HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Jugend ohne Gott
"Daß diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, wär zwar noch nicht schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, nämlich: ohne es zu kennen. Aber das Schlimmste ist, daß sie es überhaupt nicht kennenlernen wollen!" (19)
Sie kleben lieber am universalen Maul des Führers, wie Horkheimer und Adorno das Radio nennen, durch das sich die Hetzparolen reproduzieren und den Boden des totalitären Staates beackern. Auf ihm soll das neue Individuum heranwachsen, das voll und ganz im Staat aufgeht, der den Arier als Kulturgründer und Kulturträger inszeniert.
Mit diesem Ethnozentrismus radikalster Form will sich die Hauptfigur nicht abfinden. Der Lehrer für Geschichte und Geographie steht zwischen den Stühlen. Er erkennt die Gefahr des Nationalsozialismus, steht ihm ablehnend gegenüber, will seine gesellschaftliche Position aber nicht freiwillig aufgeben. Sie verspricht in unsicheren Zeiten ein sicheres Brot.
Heilig ist ihm nicht Gott, dem auch er seit der Jugend abgeschworen hat, heilig sind ihm Menschenwürde, Humanität und Toleranz. Rassistischen Äußerungen seiner Schüler, versucht er im Rahmen seiner Möglichkeiten sachlich zu entgegnen und sie zu entkräften. Doch durch das funktionalisierte Massenmedium, welches das Maul des Führers immer und überall erhallen und als Echo nachhallen lässt, das Unrecht zu Recht verkehrt und die Untat legitimiert, "wenn sie im Interesse der Sippschaft begangen" (19) wird, wird jeder humanitäre Vorstoß des Lehrers unter Zeugen zur Antithese und zur existentiellen Bedrohung.
Eigentlich hat er keine Lust mehr, es freut ihn nicht mehr, wer soll’s ihm verdenken, "Geh heim!", sagt er sich, "Geh heim!" (42) Der Abstieg des Lehrers ist unter diesen Voraussetzungen geradezu zu erahnen. Anders als man erwartet verläuft er jedoch nicht über den Weg der Elternschelte, Denunziation und Behördenwillkür, sondern er vollzieht sich infolge eines relativ gewöhnlichen Mordfalls.
Während der vormilitärischen Ausbildung, für die Schüler und Lehrer in ein Zeltlager gefahren sind, wird ein Klassenkammerad zunächst vermisst und dann erschlagen aufgefunden.
Im Zuge seiner Aufsichtspflicht, die der Lehrer übergründlich zu erfüllen suchte, scheint er indirekt selbst in die Tat verwickelt, gar den Auslöser geliefert zu haben.
Die Suche nach dem wahren Täter, die Frage nach dem Wie und Warum dominieren fortan das Geschehen.
Aus dem Roman ist unerwartet ein Kriminalroman geworden. Das aber nur vordergründig. Denn ähnlich wie in Schillers "Der Verbrecher aus verlorener Ehre" wird der Fall selbst zum Medium, über das die Lebenswelt der Protagonisten kritisch seziert und skizziert wird.
"Jugend ohne Gott" (1937) ist in einem einfachen Erzählstil gehalten. Wir haben es mit einer Ich-Erzählsituation zu tun. Die berichtende Darstellung verläuft bei geringer Distanz chronologisch. Ich-Erzähler ist der Lehrer, der dem Leser nur das mitteilt, was er selbst denkt, erlebt oder was ihm durch andere Figuren herangetragen wird.
Auffallend ist, dass der Spannungsaufbau dem eines Dramas gleicht. Man merkt, wie sehr Horváth Dramatiker war. Es lässt ihn auch in diesem Roman nicht los. Einleitend wird dem Leser die Hauptfigur im gesellschaftlichen Kontext näher gebracht. Einer ersten Steigerung, die den Lehrer in einen Konflikt mit der Klasse verwickelt, folgt der Höhepunkt, die Ermordung des Schülers N.
Der Anfangsbuchstabe ist übrigens Programm. Das klassische Täter-Opfer-Schema mit Gesinnungshintergrund löst sich damit auf, was eine Simplifizierung des Falls verhindert.
Einer abfallenden Spannung, die mit der Entlastung der Beschuldigten endet, dem retardierenden Moment, der in die Entlarvung des wahren Mörders mündet, folgt das Finale: Der Mörder begeht Selbstmord und der Lehrer findet seine Freiheit.
Er begreift den Ausschluss aus dem Schulsystem als Chance und löst sich aus der verhassten Zwangsjacke des Staates der "Charakterlosen unter dem Kommando von Idioten" (104).
Ödön von Horváth erlebte die Apokalypse, die sein Roman vorausahnen lässt, nicht mehr mit. Er wurde 1938, mit 36 Jahren, auf dem Champs-Elysées von einem herabstürzenden Ast erschlagen. "Jugend ohne Gott" wurde ein Welterfolg.
(Quelle der Zitate: Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2008.)
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[i]Poka![/i]