HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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RE: Robert Merle
in Die schöne Welt der Bücher 14.12.2009 22:27von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Wie herrlich waren die ersten Zeilen des Romans, wo der Ich-Erzähler seine Versuche, sich zu erinnern, mit Proust verbindet. Da war ich richtig schwärmerisch begeistert. Der Verweis darauf, dass das Leben nun in zwei Teile liegt, die Zeit vor und nach der Explosion, lässt schon ahnen, was geschehen wird, seine Kindheit, die er aus dem Gedächtnis neu belebt oder seine anderen Erlebnisse wirken im Vergleich zum Jetzt fast irreal.
Für mich sind die Vor-Kapitel eine Art Einleitung, um das Leben vor der Atomexplosion in seiner Vielfalt zu zeigen, die von der Kindheit bekannten Orte und Verstecke, der Bezug zu Malevil selbst, all die Menschen und die aus der neuen, jetzigen Sicht so belanglosen Problemchen, mit denen Emmanuel sich herumgeschlagen hat, damit das Danach nachher um so tragischer gegenübergestellt werden kann. So zeigt sich, dass der Ich-Erzähler in Anbetracht der neuen Umstände bereut, dass sein Leben nur aus flüchtigen Beziehungen bestand.
Wie schön von Merle geschrieben, als er, während der Explosion, erkennt, dass die einzige Frau, die mit ihnen überlebt, zu alt und zu zerfallen ist, um der Menschheit ein Überleben zu sichern,
Zitat von Merle
Wenn ich "die Menou" sagte, drückten sich in diesem Namen für gewöhnlich Zuneigung, Wertschätzung und Neckerei aus, die in unseren Beziehungen ihre Rolle spielten. Aber heute, da ich sie zum erstenmal nackt sah, wurde ich gewahr, dass "die Menou" auch ein Körper war, der Körper der einzigen Frau vielleicht, die überlebt hatte; und dass er vergreist war, machte mich grenzenlos traurig.
... und dass er sich schuldig fühlt, weil er zuvor nie über das Gründen einer Familie nachgedacht hat.
Zitat von Merle
Hätte ich wie Colin, Meyssonnier und Peyssou Frau und Kinder gehabt, wären sie jetzt am Leben, die Gattung Mensch wäre nicht zum Verschwinden verurteilt, und ich wüsste, für wen ich zu kämpfen hätte. So aber musste ich in den Keller zurückkehren, meinen Gefährten sagen, dass sie die Ihren verloren hatten, und mit ihnen das Verschwinden der Menschheit abwarten.
Ihm ging es nur um sein Vergnügen, während es in normalen Zeiten ja kaum darauf ankommt, ob jemand nun Kinder in die Welt setzt oder heiratet. Zum Beispiel sein Verhältnis mit Brigitta, die er erst dann vermisst, als sie einen Anderen heiratet, von der er angenommen hat, eben weil er sie nicht liebt, dass sie ihm auch nie fehlen könnte.
Die Beziehung, die er zu seinem Onkel aufgebaut hat, ist eine sehr herzliche (im Vergleich zu der, die er zu seinen Eltern hat, und die Ironie des Schicksals lässt sie alle drei auf einmal bei einem Autounfall umkommen), wo dieser wohl auch, in seinem versteckten Erbe, einiges vorhergesehen zu haben scheint (oder es wirkte auf mich nur so, als dann die Katastrophe geschieht, denn der Onkel wollte ja eigentlich nur seinen Besitz erweitern.)
Besonders intensiv drückt sich, für mich, folgende Situation aus:
Zitat von Merle
Ich habe behauptet, ich hätte nicht die Kraft gehabt, mich bis zu Germain zu schleppen, als ich, kaum einen Meter von ihm entfernt, mit hängendem Kopf ausgestreckt am Boden lag. Besser wäre es, nicht von Kraft, sondern von Mut zu reden; schließlich hatte ich dann ja die Kraft, wieder meinen Bottich aufzusuchen. In Wirklichkeit stand ich noch unter der Einwirkung des Entsetzens, das ich empfand, als ich seinen aufgedunsenen, bluttriefenden Körper vor mir sah, die halb abgelösten Fleischfetzen, die ihm wie ein im Verlauf eines Kampfes zerrissenes Hemd vom Leibe hingen. Germain war groß und kräftig, und vielleicht, weil ich zusammengesunken war, vielleicht auch weil sein Schatten, der auf die Gewölbe fiel, durch die Kerzen übermäßig verlängert wurde, erschien er mir riesig und furchterregend, als wäre der Tod selbst aufrecht, während uns die Schwäche zu Boden geworfen hatte.
Wie sie da in diesem Keller eingeschlossen sind, der ja eigentlich kühl und von dicken Wänden umgeben ist, und trotzdem diese Hitze spüren, so lässt sich gut vorstellen, was "draußen" vor sich ging. Tot und niedergebrannt, mit auflodernden Flammen und schwarzgebrannten Ruinen.
Kein Wunder, dass die Verzweiflung zunächst überhand nimmt. Doch, irgendwie hoffe ich, noch auf mehr Überlebende. Ein Fernrohr reicht nicht all zu weit!
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
Zitat von Taxine
Die Beziehung, die er zu seinem Onkel aufgebaut hat, ist eine sehr herzliche
und der Onkel hinterlässt Emmanuel eine Bibel, obwohl sein Neffe nicht gläubig ist.
Zitat von Merle
Bei diesem Buch darf man sich nicht an die Gebräuche kehren, auf die Weisheit kommt es an.
Diese Stelle aus dem zweiten Kapitel ist insofern wichtig, weil im fünften Kapitel direkt darauf noch einmal Bezug genommen wird. Der Onkel empfahl seinen Neffen, die Bibel zu lesen. Die Weisheit der Bibel zu erfassen, ohne unbedingt an Gott glauben zu müssen. Übrigens geht das ganz gut. Seine Freunde bitten ihn, aus der Bibel vorzulesen. Meysonnier bekennt ein Materialist zu sein, bekennt aber, die Geschichte des jüdischen Volkes gerne hören zu wollen. Und so wird im sechsten Kapitel ganz zwanglos und erheiternd über Kain und Abel usw. diskutiert. Wir können hier sehr schön sehen, was für spitzfindige Fragen und Überlegungen zu Tage treten, wenn man nicht starr an einem Glauben hängt, sondern den Bibeltext ganz nüchtern betrachtet.
Zitat von Merle
Ich hatte ohne Zweifel eine großartige Dichtung vor mir. Sie besang die Erschaffung der Welt, und ich rezitiere sie in einer zerstörten Welt, vor Menschen, die alles verloren hatten.
Da die Leseempfehlung des Onkels noch einmal auftaucht, vermute ich, dass die Bibel oder die Religion in unserem Roman noch eine Rolle spielen wird.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Robert Merle
in Die schöne Welt der Bücher 17.12.2009 18:04von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
tschuldigung, komme etwas schleichend voran.
Zitat von Martinus
Da die Leseempfehlung des Onkels noch einmal auftaucht, vermute ich, dass die Bibel oder die Religion in unserem Roman noch eine Rolle spielen wird.
Ja, das denke ich auch. Merle verwendet meiner Ansicht nach einige typische Symbole, Schlüsselfiguren oder Merkmale (die auf leerer Fläche neue Richtlinien erschaffen oder Restbestände aus der alten Welt sind). In der nun scheinbar leeren Welt müssen sich die Überlebenden zunächst aus dem Schockzustand befreien, den Verlust ihrer Familien und Angehörigen überwinden (ich habe mich sehr gewundert, dass Merle seinen Emmanuel sagen lässt, dass er seine Schwestern nicht zu seinen Angehörigen zählt, nicht, weil es nicht verständlich wäre (denn sie verstanden einander ja nicht, zudem waren die beiden hochnäsige Weibsbilder ohne Sinn und Verstand, nur auf Geld aus), aber gerade in dieser Situation der völligen Zerstörung hätte sich eine neue Sichtweise als Rückblick gut gemacht, dass er den beiden vergibt oder ähnliches. Naja.) und neuen Lebenswillen aufbauen. Sie übernehmen Aufgaben, suchen Möglichkeiten, ihr Überleben zu sichern. (Die Achtlosigkeit, mit der z. B. zuvor Werkzeugen, Nägeln und ähnlichen Dingen begegnet wurde, wird nun in Aufmerksamkeit und Achtung umgekehrt, da so viele Kleinigkeiten nicht mehr hergestellt werden und damit einen ganz neuen Wert gewinnen.) Das einzige Buch, das ihnen geblieben ist, ist dann eben die Bibel, aus der gelesen wird, um die toten Abendstunden zu füllen, die menschliche Wärme, das Feuer im Kamin und eben den Trost als Geschichte einer alten und verlorenen Welt zwischen aller Zerstörung zu spüren. Emmanuel erkennt:
Zitat von Merle
Ich hatte ohne Zweifel eine großartige Dichtung vor mir. Sie besang die Erschaffung der Welt, und ich rezitierte sie in einer zerstörten Welt, vor Menschen, die alles verloren hatten.
Dann, beim Bestellen des Ackers, wird einer von ihnen - Peyssou - überfallen und das Pferd (sie besitzen nur drei, dazu auch noch ausschließlich Stuten) gestohlen, was ihnen beweist, dass es tatsächlich noch andere Überlebende gibt. Ein Art nächste Schlüsselfigur - der Barbar tritt auf, der sich nicht als ganz so barbarisch herausstellt, jedoch auch ohne zu zögern tötet. Sie treten einander gegenüber, wobei sich zeigt, dass die Bezeichnung des Zivilisierten oder Barbaren in der Leere keine Bedeutung hat, sie sind nur noch Menschen (und wenn schon, dann alle mehr Tier als Mensch, da noch völlig ohne Orientierung (warum die Bibel wohl auch notwendig ist). Es gibt eben keine Gesellschaft mehr, keine Norm, kein Gesetz, keinen Maßstab, es liegt an ihnen, ihr Verhalten zueinander "menschlich" aufrechtzuerhalten, wobei ich mir vorstellen kann, dass da noch einige Schwierigkeiten auftreten werden.), und es geht ausschließlich um das Überleben. Die Gefräßigkeit wurde zuvor schon festgestellt, weil alle Angst vor dem Verhungern haben, zunächst durch die Gier nach dem einzigen Schinken, der eingeteilt werden musste, danach, weil schließlich doch einige Tiere überlebt haben und sogar trächtig waren, in der Vorstellung an das gebratene Spanferkel, weil sie unmöglich so viele Tiere ernähren können.
Zitat von Merle
Damals merkte ich, dass unsere Fressgier etwas Fieberhaftes an sich hatte. Sie hing nicht, wie früher sonst, mit der Freude am Leben zusammen, sondern mit der Angst vor der Zukunft. Die Erinnerungen an verflossene Schlemmereien spielten augenblicklich eine ungewöhnliche Rolle in unseren Unterhaltungen und bewiesen, dass uns die Furcht vor dem Nahrungsmangel insgeheim wie mit glühenden Zangen zwackte.
Sie stoßen also auf zwei weitere Überlebende, die zuvor als Höhlenmenschen bezeichnet wurden, weil sie abseits der Gesellschaft lebten und nie Teil der Gemeinschaft waren, ein Vater und sein Sohn, wobei es zum Kampf kommt, was gerade nach dieser Bombenexplosion umso dramatischer ist, da der Vater dabei stirbt, wenn man sich ausmalt, wie viele Menschen durch diese Bombe umkamen. Wie unnötig ist dadurch so ein Tod (wenn es auch nur Verteidigung war) als ein Kampf um das Nichts, um die Burg Malevil, die der Vater mit seinem Sohn besetzen wollte, und doch gleichzeitig um Nahrung und wiederum das Überleben. Trotz seines Angriffs auf Emmanuel und Thomas, fand ich seinen Tod genauso erschütternd, wie ihn Emmanuel selbst empfunden hat. Ein weiterer Toter inmitten einer riesigen, toten Welt, in der es eigentlich wichtig wäre, das Wenige zu erhalten, was überlebt hat, wie auch der Rabe (ein weiterer Überlebender), der zuvor ein Parasit war, so oft verscheucht, und nun als Hoffnungsschimmer und sogar zahm über ihren Köpfen kreist.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
RE: Robert Merle
in Die schöne Welt der Bücher 17.12.2009 23:45von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Mache direkt mal weiter, weil ich mich gerade damit auseinandersetze. (Falls es zu schnell geht oder zu viel Worthaufen ist, dann schweife ruhig und sowieso zurück, werter Martinus.)
Hier also tritt nun Miette – das hübsche Muttertier – und ihre Großmutter oder Mutter (?) in die Mitte, zwei weitere Überlebende, ebenfalls aus dem „Kreis der Höhlenmenschen“, samt ihrer Tierherde und dem übrig gebliebenem Getreide (sie machten ihr Brot selbst - eine Unabhängigkeit von der Gesellschaft, die sich nun bezahlt macht). Die Nachkommenschaft ist also gesichert.
Man bemerkt, wie schnell erneut alles auf die reine Natur, nicht einmal auf die Triebe selbst, sondern eben auf das Sichern der Nachkommenschaft reduziert wird, ähnlich wie bei all den Tieren zuvor, mit all den kleinen Hintergedanken, die noch keiner auszusprechen wagt, gleichzeitig erhält Miette irgendwie einen Heiligenschein (nicht als unantastbare Jungfrau, sondern als verehrte Göttin, deren überraschendes Auftauchen auch Hoffnung für die Zukunft bedeutet). An ihr samt ihrer Aufgabe und Weiblichkeit haftet die Fruchtbarkeit, das Göttliche und gleichzeitig Menschliche, sie ist eine Eva zwischen den Adams.
Zitat von Merle
Sie ist der wahre Mittelpunkt, in dem alle Wärme und Aufmerksamkeit der Tischrunde zusammenströmt. Das stört sie nicht, und ich könnte schwören, es nährt auch ihre Eitelkeit nicht. Unbefangen sieht sie jedem einzelnen mit der Ernsthaftigkeit eines Kindes ins Gesicht.
Selbstverständlich geht es um das Überleben der Menschheit, doch ich finde das Gespräch unter Männern, über den Kopf der sich zurückgezogenen Frau hinweg, doch etwas eigenartig (auch die Großmutter(?) Miettes - Falvine, die Menou, Jacquet, der noch in Ungnade steht (weil er den Überfall auf Peyssou verübt hat), sowie Momo, das zurückgebliebene Kind von 49 Jahren - "Idiotisch, das ist er nicht", sagte die Menou lebhaft. "Emmanuels Onkel hat es richtig ausgedrückt: intelligent ist er, der Momo. Ihm fehlt nur die Sprache. Darum kann er nichts behalten." ... all die werden irgendwo hinauskomplimentiert), dass nur noch die Männer, die "denken" können und "das Sagen" haben, um die es, von der einen Seite her betrachtet ja auch nur geht, zurückbleiben), auch wenn sie Miette immerhin zugestehen, ihre Wahl selbst zu treffen, wann immer sie will und mit wem sie möchte. Da wird über Moral und Prostitution debattiert, und ich frage mich die ganze Zeit, ob die Frau überhaupt zum Muttertier degradiert werden möchte oder kann, ob sie sich überhaupt für einen von ihnen interessiert, ob… und hier wird die Frage fast schon philosophisch,… sie ein Recht hat, sich zu verweigern, wenn ihr keiner der Männer gefällt. Dazu ist sie noch stumm, kann also gar nicht mit Worten argumentieren, wenn auch „ihre Augen alles sagen“.
Gegen den Ratschlag Emmanuels, dass alle mit der Frau, insofern sie es möchte, schlafen können, stimmen die Freunde für die Monogamie (mehr oder weniger dann eben doch an ihre früheren Ehen und Beziehungen gewöhnt (das Gesellschaftsdenken in Norm und Gewohnheit dringt also immernoch durch)). Emmanuel muss sich fügen, während er ganz richtig erkennt:
Zitat von Merle
Der Standpunkt meiner Gefährten erscheint mir maximalistisch und unsinnig: bis ans Ende seiner Tage lieber im Zölibat zu leben, als eine Frau nicht für sich allein zu haben. Freilich hofft jeder, dass er der Erwählte sein wird.
Das scheint mir wirklich der Knackpunkt zu sein, denn erst, sobald die Entscheidung getroffen ist, wird der Verlust spürbar. In der Erwartung lässt sich alles vorstellen.
Und dann fährt Emmanuel in Gedanken fort:
Zitat von Merle
Ich schweige. Ich bin besorgt um die Zukunft. Ich habe Angst vor Frustrationserscheinungen, Eifersuchtsanfällen, vielleicht sogar Mordgelüsten. Und außerdem, warum sollte ich es nicht zugeben, empfinde ich ein schmerzliches Bedauern, dass ich Miette im Etang nicht genommen habe, als ich Gelegenheit dazu hatte. Ich bin schlecht dafür entschädigt worden, dass ich meine „Begierden“ unter Kontrolle gehalten habe.
Auch aussagekräftig. Er bleibt seinem Wesen treu, und denkt gleichzeitig in seinem vorangegangen Vorschlag bestimmt nicht nur an sich selbst, sondern im Sinne dieser neuen, kleinen Gemeinschaft.
Auch fällt schließlich gerade in diesen Kapiteln doch auf: in dieser leeren Welt ist erneut ein großer Teil der Gedanken auf den sexuellen Akt ausgerichtet, wie auch in der anderen in „Die geschützten Männer“ (ich will immer schreiben: „Die gezähmten Männer“). Gäbe es genügend Frauen, würden die Gedanken sicherlich um viele, andere Dinge kreisen, da aber nur eine im zeugungsfähigen Alter ist, bedarf es dieser näheren Betrachtung unbedingt.
Gleichzeitig verschwinden daneben wiederum die "falschen Bedürfnisse":
Zitat von Merle
Wie in biblischen Zeiten denken wir in Begriffen von Nahrung, Land, Herde und Erhaltung des Stammes.
Bin jetzt doch gespannt.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
Hallo Taxine,
ich bin schon im Kapitel 12
Zur Sache mit Miette:
Es wird zwar vorgegeben, sie ist gebährfähig usw., doch hauptsächlich habe ich den Eindruck, dass es eben die Männer sind, die ihre Begierden als Phallokraten befriedigen müssen, und die Frau ist das Sexobjekt. Ja, ganz banal. Mir ist ehrlich gesagt ziemlich unwohl, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es lange auf diese Art und Weise gut gehen wird. In unserem mitteleuropäisch Kulturkreis, in dem immer noch das christliche Moralempfinden überwiegt, oder das Moralempfinden anerzogen worden ist, da kann ich mir doch nicht vorstellen, dass sich mehrere Männer eine Frau teilen. In anderen Kulturkreisen - es wird eine indische Kaste erwähnt, bei der sich mehrer Brüder aus existentiellen Gründen eine Frau teilen - mag das üblich sein, auch ein Moslem darf mehrere Frauen haben, muss aber für sie und für die Nachkommenschaft Sorge tragen, d.h. Verantwortung. Aber in Frankreich ist es eben nicht so (was wird in Italien für ein Pressetheater gemacht, wenn Berlusconi mit seinen Prostotuierten und so). Kurz und gut. Ein Unding, was dort in Malevil passiert. Es ist eine Frage von Moral und Unmoral, mit der sich die Männer von Malevil auseinanderzusetzen haben. Moral ist, wie wir gesehen haben kulturabhängig. Natürlich können wir sagen, durch die Bombe ist auch die christliche Obrigkeit abgeschafft und die Menschen in Malevil müssen bei Null beginnen und haben die Möglichkeit, ihre eigene Moral neu zu entdecken und zu überdenken. Allerdings ergibt sich auch die Frage, kann denn Miette mehr Kinder gebähren, weil sie mit mehr Männern...?. Ich denke nicht. Man bräuchte mehr Frauen und weniger Männer
Warum Miette sich für alle Männer entscheidet und sie im Wechsel der Liebe pflegen ist mir ein Rätsel, denn ich habe den Eindruck, das passt nicht zu Miettes Vorstellungen zwischenmenschlicher Beziehungen, denn sie schläft nicht mit Emmanuel, weil sie denkt, er wäre noch mit Birgitte zusammen, weil sie ein Photo von ihr sah. Sie nimmt also Rücksicht. Nimmt sie denn Rücksicht und passt sich an, weil die Männer nur eine Frau haben? Das wäre doch ein ziemlich naives Denken und den Männern dort wird automatisch unterstellt, sie könnten niemals ohne eine Frau leben.
Emmanuel vertritt äußerst diplomatische Standpunkte und gleiches Recht für alle. Egoismus gibt es dort nicht. Alles wird geteit, auch die Frau. Ich glaube aber, lange wird das so nicht gut gehen.
So, ich springe mal ein paar Kapitel weiter zu Fulbert, dem gerissenen Hund, der sich als Pfarrer ausgibt, aber kein Pfarrer ist. Also dieser Kerl taucht auf und schnappt sich Miette für eine Nacht. Das Nachsehen hat Colin, der an sich dran war und nun in seiner Männlichkeit verletzt ist. Solche Situationen können Unfrieden stiften. Ich bin gespannt, wie lange es dort friedlich bleibt. Es braucht nur einer zu sagen, ich möchte Miette für mich alleine und schon haben wir den Salat.
Übrigens, die diplomatische Diskussion, die Emmanuel mit Fulbert führt, halte ich für einen literarischen Höhepunkt des Romans. Das ist einmalig. Bei Fulbert haben wir es auch mit Moral zu tun, mit moralischer Erpressung. Ein Fiesling.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Robert Merle
in Die schöne Welt der Bücher 18.12.2009 16:12von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus, ich bin im 11. Kapitel.
Zitat von Martinus
Warum Miette sich für alle Männer entscheidet und sie im Wechsel der Liebe pflegen ist mir ein Rätsel, denn ich habe den Eindruck, das passt nicht zu Miettes Vorstellungen zwischenmenschlicher Beziehungen...
Miette erscheint mir leicht debil, so wie es auch Thomas in seinen Nachbemerkungen (die ich manchmal etwas übertrieben finde, weil sie wirken, als ermöglichen sie Merle eine Überarbeitung unlogischer, vorangegangener Szenen. Wirkt als Zweitblick irgendwie unnötig, finde ich, lediglich der erste Nachtrag ging noch, um zu zeigen, dass Emmanuel seinen Bericht aus einer eigenen Perspektive darstellt, die durch die Explosion, den Schock und die Hitze in manchen Dingen dann lediglich eine Halluzination war (hätte aber auch nicht sein müssen). Die anderen Nachbesserungen finde ich eher irritierend, (vielleicht dient es später noch einer anderen Darstellung der Ereignisse, weil Emmanuel sich womöglich zum Despot entwickelt, wer weiß), als zuerst so ausführlich die Monogamie beschlossen wird und danach ganz selbstverständlich alle dann doch auf das Mädchen „steigen“, dieser Umstand von Thomas dann eben nur kurz eingekreist wird, während Emmanuel das alles gar nicht erwähnt. Da habe ich schon gestaunt.) Thomas jedenfalls hatte über Miette gesagt:
Zitat von Merle
Miette ist frühgeboren, stumm von Geburt, was bedeutet, dass ihr Gehirn eine Verletzung aufweist, welche die Ausbildung des Sprechens verhindert hat, was wiederum ihren Begriff von der Welt verarmen lassen musste.
… und so wirkt sie auch auf mich. Willenlos, zumal auch Emmanuel später erwähnt, dass sie kein Lustempfinden verspürt (als sie ihn umarmt und ihren Körper an ihn drückt, was er ihr aufgrund ihrer fehlenden Neigung hoch anrechnet.) Unter diesen Bedingungen wird für mich deutlich, dass Miette benutzt wird, wie ein Gebrauchsgegenstand, in den irgendwann der Samen gefüllt wird. Das ist irgendwie widerlich, als ob sie da ein behindertes „Kind“ im Namen der Menschheit missbrauchen, die sich dem Ganzen fügt oder sich nichts dabei denkt. Auch wenn all das ohne Gewalt geschieht, liegt darin etwas Abartiges. Gerade diese Empfindungslosigkeit deutet darauf hin, dass sich die Moral langsam verliert. Wenn es wenigstens eine Hilda Helsingforth wäre, die sich wehren könnte…
Ja, Fulbert war ein erstaunlicher Besuch, auch als ein Infragestellen der Religion gedacht, bis in die Inquisitionstaktiken, einem Einfluss, mit dem sich die Menschen in Malevil neu auseinandersetzen müssen, weil sie sowieso in zwei Richtungen gespalten sind, die, die religiös sind und die, die nicht religiös sind. Emmanuel selbst befindet sich noch dazwischen, und schön fand ich, als behauptet wird, er wäre nicht gläubig, dass Colin erklärt:
Zitat von Merle
Ja nun, (...) da bin ich nicht so sicher (..). Ich würde sogar sagen, Emmanuel hat schon immer einen ziemlichen Hang zur Religion gehabt.
Ja, der Fiesling Fulbert ist kein wirklicher Geistlicher, der aber mit dieser Macht des Glaubens versucht, die Leute zu beeinflussen und darüber eigene Macht zu erlangen. Schön, wie er schnell durchschaut wird, zunächst durch das Wort „schmerzensreich“, das immer irgendwie falsch auf Emmanuel wirkt.
Zitat von Merle
Es ist ein Wort, das mich durch seine Gefälligkeit abstößt. Der Schmerz – vor allem der Schmerz anderer – ist immerhin nichts zum Degustieren und sollte nicht schönen Seelen als Ornament dienen.
Auch solche Vermutungen deuteten schon darauf hin, als Fulbert sagt:
Zitat von Merle
Nach der Bombe (…) haben die Menschen Einkehr bei sich gehalten und ihr Gewissen erforscht. Ihre physischen und besonders ihre moralischen Leiden waren derart groß, dass sie sich fragen mussten, ob nicht ein Fluch auf ihnen lastete als Folge ihrer Verirrungen, ihrer Sünden, ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Gott, als Folge der Vernachlässigung ihrer Pflichten – und insbesondere ihrer religiösen Pflichten.
(Schon in „Die geschützten Männer“ trat der Fanatiker auf, der die Menschen mit ihrem schlechten Gewissen locken und durch ihren Sünden unterwerfen wollte.)
und Emmanuel erkennt:
Zitat von Merle
Ich hörte ihm zu. An sich war alles wahr, was er sagte. Aber aus seinem Munde klang alles falsch. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Mann die menschlichen Gefühle, die er ansprach, nicht empfand.
Emmanuel stellt auch richtig fest, dass er die anderen zwanzig Überlebenden beeinflusst und kontrolliert (alleine dadurch, dass Fulbert auch von ihm denkt, er würde über die anderen Menschen bestimmen). Emmanuel gibt zwar Malevil in die Hände aller, trifft auch die gemeinsamen Entscheidungen im Sinne des „Alles gehört allen“, weil nach dem „Ereignis“ schließlich auch alle gleich mithelfen müssen, woraus sich dieses Gemeinsame ganz natürlich ergibt, all das zeigt aber auch, dass Merle hier die kommunistische Idee andeutet, wo er nicht umsonst auch Meyssonnier als „ehemaligen“ Kommunist auftreten lässt, dessen Fehler im Denken nicht die Idee selbst bleibt, sondern das Denken im Sinne der „Partei“, das er samt ihren Fehlern und obwohl niemand von der Organisation mehr übrig geblieben ist, trotzdem beibehält.
Aber, meines Erachtens nach, baut sich die Demokratie in Malevil erst langsam auf. Wo zuvor nur die Männer diskutierten, wird durch Fulberts Auftritt notwendig, dass kein Riss zwischen den Gläubigen und Nichtgläubigen entsteht. Darum müssen alle einbezogen werden, als eine Einheit gegen den bösartigen Betrüger, der nicht die Oberhand gewinnen darf.
Zitat von Merle
Wir sind vollzählig, und eine Vollversammlung mit den drei Frauen, mit Momo und dem „Leibeigenen“ hatten wir bisher noch nie. Wir demokratisieren uns.
… sagt Emmanuel an einer Stelle.
Das Fordern der Kuh und die Lösung hat mir gefallen. Auch wird langsam deutlich, dass die Bombe wohl doch keine Atombombe war, sondern eine andere, zwar alles zerstörende, aber nicht verstrahlende, da der Regen nicht radioaktiv ist. Das Abwarten dieses Regens (der ja auch neues Leben bedeutet, solange er nicht den Tod bringt - diese Gegensätze sind immer herrlich), die Spannung, die alle Menschen in Malevil wieder etwas näher zusammenrücken lässt, selbst Fulbert, der über die Gefahr kurz seinen „Auftrag“ vergisst, war schon mitreißend, obwohl man, aufgrund des Berichtes, ja doch ahnen konnte, dass alles gut ausgehen würde. Trotzdem hat man mitgezittert, und die Worte, die zwar vom falschen Geistlichen vorgetragen werden, gewinnen trotz allem einen ganz eigenen Wert und Trost, wirken, weil sie aus der Bibel gelesen werden, nicht, weil sie gut vorgetragen sind, was die Gabe Fulberts dann zur Parodie werden lässt. Der, der den Priester besser spielt, als ein wirklicher Priester je sein könnte, der vielleicht nur seine Berufung verfehlt hat, weil er einen anderen Weg gegangen ist, obwohl er die Kunst des Vortragens so wunderbar beherrscht.
Dass in dieser leeren Welt immernoch Gier und Neid herrschen, ist einerseits erschreckend, andererseits wohl ein natürlich, menschlich-tierischer Vorgang des Überlebenskampfes, was traurig genug ist. Fulbert wird regelrecht vor die Tür gesetzt, und... ich dachte, ich lese nicht richtig, ... Emmanuel zum neuen Geistlichen von Malevil erklärt. Wie sich das dann in den mal wieder knappen Anmerkungen von Thomas erklärt, ist auch etwas merkwürdig. Klar, einmal, um den Spion nicht einlassen zu müssen, den Vikar, den der gerissene Fulbert ihnen aufzwingen wollte, auch, damit sie sich, wie Emmanuel in seiner Unterhaltung mit Fulbert zuvor, keinen ungläubigen, damit angreifbaren Anschein geben, aber scheinbar hat Emmanuel einen "gewissen Druck" auf die Nichtgläubigen (Thomas und Meyssonnier) ausgeübt, der mehr Überredung, als Überzeugung war. Hier deutet sich vielleicht dann doch ein neues Verhalten an.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
Hallo,
Zitat von Taxine
Das ist irgendwie widerlich, als ob sie da ein behindertes „Kind“ im Namen der Menschheit missbrauchen, die sich dem Ganzen fügt oder sich nichts dabei denkt. Auch wenn all das ohne Gewalt geschieht, liegt darin etwas Abartiges. Gerade diese Empfindungslosigkeit deutet darauf hin, dass sich die Moral langsam verliert.
Die entsprechende Textstelle bei Merle hatte ich nicht parat. Tja, ein debiles Mädchen zu missbrauchen gilt bei mir schon als barbarischer Akt. Das wirft ein etwas anderes Bild auf Emmanuel, der sich sehr wohlwollend, friedlich und diplomatisch gibt.
In Kap. 12 heißt es:
Zitat von Merle
Fulbert ist kein wahrer Priester, weil er lügt. Nicht ich. Ich bin kein Heuchler. Mein Priestertum ist verbürgt durch das Vertrauend der Gläubigen, die mich gewählt haben.
Das ist doch Augenwischerei. Emmanuel ist genausowenig ein ordinierter Priester wie Fulbert. Hier steckt Willkür dahinter. Der eine lügt, er sein Priester, der andere lässt sich wählen. Es werden aber sämtliche Vorschriften Studien, Priesterweihen, die es vor dem Tag X noch gab, über den Haufen geworfen. Das nenne ich Willkür zu eigenem Vorteil, wobei wir noch nicht wissen, was es für ein Vorteil für Emmanunel ist, ein Geistlicher zu sein. Fulbert nutzt seine Priesterstellung in La Roque aus, um eine autoritäre Diktatur zu verwalten, Emmanuel macht sich zum Chef von Malevil. Mal sehen, wie lange dort die friedliche Gleichstellung der Menschen noch existiert. Thomas will Catie heiraten, die sie aus La Roque mitgenommen haben. Emmanuel sieht Konflikte voraus und sagt zu Thomas, sie wird nicht treu sein, weil, so erfahren wir, Monogamie unter sechs Männern und zwei Frauen fehl am Platze ist. Merle deutet immer gezielter darauf hin, dass, so vermute ich, die Barberei unter den Malevilern zunehmen wird. All dieses jedenfalls kein gutes Omen. Außerdem wird Fulbert überhaupt nicht von Catie's und Evelyns Verschwinden begeistert sein, den ein Fulbertsches Dekret lautet, die Bürger von La Roque dürfen den Ort nicht verlassen. Fulbert kann Emmanuels handeln als Entführung deuten, das könnte auch ein Kriegsgrund darstellen (sozusagen eine Entführung der Helenaaus Troja ).
Zur Bombe: Es wurde im Roman schon mal erwähnt, dass es sich um eine Lithiumbombe handeln könnte, die keine Strahlungen freisetzt. Ich habe im Internet zu dieser Bombe nichts verwertbares gefunden. Lithium benutzt man z.B. auch als Medikamentenwirkstoff bei Manie.
Liebeschte Grüßerl
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Zitat
Lithium entzündet sich an der Luft im flüssigen Zustand und als Metallstaub bereits bei Normaltemperatur. Aus diesem Grund muss Lithium auch unter Luftausschluss, meist in Petroleum gelagert werden. Bei höheren Temperaturen ab 190 °C wird bei Kontakt mit Luft sofort überwiegend Lithiumoxid gebildet. In reinem Sauerstoff entzündet sich Lithium ab etwa 100 °C. In einer reinen Stickstoffatmosphäre reagiert Lithium erst bei höheren Temperaturen zu Lithiumnitrid. Beim Kontakt mit sauerstoff- oder halogenhaltigen Substanzen kann Lithium explosionsartig reagieren.
Metallisches Lithium verursacht Schäden durch Verbrennungen oder Alkali-Verätzungen, weil es mit Wasser unter starker Wärmeabgabe Lithiumhydroxid bildet; dafür genügt schon die Hautfeuchtigkeit.
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[i]Poka![/i]
Danke für die Information zur Bombe!!
Weiter im Buch
Der Marxismus beziehe sich auf eine Industriegesellschaft. "In einem primitiven Agrarkommunismus ist er nutzlos", heißt es. Das Leben nach dem Tag X ist ein "Rückschritt" in der Menschheitsgeschichte. Die Sitten und Gebräuche, die noch vor dem Tag X galten, haben nach dem Tag X keine Bedeutung mehr. Dieser "Rückschritt" führt die Menschen von Malevil scheinbar unwiederuflich in den Barbarismus. Es ist ein Kampf ums Überleben. Entweder wir haben etwas zu essen, oder andere nehmen es uns weg, und dann verhungern wir. Alles läuft auf der unteren Plattform der Maslow'schen Pyramide ab, auch die Sexualität. Die Plünderer werden gnadenlos erschossen. Die Plünderer, die schon den größten Barbarismus erreicht haben, schon mehr Tier als Mensch, wollen sich durch die malevil'schen Felder fressen. Durch eine Kette ungünstiger Zufälle, wird Momo von einem der Plünderer erstochen. Das ist passiert, weil die Männer von Malevil von Befehlen abgewichen sind, Schwächen gezeigt haben. Um mal zu spekulieren könnte sich der Roman nun dahinentwickelt, dass die Maleviler eine strenge Führungsgewalt brauchen, der unabdingbar gehorcht werden muss. Und diese Gestalt wird Emmanuel sein.
Hier unsere Maßstäbe von Moral und Unmoral anzusetzen, halte ich für nicht richtig. Es ist doch völlig richtig, dass der Mensch immer mehr zum Tier verwahrlost. Welcher Mensch möchte sich den einfach umbringen lassen? - Keiner. Na also, dabei mir natürlich aus meiner Sicht völlig klar ist, all dieses ist völlig unmenschlich und so etwas kann nicht gutgeheißen werden. Die Maleviler leben aber in einer äußerst unmenschlichen Situation, die ums überleben kämpfen müssen, und zum Überleben brauchen sie eben das Getreidekorn. Sie leben kulturlos. Dieses bisschen Kultur, was sie jetzt noch in Erinnerung haben von dem Leben davor, dieses bröckelt immer mehr. Auch ihre Bibel und der Larousse wird irgendwann mal vergessen.
Nun, ich habe ein wenig Prognose betrieben. Wohin Merle den Roman treibt, dass werden wir sehen. Noch 120 Seiten, dann weiß ich es.
Liebe Grüße und allen Lesern
einen schönen vierten Advent.
mArtinus
PS: Wie ist es eigentlich im "Herr der Fliegen?". Entwickelt sich nicht dort auch alles in die Barberei? Ich meine mal so etwas gelesen zu haben.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Robert Merle
in Die schöne Welt der Bücher 21.12.2009 18:05von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
Zitat von Martinus
Auch ihre Bibel und der Larousse wird irgendwann mal vergessen.
Für mich beinhalten beide Buchwerke eher das Gegenteil. Aus ihnen als eine Art menschliche Zusammenfassung an Wissen und Moral wird sich immer wieder eine neue Welt rekonstruieren und neu aufbauen lassen. Ob das natürlich sinnvoll ist, wäre auch zu hinterfragen, zumindest könnte man bestimmte Wissensgebiete nutzen.
Zitat von Martinus
Hier unsere Maßstäbe von Moral und Unmoral anzusetzen, halte ich für nicht richtig. Es ist doch völlig richtig, dass der Mensch immer mehr zum Tier verwahrlost. Welcher Mensch möchte sich den einfach umbringen lassen? - Keiner. Na also, dabei mir natürlich aus meiner Sicht völlig klar ist, all dieses ist völlig unmenschlich und so etwas kann nicht gutgeheißen werden.
Ja, das sehe ich ähnlich. Ich habe das Buch gestern nacht zu Ende gelesen und noch lange darüber nachgedacht. Obwohl mir Merles Schreibstil manchmal ziemlich auf die Nerven ging, diese Art Literatur mich kaum mehr reizt, so muss ich doch sagen, dass der Roman nachwirkt (obwohl mir "Die geschützten Männer" bei weitem besser gefallen haben.)
Das Ende, entnommen aus dem Bericht von Thomas, macht deutlich, dass der Mensch sich immer wieder im Kreis dreht, als wäre er, was auch geschieht, in einer Endlosschleife gefangen, weil sich zwar alles um ihn herum ändern kann, er selbst aber immer gleich bleibt. Da geht eine Bombe hoch, vernichtet fast alles Leben, rottet Natur und Mensch aus, und die Menschen, im Kampf des Überlebens, Neuordnens und Zurechtfindens bleiben der Devise der Gewalt treu, legen erneut Wert darauf, sich ihre Waffen und Munition zu erhalten, sich gegen alles und jeden blutrünstig zu verteidigen. Statt Forschung und medizinisches Wissen, wird zunächst als erstes die Herstellung von Schwarzpulver bedacht, um sich weiter verteidigen zu können. Danach kommt alles andere, was beweist, dass sie aus der Gefahr der Bombe nichts gelernt haben.
Anhand der Umstände, der Verteidigung von Malevil und der inquisitorischen Besetzung von La Roque, zwei Flächen des Überlebens, die sich unterschiedlich entwickeln, zeigt sich ja auch deutlich, wie schwierig das Überleben ohne Gewalt und Verteidigen ist, solange so unterschiedliche Menschencharaktere aufeinandertreffen.
Dahinter bleibt die Tatsache, dass jeder seine Familie verteidigen würde, wenn er auf andere Gewalt trifft.
Auf die Triebgründe wie Hunger und Verelendung kann dabei keine Rücksicht genommen werden, wenn dadurch das eigene Leben gefährdet ist, das zeigt die grausige Szene mit den "Kornfressern", die Momo das Leben kosten, weil in ihnen jedes Menschsein schon unter Hunger und Leid erloschen ist. Wenn zu wenig Nahrung für (und das ist paradox) zu viele Menschen vorhanden ist (obwohl es tatsächlich so wenige sind), artet alles aus.
Der Grund, warum verteidigt wird, muss daher immer von allen Seiten betrachtet werden. Die kleine Evelyne ist das personifizierte, schlechte Gewissen Emmanuels. Dieser, durchaus nicht perfekt in seinen Handlungen und Denkmethoden, verdeutlicht als Charakter, dass die Führung immer einen Menschen benötigt, der stark ist und wagt, Entscheidungen zu treffen (ohne die Macht all zu sehr zu missbrauchen), dieser gewisse "Machiavellismus", der notwendig wird, wenn man viele führen muss, solange darunter immer ein gutes Herz schlägt. Auch ein schwacher Mensch mit sehr gutem Herzen wäre hier gescheitert. Die umgekehrte Variante, dargestellt durch Fulbert, zeigt, dass auch seine Art an Stärke durch ein hinterhältiges, betrügerisches Herz gesteuert, eine Weile funktioniert, aber zur Unterdrückung der Menschen führt.
Emmanuel ist eitel, gefällt sich in seiner Rolle sehr wohl, aber er trifft seine Vorkehrungen aus dem Herzen und durchaus noch menschlich, der andere aus der reinen Gier. (Auch der falsche Hauptmann bringt noch eine Variante des Machtmissbrauchs ins Spiel, der auf die reine Gewalt und Unterdrückung baut, die offene, nackte, nicht hinterhältige, versteckte (wie bei Fulbert). So oder so ist der Mensch dem Untergang geweiht, wird er sich auf diese beiden Methoden stützen, um eine neue Welt aufzubauen. Nur Emmanuels Weg scheint zu funktionieren, weil die Gemeinschaft nicht zerstört wird.)
Alle drei Führer sterben am Ende, der Hauptmann wird erschossen, Fulbert von der aufgebrachten Meute gelyncht (Es waren vielmehr die Angsthasen, die Fulbert umbrachten, und ... als wäre mit ihm auch die kollektive Tat, die ihm das Leben genommen hat, aus der Welt geschafft.), und Emmanuels Tod verkörpert schlechthin die Ironie des Schicksals, die dann auch durch die Gemeinsamkeit ihrer beiden, zueinander gefundenen Seelen, Evelyne das Leben kostet (Eine Art Romeo und Julia - Szene, während der flatterhafte Emmanuel in ihr einen Menschen gefunden hat, den er wirklich liebt (was ich trotz der erotischen Anspielungen schön fand. Er, der gegen die Ehe ist, liebt das "Kind", weil er es auf diese Weise mehr mit dem Herzen, als mit dem Organ verehrt)). Gerade er, der so schön erkannt hat:
Zitat von Merle
Da die Medizin verschwunden ist, wird das Leben möglicherweise kürzer werden. Aber wenn man langsamer lebt, wenn einem die Tage und die Jahre nicht mehr mit erschreckender Geschwindigkeit davonlaufen, wenn man endlich Zeit hat zu leben, frage ich mich, was man verloren hat.
... stirbt an einem Blinddarmdurchbruch.
Trotzdem macht ihn sein Tod auch zum Helden, wo die menschlichen Schwächen hinter dem, was er bewirkt hat, verblassen und nur noch das Ergebnis zurückbleibt, auch natürlich im Vergleich zu all denen, die ihm nachfolgen und dieser Aufgabe (das richtige Handhaben dieser plötzlichen Macht) nicht gewachsen sind (siehe Colin). Auch beweist er in seinem Verhalten und in seiner Einstellung:
Zitat von Merle
Man muss nicht an Gott glauben, um das Gefühl für das Göttliche zu haben.
Die Moral ist nicht in der Bibel oder in der Religion zu suchen, sondern im Menschen selbst.
Gerade als Leser sieht man den Widersinn vieler Vorgänge deutlich vor Augen, wo es für die einen (weil sie aus schlechtem Anlass handeln und Betrüger sind (aus Angst, Gewohnheit, Kaltherzigkeit)) falsch ist, für ihr Überleben zu kämpfen (obwohl auch sie ja letztendlich, subtrahiert man alles, eigentlich nur ihr Leben verteidigen, trotz dass sie angreifen), während es für die (die ihre Familie verteidigen und lediglich leben wollen) richtig wirkt, rohe Gewalt anzuwenden, bis in alle Konsequenz. Dahinter erkennt man die ganze Unnötigkeit dieser Gewaltausbrüche, wären die Menschen nur ein bisschen mehr bereit, einander zuzuhören und die leere Welt als Warnung zu nehmen, um aus dieser Erkenntnis dann ganz anders oder neu zu handeln.
Die Aussage: der Mensch bleibt seinem eigenen Tier treu, selbst wenn die Zeit und die Entwicklung durch die Ausrottung stehengeblieben und wieder zurückgeschnellt ist. Er trifft seine Entscheidungen mit dem Restgedanken an die bekannte Welt, mit all seinen Gewohnheiten, bleibt aggressiv und wird dabei immer bissig sein Überleben sichern, dafür kämpfen und morden. Mit dem Ablegen des Industrialisierungsdenkens, mit der ganzen alten Welt (die eigentlich keine Richtlinie mehr hätte sein dürfen), mit der Arglosigkeit von neuen Menschen mit leeren Köpfen, in denen eben nicht die alte Welt samt ihrer Gewohnheiten herumgeistert, wäre ein gewaltloser Neuaufbau vielleicht möglich gewesen.
Wunderbar fand ich so einen Satz:
Zitat von Merle
Dass unser Leben von so absurd verknüpften Zufällen abhängt, macht uns bescheiden.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
Hallo Taxine,
Zitat von Taxine
Obwohl mir Merles Schreibstil manchmal ziemlich auf die Nerven ging, diese Art Literatur mich kaum mehr reizt, so muss ich doch sagen, dass der Roman nachwirkt (obwohl mir "Die geschützten Männer" bei weitem besser gefallen haben.)
Ich habe schon Bücher mit simplen Schreibstil entweder in die Ecke gefeuert, habe solche Bücher nicht verstanden, weil mir vor Langeweile die Konzentration ausging oder bei Merle und Simmel weitergelesen, weil die Themen so interessant waren. Was für herrliche Romane sind "Es muß nicht immer Kaviar sein" und "Lieb Vaterland magst ruhig sein". Wir sind schon so verwöhnt an guter Literatur, dass uns Dan Brown und Frank Schätzing am sonstwo vorbeigehen. Das ist wahr. (huu, köstlich).
Zitat von Taxine
Anhand der Umstände, der Verteidigung von Malevil und der inquisitorischen Besetzung von La Roque, zwei Flächen des Überlebens, die sich unterschiedlich entwickeln, zeigt sich ja auch deutlich, wie schwierig das Überleben ohne Gewalt und Verteidigen ist, solange so unterschiedliche Menschencharaktere aufeinandertreffen.
Heute habe ich im Zug gelesen:
Zitat von Merle
Das Gesetz, das sind unsere Gewehre. Und nicht allein unsere Gewehre; unsere Kriegslisten. Wir die wir zu Ostern keine andere Sorge hatten, als in Malejac friedlich die Wahlen zu gewinnen, sind jetzt darauf aus, uns die unerbittlichen Gesetze primitiver Kriegerstämmme einzutrichtern.
Trotzdem schade, dass Menschen gewaltmäßig so weitermachen, wie vor dem Tag X.
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)