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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Zeitalter der Reproduzierbarkeit

in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 20.03.2010 11:56
von LX.C • 2.821 Beiträge

Ein paar Gedanken zum heutigen Stand auf der Grundlage einer linken Medientheorie.

Weltweit, täglich, stündlich werden Youtube Videos eingebunden, in private Seiten, in Kommunikationsplattformen, sogar offizielle Medien wie das Fernsehen partizipieren inzwischen an Youtube. Auf der anderen Seite landen Ausschnitte aus Fernseh- und Radiosendungen bei Youtube. Sie lassen sich nicht mehr so einfach in den Archiven der Massenmedien ablegen und wenn nötig verhindern.
Beispiele struktureller Öffnung medialer Kommunikation gibt es viele. Ein anders wären Blogger, die auf tägliche Ereignisse und journalistische Beiträge reagieren. Aber auch Journalisten selbst, die in Weblogs auf Kollegen und Publikumsfeedback reagieren, oder das publizieren, was selbst ihnen das offizielle Massenmedium versagt. Die Liste der Möglichkeiten, die sich im Zeitalter der Reproduzierbarkeit entwickelt haben, lässt sich mannigfaltig fortführen.
Für den User ist das alles zur Selbstverständlichkeit geworden. In die Höhe schießende Bandbreiten lassen technisch keine Wünsche mehr offen. Sie bieten neben der reibungslosen Nutzung gegenwärtiger Möglichkeiten auch Entwicklungspotential für zukünftige Ideen.
Schon 1932 forderte Bertolt Brecht in seiner Radiotheorie, den Rundfunk von einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Er verfolgte damit die Idee, die propagandistisch manipulierende Sackgasse Massenmedium zu unterminieren und den „denkbar großartigsten Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens“ zu schaffen.
Das war schon damals keine unrealistische Utopie, Transistorradios bieten die potentielle Möglichkeit des Empfangens und des Sendens. Was gemeint ist versteht man schnell, wenn man an Kurzwellengeräte des Amateurfunks denkt. Doch selbst der Funkverkehr blieb Zeit seines Lebens von Beschränkungen traktiert, weil kapitalistische wie auch sozialistische Macht- und Medienlenker niemals an einem Produktivwerden der Messen interessiert sind, gar Angst davor haben, und dieses zu verhindern oder blockieren trachten wo es nur geht, wie Enzensberger in seinem „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ von 1970 festhält.
Er geht einen Schritt weiter als Brecht und forderte generell die strukturelle Öffnung der Medien. Auch er hatte das Zeitalter des öffentlich zugänglichen Internets noch nicht erreicht, das vielleicht zur Verwirklichung seiner Theorie hätte beitragen können?
Enzensberger konzentrierte sich noch auf das Potential neuer Medientechniken wie Videokameras, Videorecorder, Lasertechnik, drahtloser Druck, elektronische Schnelldrucker, Kopiergeräte, Kabel- und Sattelitenfernsehen. All die technischen Möglichkeiten, die in den 60er/70er Jahren einen rasanten Entwicklungsschub machten. In ihnen sah er das Potential gegeben, durch das die Massen hätten medial produktiv werden sollten. Für ihn stand nicht die Frage im Raum, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, denn jede mediale Produktion sei per se Manipulation (Manipulation ist dem Produktionsprozess inhärent), sondern wer manipuliert. „Ein revolutionärer Entwurf muss nicht die Manipulateure zum verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen.“ (Enzensberger 1970, 166)
Selbstorganisation, Interaktion der Teilnehmer, direktes Feedback, dezentralisierte Programme sind die Stichworte, die einen emanzipatorischen Mediengebrauch ausmachen sollten. Jeder sollte, Enzensbergers Vorstellung zufolge, an seinem gesellschaftlichen Platz im Interesse der Masse selbst zum Medienproduzenten werden, um das Medien- und letztlich dadurch das gesellschaftliche System zu verändern und basisdemokratisch zu gestallten. Indem die Menschen innerhalb der Gesellschaft „aggressive Formen der Öffentlichkeit herstellen, die ihre eigene wäre, könnten die Massen sich ihrer alltäglichen Erfahrungen versichern und aus ihnen wirksame Lehren ziehen.“ (Enzensberger 1970, 170)
Technisch wäre das heute so einfach zu verwirklichen wie nie zuvor. Die Foto- selbst Videokamera ist überall mit dabei. Sie passen inzwischen in jede Hosentasche und sind selbst schon wieder in Kommunikationsgeräte integriert. Das Handy ermöglicht seit UMTS auch noch einen schnellen Zugang ins Internet. Und das wird sicher nicht der letzte Stand der Entwicklung bleiben.
Die Kamera kann, ja, sie wird überall eingesetzt, auf Demonstration, zur Dokumentation von Missständen. Plattformen wie Twitter basieren auf der Idee eines rasanten Informationsaustauschs, an dem sich jedermann jederzeit beteiligen kann. Eigentlich alles wie es sich Enzensberger vorgestellt hatte. Jeder Empfänger kann so einfach wie nie zum potentiellen Sender werden. Eine Mobilisierung der Massen ist über das Internet möglich. Über das Internet können Teilnehmer interagieren und direkt Feedback abgeben, sich wiederum zu Protestaktionen organisieren. Flashmobs sind ein kleiner Beweis, dass das funktionieren kann.
Und doch scheinen wir bei der Kritik Enzensbergers in den 70er Jahren stehen geblieben zu sein. Das Produktivwerden der Massen bleibt zum überwiegenden Teil amateurhaft. Ein Einschreiten jedes Einzelnen an seinem gesellschaftlichen Platz zugunsten eines kollektiven Interesses und Lernprozesses bleibt aus. „Das Programm, das der isolierte Amateur herstellt, ist immer nur die schlechte und überholte Kopie dessen, was er ohnehin empfängt“ (Enzensberger 1970, 168/169). Gute Ansätze gesellschaftlich kritischer Mediennutzung verpuffen wie die Schlagzeile der Abendnachrichten zwischen den Phrasen der Soapoperas und Doku-Soaps.
Massenmedien wie das Fernsehen, Zeitungen, Radio lassen auch im Internetzeitalter nur ein begrenztes, systemrelevantes Minimum an Feedback und eine begrenzte Interaktion zu. Die anfänglich erwähnte Verwendung von Youtube Videos in Fernsehsendungen entspricht nach wie vor einer Scheinintegration, die schon zu Zeiten der Videobandkamera ihre Anwendung fand, um die Kompetenz der professionellen journalistischen Arbeit zu bestätigen und zu stärken und die Masse bloßzustellen. Sie reibt dem Zuschauer, der gerade sein Homevideo bei Youtube eingestellt hat, die eigene Amateurhaftigkeit und Unrelevanz im selben Atemzug wieder unter die Nase, um den professionellen Medienmacher zu hofieren und seine Unabdingbarkeit zu unterstreichen.
Hier lässt sich der repressive Mediengebrauch nicht so leicht aufweichen. Das Individuum wird weiter isoliert, zu einer passiven Konsumentenhaltung und zum lenkbaren Objekt der Politik erzogen. Der Regelkreis setzt sich fort, auch im Zeitalter des Internets.
Ist ein Medienpessimismus deshalb angebracht? Enzensberger hat seine Theorie zum emanzipatorischen, basisdemokratischen Mediengebrauch längst verworfen (Das Nullmedium, 1988). Selbst das Internet sieht er aufgrund der Überflutung mit Daten- und Informationsmüll als gescheitert an (Das digitale Evangelium, 2000).
Was bleibt ist der unhintergehbare Fakt der Reproduzierbarkeit. Sie lässt sich in ihrer Entwicklung nicht einschränken, vielleicht kurzzeitig, aber nicht aufhalten. Selbst wo versucht wird sie zu verhindern, sucht sie sich wie Wasser ihre Wege. Von einer unbedingten Verlegung aufs Politische, wie es ihr Walter Benjamin 1936 selbst im Bereich der Kunst zuschrieb, will sie jedoch nichts mehr wissen.
Grund zum Pessimismus gibt es dennoch nicht. Brisante politische Ereignisse in aller Welt zeigen immer wieder das Potential der Reproduzierbarkeit und des emanzipatorischen Mediengebrauchs. Im Ausnahmezustand tritt es am deutlichsten hervor.

(Quelle der Zitate: Enzensberger, Hans Magnus 1970: Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Kursbuch 20, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.)


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 20.03.2010 12:51 | nach oben springen

#2

RE: Zeitalter der Reproduzierbarkeit

in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 20.03.2010 13:05
von Hyperion (gelöscht)
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doch, ist politisch.



LG

zuletzt bearbeitet 20.03.2010 13:05 | nach oben springen


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