwärmerei und Askese neigen, mögen sich im Moment der Andacht zu einem rauschhaften Zustand erheben. So mögen sie, indem sie sich an ihre Vorstellungen klammern, zu der Selbsttäuschung gelangen, dass noch der leblose Stein unter ihrer Berührung erzittert, - dass die Statuen sich regen und den Bittgebeten Gehör schenken, ja mit ihren toten Augen voll Güte auf den Beter herabsehen. Und sie mögen, während sie das Kreuz küssen, sich einbilden, von himmlischen Stimmen losgesprochen zu sein, - ja vom Weltheiland selbst, welcher die Arme nach ihnen ausstreckt, in die Seligkeit geführt zu werden. Sie mögen sich einbilden, die Himmel aufgetan und die Herrlichkeit des Paradieses um ihrer Erhöhung willen sich verdoppeln zu sehen. Allein, dies alles ist eine bloße Trunkenheit, ein Besäufnis des Geistes, wie der armseligste Bader sie mit gewissen Arzneien bei seinen Patienten hervorrufen mag, und das Geheimnis dieses verzückten Hinschmelzens mag tatsächlich in einem Apothekerladen zu finden oder auf noch wohlfeilere Art zu beschaffen sein.



An anderen Stellen:

Zitat von Maturin

-(266)
Wie verlogen ist doch diese Religion, welche die Erschwernis, die wir den Leiden unseres Nächsten zufügen, zum Mittler zwischen uns und einem Gott macht, der da willens ist, die gesamte Menschheit zu erlösen!

-(296)
Die Stimme der Wahrheit ist ja in den Klöstern nur äußerst selten zu hören, weshalb sie den Mönchen so eindringlich wie drohend erschallt.

-(299)
Ihr müsst nämlich wissen, teuerster Senhor, dass in den katholischen Ländern die Religion das eigentliche Nationaltheater verkörpert. Der Klerus gibt die Hauptdarsteller ab, und die Gläubigen sind das Publikum. Was tut’s, ob nun das jeweilige Stück mit dem flammenumloderten Untergang eines Don Giovanni, oder aber mit der strahlenden Verklärung irgendeines Heiligen endet: der Applaus und das Vergnügen bleiben in jedem Fall die gleichen.

-(329)
Der entsetzliche Konflikt zwischen tiefster geistiger Stumpfheit und tödlichster Gegnerschaft, aus welchem das mönchische Leben besteht, ließ mich zum Auswurf der menschlichen Gesellschaft werden. Öffne die Tore sämtlicher Klöster Spaniens – wofür sollten deren Insassen taugen? Zu nichts, was die Gesellschaft verschönern oder verbessern könnte.



All das bishin zu der Gewalt durch die Inquisition. Maturin neigt an vielen Stellen seines Romans dazu, bestimmte, natürlich knappe Aussprüche als verwendete Zitate in ihren Quellen anzugeben oder, wenn er mal einen Satz in dieser ganzen Klosterszene selbst erdacht hat, dann auch als „eigene Erfahrung oder Gelesenes“ zu bestärken. So ist dahinter natürlich auch nachvollziehbar, dass er einen ganzen 200-Seiten-Diebstahl nicht als Quelle erwähnt, was die kurzen Ausrufe aus bestimmten anderen Dramen, manchmal nur eine lateinische Redewendung, die er als Quellen nennt, dann umso lächerlicher macht und, als Rechtfertigung für seine Ehrlichkeit, fast schon übertrieben ist.
Nach dem Motto:
Zu den kleinen Verweisen sollst du neigen,
zu den eigentlich großen dann lieber schweigen.
Vielleicht dachte sich Maturin, dass der Abstand zwischen ihm und Diderot zu groß ist, als dass Menschen seinen Diebstahl bemerken könnten, wo er die ganze „Nonne“ einfach nach Madrid verlegt hat. Ähnlich erging es ja auch Potockis Vermächtnis, dessen sich da einige ganz frech bedient hatten und es als ihre Idee auslegten, die höchstens durch Potocki übernommen sein sollte, was man dann, zum Glück, als Lüge entlarven konnte.
Diderot steht als genialer Geist bis heute hinter Voltaire, Rousseau und anderen zurück, war lange verkannt (vielleicht auch zu seiner Zeit). Wie schnell muss sich da ein Maturin gedacht haben, die kleine Schrift über eine Nonne wäre nicht bedeutend genug, als dass er sie nicht bis ins kleinste, und wirklich kleinste Detail in sein Werk einfließen lassen könnte.
Ohne diesen ausführlichen Abschnitt des Plagiats hätte der Roman tatsächlich kaum etwas verloren. Gerade die Länge an Bekanntem wäre vielleicht verkürzt eingebaut weder aufgefallen noch notwendig im Sinne der eigentlichen Geschichte gewesen, warum sich dieser Abschnitt dann auch so verwunderlich ausnimmt, in seinem Plagiat als einfacher Lücken- und Seitenfüller geradezu unverfroren und anmaßend erscheint.
Die versuchte Flucht aus dem Kloster wiederum hat Maturin dann, wenn auch als weitere Anregung übernommen, wesentlich besser ausgebaut als Diderot, der sein Romanende eher aprubt abkürzte (seine Nonne floh, nach einem Klosterwechsel, mit einem Mönch über die Mauer und traf auf die Außenwelt), so dass die Flucht seiner Figur dann auch eher unfertig und überstürzt wirkte. Möglich, dass nach dem Martyrium der jungen Nonne die eigentliche Flucht dann für Diderot nicht mehr notwendig war, was wohl auch an seiner Abneigung zum Erzählen und Erdichten, zum Romanschreiben überhaupt lag, weil Diderot kein Effekthascher war und sein wollte, während gerade die Flucht nahezu prädestiniert für eine spannende Szene ist, was Maturin auch ganz frei und durchaus hervorragend bewältigt, und zwar mit allem Herzklopfen und Mitleiden, das er dem Leser durch seine Ausführlichkeit abringen kann.
Hier scheint es dann doch so, als hätte er sich einen fast vollendeten Stoff gegriffen, um ihn dann, an seinen eventuellen Schwachstellen, weiter auszubauen und seiner Geschichte schließlich nahtlos anzupassen.

Maturin hat dazwischen natürlich schöne Gedankenszenen, die das menschliche Sein und Leiden anschaulich verbildlichen.

Zitat von Maturin

-(258)
Sind wir erst bis an den Rand des Grabes getrieben, so springen wir mit Entschlossenheit in seine Tiefe und machen auf diese Weise den Triumph der Mörder zu unserem eigenen. Werden wir aber bloß schrittweise an den Grabesrand geführt, oftmals darüber gebeugt und noch öfter wieder zurückgerissen, dann geht mit unserer Geduld auch die Entschlossenheit dahin.

-(260)
Wir bringen die Kraft nicht mehr auf, die ganze Größe unserer Not zu erfassen, und werden über dem Sandkorn, das uns in die Haut sticht, nicht mehr des Berges gewahr, welcher auf uns lastet.

-(262)
Erst wenn alle Welt sich in Feindschaft wider uns verschworen zu haben scheint, befreunden wir uns in aller Hartnäckigkeit der Verzweiflung mit uns selbst. Schmeichelt und vergöttert uns hingegen die Welt, dann fallen wir beständig unserer eigenen Schwäche und unseren Selbstvorwürfen zum Opfer.



Wenn man nun auf die Geschichte in der Geschichte erpicht ist (was sich durchaus lohnt), so würde man, kennt man beide Versionen, die von Maturin und Diderot, vielleicht eher zum ersteren und auch hier näher besprochenen greifen, alleine der erzeugten Spannung und Greifbarkeit wegen, was Diderot leider nur in einen einfachen Bericht des völligen Leidens gefasst hat. Bei Maturin fällt dann natürlich auch die zweite Umsiedlung in ein anderes Kloster weg, der die Nonne bei Diderot unterworfen ist und damit dann auch die darauf folgenden, sexuellen Angriffe durch die Geistlichkeit. Maturin konzentriert sich auf die erste Klosterszene, die völlig von ihrer Gewalt und der mönchischen Drangsalierung eines ausgestoßenen Mitglieds durchtränkt ist. Es ist schließlich auch ziemlich schwierig, die sexuellen Angriffe der Weiblichkeit in die männliche Welt zu versetzen. Vielleicht war ihm das Thema auch zu heikel. (Geschlechtlicher Missbrauch scheint von einer zartfühlenden Frau auf ein junges Mädchen angewandt dann doch nicht die gleiche Wirkung zu haben, als wenn sich mehrere Mönche auf einen stürzen und diesen bedrängen oder gar vergewaltigen.) Des Spaniers Umsiedlung erfolgt dann eben nicht in ein anderes Kloster, sondern in die Kerker der Inquisition.

Die Enttäuschung für mich als Leser, von einem Anfang mitgerissen, der im Plagiat überbückt wurde, um dann äußerst spannend weitergetrieben zu werden, bald darauf langatmig zu einer Liebesgeschichte gestaltet, untermalt mit einigen weiteren, unterschiedlich interessanten Geschichten, war dann auch wieder überwunden, denn selbst Goethe hat sich später bei Maturin bedient (wenn auch nicht so dreist und im Totalen), wobei es deutliche Parallelen zwischen der Geschichte von Immalee und Melmoth und der von Faust und Gretchen gibt. Da klingen Maturins Worte aus einem anderen Vorwort irgendwie hintergründig, wenn er sagt:
„Wer ist da, der nicht manchmal unter einem Einfluss erschauert ist, den er kaum vor sich selber zugeben würde?“

(Auch die Geschichte der beiden Brüder hat mich dann irgendwie besänftigt, die tragisch endet, die mitunter, in ihrer Darstellung im Kampf für das gleiche Blut, shakespeare’sche Qualität erlangt, stark, in den Gefühlsaufbrüchen, an den Sprung auf eine Bühne erinnert, die Hand erhoben und die Verse deklamiert.
„Oh niemals, nimmermehr… will mein Gewissen ich mit solchem Schwur beschweren! Und einem, der dies vorzuschlagen wagt, dem muss es wohl zu einem Grad verdorrt sein, dass selbst der Himmel es nicht rühren könnte!“

Oder:
„Verlassen von dem Vater wie von euch, will meinen Schrei ich nun zum Himmel senden. Ihn rufe ich zum Zeugen meines Schwurs, hinfort nicht nachzulassen in dem Beistand für meinen armen, drangsalierten Bruder, den zu betrügen ich das Werkzeug war.“

So ist der Bruder selbst als ein eingeflochtener Retter inmitten des Plagiats als Figur durchaus gelungen.)

Die Flucht aus dem Kloster wagt der Spanier (mit dem Bruder als Hintergrund) an der Seite eines Vatermörders, der ihn durch die klösterlichen Grüfte führt, was als Szene und in den Gesprächen eindrucksvoll dargestellt ist. Später, im Kerker der Inquisition, begegnet der Spanier dann auch endlich dem Mann mit den flammenden Augen, der ihn, wie schon zuvor Stanton, vor die Wahl stellt.

An dieser Stelle erfolgt dann ein weiterer Wechsel der Geschichte in der Geschichte, denn bei seiner Flucht gerät der Spanier in das Haus eines Juden. Aus dessen Fenster beobachtet er eine erschreckende Aufruhr, eine wutentbrannte Menge, die auf ihre Art Gerechtigkeit fordert, sich aus den Reihen des Klerus, der sich sicher und unantastbar glaubt, ohne Rücksicht auf Verluste das Opfer ihrer Anklage holt. Da werden Köpfe mit Steinen zerschmettert und das Opfer zu einer Masse aus Knochen und Blut verwandelt, in dessen Reste der Hauptmann sein Pferd zügelt, ohne zu wissen, in was er da steht. Diese Szene ist unglaublich, und wenn dieser Roman auch nicht tatsächlich (und wie ja schon erwähnt) als Schauerroman zu betrachten ist, so ist diese Momentaufnahme in seiner Gewalt und Wut wirklich schauerlich und erschreckend, wobei sie nicht ausgedacht ist, sondern Maturin hier auf ein tatsächliches Ereignis zurückgreift, was das Ganze dann noch erschreckender macht.

Nach all der Düsternis entfaltet Maturin danach auf einmal eine Art Regenbogenwelt, in deren Mitte eine geheimnisvolle Schöne auf einer Insel lebt. Durch einen in unterirdischen Gängen lebenden, weiteren Juden angeleitet, soll der Spanier eine Geschichte in seine Sprache übertragen (hier der Wechsel zur nächsten Geschichte), die selbstredend auch Hinweis auf Melmoth gibt.
Die Reise geht nach Indien. Zuvor, mit einer kleinen Führung an den indischen Göttern vorbei und deren Anbetung durch die Menschen, schafft Maturin wohl einen Kontrast der Unschuld und Unberührtheit an Natur und jener, einer Frau namens Immalee, zum diabolischen Fremden, der damit ihre Welt betritt und zum ersten Mal Mitleid mit ihr zu haben scheint, weil ihrem Wesen nichts Weltliches, für ihn damit verbunden Hässliches anhaftet. Denn er, aus einer Welt des Leidens, tritt düster in das strahlende Licht dieser unberührten Paradieswelt.
Dadurch wird auch die Verführung durch den teuflischen Menschen zu einer Hinterfragung, weil er empfinden kann, sogar Mitgefühl, weil er den Menschen, die er verführen will, nicht nur die Schlechtigkeit der Welt vor Augen führt, sondern auch sein Wissen vor ihnen ausbreitet, diese Welt zu Genüge zu kennen. Nicht der Glaube an Gott ist falsch oder soll von den Menschen verworfen werden, sondern das, was daraus gewachsen ist. Der Mensch steht hier im Vordergrund, der sich selbst Feind ist und das Böse in der Welt auch selbst bewirkt. Melmoth verführt, klärt auf und birgt sein Geheimnis als literarische Gestalt dann auch bis zum Schluss.
Bei der unschuldigen Immalee weckt er die Gegensätze, entfacht ein ihr neues Gefühl – den Schmerz, das Leid und die Sehnsucht nach dem Fremden -, während auch Melmoth wirkliche Gefühle für dieses Mädchen empfindet, sogar Reue, als er sie und ihre einsame Insel wieder verlässt. Einziger Trost bleibt Immalee ein Wiedersehen in der Welt des Leidens, wo aus ihrem Paradies getaucht diese ferne Welt auf sie reizvoller wirkt, als ihre unmittelbare Umgebung.
… und eine Welt des Denkens, sie muss nicht minder eine solche des Leidens sein!

Deutlich wird dabei auch der „Sinn“ des Leidens im Vergleich zur Gefühllosigkeit gemacht. Das Erblicken einer anderen Welt, was die eigentlich schöne langweilig macht, immer in der Sehnsucht, auch das andere zu wissen und zu kennen. Darunter die Zuneigung zu einem Menschen, der scheinbar diabolisch ist, ohne ihr vordergründig auf diese Weise zu begegnen. Ein Eindringen des Teuflischen oder einfach Menschlichen in diese Regenbogenwelt, das sofort seine Schatten frisst. - Es ist schon schöner, um deinetwillen zu weinen, als zu lächeln über tausend Rosen.
Dieser Auftritt soll wohl dann auch die Verführung darstellen, eine Art Urverführung, ohne dass Immalee auch zur Urfrau gerät. Melmoth scheint nur darum gekommen, um das Paradiesische zu entweihen, um dann wieder zu verschwinden, und die Unschuld in der Figur mit neuen Begierden und Sehnsüchten zurückzulassen. Aus dem Engel ward der Mensch gemacht.

Der Versucher ermöglicht Immalee einen Blick auf die Küste und erklärt ihr dabei die Irrlehren der Religion - Die Bewohner jener Welt, welche du im Begriffe bist, kennenzulernen, nennen es Anbetung, und sie haben dafür (hier schürzte ein satanisches Lächeln seine Lippen) recht unterschiedliche Gebräuche angenommen. Dieselben unterscheiden sich so sehr voneinander, dass sie nur mehr in einem Punkt übereinstimmen, - nämlich in dem, aus aller Religion eine Quelle beständiger Martern zu machen: bei den einen eine Marter für sich selbst, bei den andern eine Marter für die andern. - und des Götzenkults:
Jene Bauwerke (…) drücken aber das verschiedene Denken derer aus, die dort ein und aus gehen. Willst du also in den Gedanken der Menschen lesen, so musst du darauf achten, durch welche Handlungen sie dieselben ausdrücken. Im Umgang miteinander sind sie im allgemeinen falsch und hinterlistig, ihren Göttern gegenüber jedoch von leidlicher Aufrichtigkeit, weil sie dabei jene Wesenart zur Schau tragen, welche sie der betreffenden Gottheit in ihrer Einbildung zusprechen. Ist dieselbe eine furchtbare, so legen sie Furcht an den Tag; ist sie eine grausame, so zeigt sich dies in den Martern, welche sie dem eigenen Körper zufügen; ist sie eine düstere, so erscheint das Bildnis solcher Gottheit getreulich widergespiegelt im Antlitz des Beters.
… und lenkt ihren unschuldigen Blick dann auch noch ausgerechnet auf den Küstenstrich um den Dschagganath-Tempel in seinem Pesthauch, wo Scharen an Kriechenden und sich selbst Marternden im Sand verenden, während daneben als perverser Kontrast zu diesem grauenvollen Schauspiel ein prunkvoller Festzug seinen Einzug hält, geschmückt mit dem Götzenbild des Dschagganath.

Zitat von Maturin
Wie nun jene Prozession so funkelnd inmitten der Verzweiflung und triumphierend inmitten des Verderbens voranschritt, stürzten immer wieder Scharen von Menschen auf den riesigen Wagen zu und warfen sich vor die Räder jener ungeheuren Vernichtungsmaschine, die ihr Opfer alsbald zu Staub zermalmte, und weiter ihres Weges gezogen ward.
(...)
So bewegte die Prozession sich weiter, inmitten jenes Durcheinanders aus religiösen Bräuchen, das die Götzenkulte aller Länder kennzeichnet und ebenso glanzvoll wie grauenhaft ist, weil es die Natur anruft und im selben Atemzug gegen diese verstößt, ihre Blumen mit Blut besudelnd, indem es abwechselnd einen schreienden Säugling oder aber ein Rosengewinde unter die Räder des alles überrollenden Götzenwagens wirft.



Das Teleskop – „Sieh hin!“ – schwenkt über die verschiedensten Tempel und Riten, die alle zwar zunächst beschaulich, bald aber grausam anzusehen sind. Auch eine Gruppe „stattlicher Türken“ zeigt letztendlich dann doch ihr hässliches Gesicht.
Ihre Religion (…) gebietet ihnen, all die zu hassen, welche Gott nicht auf die nämliche Weise anbeten wie sie.

Das also ist die Welt, die Immalee nun eröffnet wird, während ihre Liebe zu dem Fremden wächst, der ihr diese ihr zuvor unbekannten Schrecken als einziges Dasein offenbart. Dabei verdüstert sich auch ihre eigene Empfindung, ihr eigenes Wesen. – Nun aber stand sie da, als wäre sie noch von der Natur verlassen, deren Kind sie doch recht eigentlich war. Der nackte Fels war ihre Ruhestatt, und der Ozean schien das Bett zu sein, darin sie ihren Schlaf finden wollte. Keine Muschelkette schmückte ihren Busen, keine Rose ihr Haar, - ihr ganzes Wesen schien sich mit ihrem Empfinden gewandelt zu haben. Nicht länger liebte sie all die Schönheit der sie umgebenden Natur, sondern schien vielmehr, in Vorwegnahme ihres Geschicks, die Gesellschaft all dessen zu suchen, was furchtbar und düster war.

Gleichzeitig mit dem Verfall (oder der Anpassung an die eigentliche Welt) der Schönen (die vielleicht auch versucht, ihre Liebe all dem zu schenken, was kalt und hässlich ist, um es damit zu wärmen), versucht Maturin auch eine Innenschau auf das Wesen Melmoths zu liefern, der das zarte Herz der Unschuld zerbricht und sich dafür entschieden hat, das Unglück seiner Seele und der Welt zu leben, statt die Eintönigkeit eines trauten, blumigen Glücks.
„Hab Mitleid mit dir selbst!“ fordert Immalee von ihm, worauf er, später noch verständlicher, nur höhnisch lachen kann.

Ich muss sagen, dieser gesamte Abschnitt ist sehr langweilig und „romantisch“ geschrieben. Alles darin wirkt zu bunt, zu bebend, fast schon schwülstig. Dass das nun eine Übertragung sein soll, sei dahingestellt, aber gelungen ist sie eher weniger (im Vergleich zu den anderen Teilen des Romans), weil sie einmal irgendwie vom Eigentlichen abdriftet, und zum anderen einfach über Seiten hinweg immer nur das Gleiche erzählt. Es ist, als ob Maturin hier seine Freude an der Malerei entdeckt hat, und aus dieser Freude heraus dann immer wieder das gleiche Bild malt. Was der Hintergrund selbst bedeutet, wird natürlich verständlich. Das Paradies, die Verführung durch die Schlange…, ohne dass Immalee aber zu Eva gerät, vielmehr ist sie aus einem unglücklichen Zufall auf dieser Insel gelandet (durch ein Schiffsunglück), wo sie mit dem Etwas ihrer Erinnerungen an die „menschliche Welt“ der paradiesischen als Mensch begegnet, der die Schönheit zu schätzen weiß und arglos darin zu leben versteht, bis das Äußere und Wirkliche darin einbricht, ausgerechnet dargestellt durch die Unwirklichkeit Melmoths.

Während der Spanier immernoch in den unterirdischen Kellergewölben des Juden schreibt und übersetzt, ist Immalee bereits in eine andere Welt versetzt. Nun, getauft und wieder im Kreis ihrer Familie, (umgeben von kleinlichen Menschen; besonders schön und humorig ist die Figur des Pater Josés gezeichnet, der ein weltlicher, verfressener, aber doch menschlicher Geistlicher ist), ist sie nicht mehr Immalee, sondern Isidora, und begegnet Melmoth erneut. Ihre Liebe zueinander ist unmöglich und doch möglich. Melmoth, der durch Wände geht und doch Mensch ist, der im Düsteren lebt und doch die Welt kennt, der existiert und doch nicht lebt, dessen Gelächter bei den schmerzlichsten Erfahrungen der Menschen erklingt, doch eben als jenes zynisch verzweifelte, das ihn auch als Mensch, der er ist, ausmacht,
- Doch schon im nächsten Augenblick wischte er diese mit einer verzweifelten Handbewegung hinweg und brach, indem er mit den Zähnen knirschte, in jenes fürchterliche, erbitterte und krampfhafte Gelächter aus, welches ja stets anzeigt, dass einzig wir selbst die Zielscheibe unseres Spottes sind. -
… weiß, dass die Verführung Isidoras für sie den Fluch bedeutet. So stellt er sie vor die Wahl. Ihre Liebe zu ihm lässt sie blind werden, nicht blind genug, aber doch ergeben, dass daraus dann die Heirat und die Geburt eines Kindes folgt, getraut durch einen toten Eremiten und mit den Spuren von Blut und Verderben behaftet. Isidoras Familie wird Teil der Geschichte, Melmoth versucht nicht nur Isidora vor ihm und diesen daraus entstehenden Folgen zu warnen, sondern auch ihren Vater, ein reicher Geschäftsmann, der sich auf dem Weg nach Hause befindet, und dem auch an anderer Stelle durch einen Fremden über Melmoth berichtet wird.
Die verschiedenen Versuche, in denen Melmoth nun die Menschen zu verführen oder irritieren sucht, ergeben nach und nach ein exaktes Abbild von ihm.

Natürlich kann man sich denken, was aus so einer Liebe werden muss, und schließlich zurückgekehrt zu John Melmoth und dem erzählenden Spanier, begegnet der verfluchte Melmoth der Welt zum letzten Mal. Diese Szene ist beeindruckend, da sie auf gleichem Felsen stattfindet, auf dem der Nachfahre John der eigenartigen, düsteren Gestalt Melmoths am Anfang begegnet ist, als starre, lachende Gestalt, erhoben über dem Schiffsunglück in einem tosenden Sturm, wobei der Ozean durch die endgültige Begegnung Melmoths dann zum Flammenmeer der Schmerzensschreie der Verdammten gerät. Ein wirklich genial gezeichnetes Bild. 150 Jahre Menschsein, die endlich erlöschen, ohne Melmoth zu erlösen.

Der Eindruck? Trotz des 200-Seiten-Plagiats und der oftmals sehr weitschweifigen, manchmal zu romantisch schwülstigen Ausführungen Maturins, hin und wieder durchkreuzt mit groben, tautologischen Patzern, muss man ihm doch eines lassen: Bilder erschaffen kann er, er besitzt Sprachgeist, und die Figur Melmoth ist ihm großartig gelungen, als teuflisch verführerisch, sarkastisch, zynisch, schöne Gestalt ohne wirkliche Klischees, schön in seiner Düsternis und in seinem Wissen, ein sein Leid (er)tragendes und von der Welt und den Menschen angewidertes Geschöpf – ein Melmoth eben, dessen düstere Präsenz vor dem Auge des Lesers immer wieder aufflackert, wie das diabolische Brennen seines Blickes – überall zu erkennen, sein ewiges Wissen bergend und hin und hergerissen durch das eigene Schicksal. Nur einen Menschen zu finden, der durch den Verkauf seiner Seele sein Los annimmt, um daraus Erlösung zu erfahren, dabei gleichzeitig durch sein eigenes Geistreich-Sein dieses nur von solchen Menschen fordernd, die sich zwar im Elend und größter Not befinden, jedoch fest in ihrem Glauben und stark durch ihre Persönlichkeit sind. Als ob Melmoth seinen Ekel, den er sowieso vor der Welt empfindet, nicht durch die Charakterschwachen nähren will (ein aussichtloser, kleiner Sieg), sondern als ob er sich ständig, in der zwiespältigen Auseinandersetzung und teuflischen Verführung, als hintergründige Hoffnung für die Welt selbst Fallen stellt, mit dem Wunsch, wenn gerettet zu werden, dann wenigstens nicht im Leichten, weil so eine Rettung gleichzeitig auch gegen die Welt sprechen würde. Melmoth – der teuflische Mensch, zum Menschsein verdammt, der Größe hat, sowohl in seinem Denken wie auch in seinem Handeln, und durch seinen Fluch auch die eigene Nichtigkeit erkannt hat, der irgendwo zum Wohl der Menschheit scheitern möchte, wenn er es diesen auch schwer genug macht, warum die Liebe Immalees zu ihm auch durchaus nicht übertrieben wirkt.
Sein Gelächter ist die Verzweiflung, und damit bleibt er eine literarische Figur, die man nicht vergisst, dass selbst der Roman in seinen verschiedenen Ereignissen gerade hinter dieser verblasst und damit, wenn auch nicht als „wichtig“, so doch als „gut“ empfunden werden kann.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 03.11.2009 22:20 | nach oben springen

#3

RE: Charles Robert Maturin

in Die schöne Welt der Bücher 08.11.2009 09:04
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo Taxine,

herzlichen Dank für die ausführliche und sehr buntgescheckte Rezension. Mir kommt der Roman nun vor wie ein aus einem Kompendium von Wissen und Geklautem geschaffenen Roman. Das ist nicht uninteresssant, so entfaltet sich der Roman als Spiegelbild des kulturellen Geistes der Zeit Maturins. So würde ich das mal einschätzen, auch wenn ich den Roman (noch) nicht gelesen habe. Z.B. diese Ausschweifungen nach Indien. Etwa in Marurins Zeit beschäftigte sich August Wilhelm Schlegel mit indischer Philologie, übersetzte sogar das Râmâyana (1829-49).
Auch die literarischen Anspielungen gehören dazu. Wie schon gesagt Goethes Faust und Diederot, weiterhin

In Antwort auf:
Luzifer- und Ahasversage (.....
Wissensdrang, Hybris), die Mythologie des Überna-
türlichen verbinden sich mit den typischen Zügen des
Byronschen Helden (Einsamkeit, Melancholie, Zynis-
mus, Rebellion)
[Werklexikon: Melmoth der Wanderer. Wilpert: Lexikon der Weltliteratur, S. 20592
(vgl. Wilpert-LdW, Werke, S. 894) (c) Alfred Kröner Verlag]



und
der Hungertod aus dem Ugolino-Stoff (vgl. Dante, Göttliche Kommödie und hier).

Ich habe die Inselausgabe vom Insel-Verlag mit dem ausführlichen Nachwort von Dieter Sturm.

ach Taxine, Sui bringen muir die Leseluscht ins Haus

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 08.11.2009 09:10 | nach oben springen

#4

RE: Charles Robert Maturin

in Die schöne Welt der Bücher 08.11.2009 16:36
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Hallo Martinus,

ja, ich wollte einfach meine sämtlichen Eindrücke mal so festhalten, ob es nun Zusammenfassung, Außenversion oder innerer Eindruck war...

Ich habe auch die Inselausgabe gelesen. Das Nachwort ist wirklich toll, auch die drei Zeitgenossenberichte und der Überblick über das Leben von Maturin. (Findet man ja leider nicht viel darüber...)

(Ach so: der Goethe hat aber vom Maturin geklaut, nicht umgekehrt. Maturin nur von Diderot. Die Figur selbst war ja durch ihre Mythologie damals sehr aktuell, auch durch die neuen, literarischen Aspekte und Mittel. Darum ist Melmoth ja auch so ... schön! (Aber ich mochte ja auch Stawrogin!) )

Liebe Grüße
tAxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 08.11.2009 16:36 | nach oben springen


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