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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 20.04.2010 16:43
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Wassili Grossman

Grossman hat ein gehetztes Leben hinter sich, warum auch nur wenige seiner Nachkriegswerke veröffentlicht wurden. Geboren am 12. Dezember 1905, wuchs Grossman zwar als Sohn jüdischer Eltern auf, wurde aber nicht in jüdischer Tradition erzogen. Erst später beschäftigte er sich intensiv mit dem Judentum, als der Antisemitismus in Russland begann und seine Ansichten über den Staat in jeglicher Weise in Frage stellte.
Seine Eindrücke über Treblinka dienten später bei den Nürnberger Prozessen als Beweismittel und Dokument der Anklage. Der erste Roman über Stalingrad nannte sich „Stalingrad“, später „Für die gerechte Sache“ (noch sehr teuer und antiquar zu haben unter dem Titel „Wende an der Wolga“), während „Leben und Schicksal“ zwar sein opus magnum ist, jedoch der zweite Teil, was auch die Namen und Ereignisse betrifft.

Als er das Manuskript für „Leben und Schicksal“ zur Veröffentlichung vorlegte, durchsuchte der KGB seine Wohnung und beschlagnahmte sämtliches schriftliches Material.
„Ich verlange Freiheit für mein Buch…“ schrieb er an Chruschtschow.
Eingestuft als „gefährlich“, wurde er zur Unperson. Grossman starb am 14. September 1964 in Moskau, ohne zu wissen, ob sein Roman jemals von einem Publikum gelesen werden würde.
In seinem Werk fragt sich ein Glossen-Schreiber, der zum früheren russischen Adel gehörte:

(S. 157)
„Ob ich wohl sterben werde, ohne eines meiner Gedichte gedruckt gesehen zu haben?“

Vielleicht klingt in diesem Satz durch, was Grossman sich im Stillen auch ab und an selbst gefragt hat.

Dann nun also zu diesem Werk:
LEBEN UND SCHICKSAL

Das Leben verdorrt dort, wo man mit Gewalt versucht, seine Eigenarten und Besonderheiten auszulöschen.

Grossman führt uns direkt in ein deutsches Konzentrationslager, wo der alte Bolschewik Mostowskoi zum ersten Mal wieder auf seine Fremdsprachenkenntnisse zurückgreifen muss, die er noch aus den Jahren seiner Emigration kennt. Ein riesiges, schreckliches, kaltes Lager voller Menschen, von denen viele keine Verbrechen begangen haben. Kritik an Hitler, Witze, Gespräche genügten, um hier zu landen, politische Gefangene, Drückeberger, Saboteure, deutsche Emigranten.
Tatsächliche Verbrecher, Diebe oder andere Kriminelle gehörten im politischen Lager zu den Privilegierten. Der Nationalsozialismus ist überall anwesend, ohne „Person“ zu sein. Die Gefangenen halten sich selbst in Schach.

Zitat von Grossman S. 20
Der Nationalsozialismus lebte ganz selbstverständlich in den Lagern; er setzte sich nicht vom einfachen Volk ab, er machte volkstümliche Witze, über die man lachte, er war Plebejer und gab sich einfach, er kannte eben Sprache, Seele und Geist derer, denen er die Freiheit geraubt hatte.



Mostowskoi trifft dort auf den Latrinenalten, der im Lager mitleidig als zurückgeblieben angesehen wird. Er stellt fest, dass sich unter dem Zerfall ein intelligenter Mensch verbirgt, der viel Leid und Grauen gesehen hat, Dinge, durch die er seinen Glauben verloren hat. Juden, die getötet wurden, eine Bäuerin, die vor Hunger ihre beiden Kinder aufgefressen hat. Er erklärt:
Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte.
Denn Hitler würde dieses Lager als etwas Gutes ansehen.

Und:
Die Welt ist zu keiner höheren Wahrheit gelangt als zu der, die ein syrischer Christ im sechsten Jahrhundert ausgesprochen hat. (…) Verurteile die Sünde und vergib dem Sünder.

Ein wirklich beeindruckender, tiefer Satz. Eine Welt, die sich immer schneller dreht und doch das Barbarentum nie ablegt, während dieses sich nur vertechnisiert, vergrößert, modernisiert, sich durch Kriege zu befreien versucht, Menschen abschlachtet, als wäre das Leben ein Nichts, wird immer nur auf diese Grundgedanken treffen, ohne je fähig zu sein, sich diesen Satz nicht vor Augen führen zu müssen. Ein Trost, eine Möglichkeit, sich durch dieses Leben schlagen zu können, ohne an all dem Leid zu zerbrechen.
Egal, wie sehr das Leben und die Welt sich auch verändern wird, es wird immer auf diese Grundgedanken zurückführen. Und dazwischen wird weiter gemordet, gelyncht und ausgerottet, für Macht und Gier, für Ruhm und Anerkennung, ... für ein Schulterzucken.

Grossmans Schreibstil ist einfach und erinnert doch in der Eindringlichkeit der Ereignisse auch mal an Dostojewskijs Beschreibungen aus dem Totenhaus (und später, in den Beschreibungen der Städte und Familien, sogar an Solschenizyn). Grundsätzlich aber hat er durchaus seinen ganz eigenen Stil, führt den Leser inmitten der Gespräche. Darunter gibt es klare, bewegende und einfache Bilder: ein einäugiger Mann, der sich, wenn ihn jemand anspricht, die Augenhöhle zuhält. (Mostowskoi dachte sich, dass die Traurigkeit, die in dem sehenden Auge zu lesen war, noch viel schrecklicher war als das rote Loch, das an der Stelle des ausgeschlagenen Auges klaffte. – Oder an anderer Stelle: Die Einsamkeit des Einäugigen wirkte in diesem Lager wie ein tragisches Symbol.) Ein Geistlicher, der in seinen Gebeten erscheint, als „könne alles Leiden der Lagerstadt in seinen leidenschaftlichen Augen, in ihrer gewölbten, samtenen Schwärze versinken.“ Der Austausch der Gefangenen trotz der Sprachschwierigkeiten aufgrund verschiedener Nationalitäten und das Gegenteil, als ein bösartiger Streit oder Schweigen der sowjetischen Kriegsgefangenen, die sich nicht einmal untereinander einigen können: Je mehr sie redeten und stritten, umso weniger verstanden sie einander.

Zitat von Grossman S. 33
In diesem Schweigen von Stummen, in diesem Reden von Blinden, in diesem von Grauen, Hoffnung und Verzweiflung zusammengeschweißten Menschenhaufen – Menschen, die die gleiche Sprache sprachen und doch einander nur mit Unverständnis und Hass begegneten – offenbarte sich auf tragische Weise eine der großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.



Ein Trost der Gefangenen ist das Bild Gorki, der über den Gefängnishof geht, als ihm ein Georgier zuschreit: Was läufst du da herum wie ein Huhn geh mit dem Kopf oben! – was nichts anderes heißt als: Kopf hoch! Viel schlimmer wäre, wenn die Gefangenen in die Lager der Eigenen kommen, hier haben sie wenigstens einen Feind – die Deutschen.
In einem russisches Lager geht es ähnlich zu. Die Not, der Hunger, das Leid. So viele unterschiedliche Menschen und Charaktere, die alle ein gleiches, ihnen aufgezwungenes Schicksal teilen.

Grossman gestaltet eine Art Rundumblick. Aus dem Lager geht es direkt an die Front des Stalingrader Ufers, wo die Rotarmisten mit geröteten Augen den deutschen Bombenhagel abwarten. Der Leser erfährt von den Schwierigkeiten des Soldatendaseins, die über die Gefahr des Todes, den Lärm des Fliegeragriffs, auch zu den ganz simplen Dingen zurückführen, wie z. B. die „Erleichterung“ (das Austreten) und die Freude, wenn es denn klappt, oder er erfährt, wann die richtige Stunde ist, sich zu rasieren, Briefe zu schreiben, kleine Wäsche zu machen, während ein normal Sterblicher den Lärm als bedrohliche Gefahr empfinden würde, solche Dinge, die man sich vielleicht nie vor Augen führen würde und die, bedenkt man sie in einer solchen Situation, doch so wichtig sind. Dazwischen fallen große Namen und werden neue Helden geboren.

Zitat von Grossman S. 37
In den vorderen Reihen aber begrub man die Gefallenen, und die Toten verbrachten die erste Nacht ihres ewigen Schlafs neben den Unterständen und Deckungen, in denen ihre Kameraden Briefe schreiben, sich rasierten, Brot aßen, Tee tranken und in selbstgebauten Schwitzbädern ein Dampfbad nahmen.



Und bald darauf befindet man sich inmitten des Krieges – die Wolga brennt – der Brand der Öltanks kostet 40 Stabsführer das Leben.
„Die Welt steht Kopf, Genosse General, das Feuer fließt wie Wasser, und die Wolga brennt wie Feuer.“

Schon bald bemerkt man die Lücken, die dadurch, dass man den ersten Roman nicht gelesen hat, entstehen. Da fallen Namen, deren Hintergrund man nicht kennt, die dem Leser aber bekannt sein müssten. Trotzdem kann man auch nicht sagen, dass man nicht ins Geschehen findet, denn es passiert etwas, in jedem Moment, auf jeder Seite. Die lauernde Gefahr, der Kampf zwischen Russen und Deutschen, ihre Aufgaben, Denkweisen, Gespräche.
Ein zu schlichtender Streit, für den z. B. der Berichtserstatter und Parteigenosse Krymow extra kurz nach dem Brand der Wolga an das Stalingrader Ufer beordert wurde, hat sich von alleine gelöst, da beide Streitpartner zuvor durch eine Bombe ums Leben kamen.
Szenen über Szenen. Menschen über Menschen. Das Kriegsgetümmel zeigt all seine Gesichter, all die Geschichten gewähren einen Einblick in das Wesen „Krieg“.

Um den Eindruck „Krieg“ nachvollziehen zu können, insbesondere in der Situation des Nahkampfes (der Einzelne, sowie sein Eindruck von Dauer und Zeit) schafft Grossman eindruckvoll philosophische Bilder:

Zitat von Grossman S. 51/52
Das kühne, überlegene „Wir“ verwandelt sich in das zaghafte, zerbrechliche „Ich“ und der glücklose Gegner, den man als vereinzeltes Jagdziel wahrgenommen hat, verwandelt sich in das erschreckende, bedrohlich zusammengeballte „Sie“.
Vorher hatte der – sich erfolgreich vorwärts kämpfende – Angreifer alles Kampfgeschehen im Einzelnen aufgefasst: Eine Geschossexplosion… ein Feuerstoß aus dem Maschinengewehr … da ist er, ja dieser, hinter der Deckung schießt er(…) denn er ist allein, allein, weil er von jenem vereinzelten Geschütz, von diesem vereinzelten Maschinegewehr, von seinen ebenfalls allein schießenden Kampfgefährten abgeschnitten wurde; ich aber – das sind wir, ich – das ist die mich unterstützende Artillerie, ich – das sind die mich unterstützenden Panzer, ich – das ist die Leuchtkugel, die unseren gemeinsamen Gefechtsschauplatz beleuchtet. Und plötzlich steht dieses Ich allein da, und alles, was vereinzelt und deshalb schwach gewesen war, schließt sich zur furchtbaren Einheit des feindlichen Gewehr-, Maschinengewehr-, Artilleriefeuers zusammen, und ich habe schon keine Kraft mehr, die mir helfen könnte, diese Einheit zu überwinden. Die Rettung liegt in meiner Flucht, darin, dass ich meinen Kopf in Deckung bringe, Schulter, Stirn und Kinnbacken bedecke.
Und so beginnen jene, die im Dunkel der Nacht dem plötzlichen Ansturm zunächst nachgegeben und sich anfangs schwach und allein gefühlt haben, die Einheit des auf sie einstürmenden Gegners aufzuspalten und die eigene Einheit zu spüren, in der die Kraft zum Siegen liegt.



Dauer und Zeit:

Zitat von Grossman S. 53
Komplizierter ist der Veränderungsprozess im Gefühl für die Länge und Kürze der Zeit, den ein Mensch in der Schlacht durchmacht. Hier vollzieht sich etwas anderes, hier verzerren und entstellen sich die einzelnen, ursprünglichen Eindrücke. In der Schlacht ziehen sich Sekunden in die Länge, und Stunden werden zusammengepresst.



Zitat von Grossman S. 56
Die Zeit ist gespenstisches Medium, in welchem Menschen entstehen, sich bewegen und spurlos verschwinden. In der Zeit entstehen und verschwinden ganze Städte. Die Zeit bringt sie und trägt sie dann wieder fort.

(...)

Die Zeit rinnt in den Menschen und in ein Zarenreich, nistet sich in ihnen ein, und plötzlich verschwindet sie, doch Mensch und Reich bleiben. (…)
Das Schwierigste ist, ein Stiefsohn der Zeit zu sein. Es gibt nichts Schweres als das Los des Stiefsohns, der nicht in seiner Zeit lebt. Stiefsöhne der Zeit erkennt man sofort – in den Kaderabteilungen, den Bezirkskomitees der Partei, in den politischen Abteilungen der Armee, in den Redaktionen, auf der Straße… Die Zeit liebt nur die, die sie geboren hat – ihre eigenen Kinder, Helden, Gestalten.

(...)

So ist das mit der Zeit – alles vergeht, aber sie bleibt. Alles bleibt, aber die Zeit allein vergeht.



Der Rundumblick bewegt sich weiter, von der Front geht es in die Städte und Außenbezirke, zu der Familie Schaposchnikow, zum Schicksal einer Jüdin in einem Ghetto, die sich in Briefformat von ihrem Sohn verabschiedet, zu Beamten, die unter Stalin dienen und mit seiner Politik übereinstimmen müssen oder wollen, die Schwierigkeiten der Menschen mit den Behörden, vom Menschen zum Antragsteller degradiert.

„Tagelang tun wir nichts als Abschied nehmen“
, sagt eine alte Deutsche, die Hitler für einen Kannibalen hält und bald darauf von der Miliz abgeholt wird.

Erneut Charaktere über Charaktere, z. B. ein Dichter, der nur für seine Kunst lebt:

Zitat von Grossman S. 154
Er war ein weicher Mensch, hilflos in den Dingen des praktischen Lebens. Von solchen Menschen sagt man im Allgemeinen, sie seien Menschen mit Kinderseelen und Engelsgüte. Doch er brachte es fertig, seine Lieblingsverse murmelnd, gleichgültig an einem hungrigen Kind vorüberzugehen oder an einer zerlumpten Greisin, die die Hand nach einem Stück Brot ausstreckte.



Nach etwa 150 Seiten erkennt man also, dass sich die Geschichte und auch wohl Vorgeschichte hauptsächlich um die Familie Schaposchnikow samt aller Stammbaum- und Begegnungs-Verzweigungen dreht. Die Charaktere sind, da es sich eben um den zweiten Teil handelt, nicht sehr tief gezeichnet und doch erfährt man nach und nach, was geschehen sein muss, mit wem man es zu tun hat, was der Krieg aus den jeweiligen Menschen gemacht hat.
Man erfährt auch von dem Streit der Bolschewiki und Menschewiki, der nicht einmal im Konzentrationslager endet, von der Sehnsucht nach Freiheit, die man unter dem Stalinistischen System nicht einmal mehr wagen darf doch wenigstens im Stillen zu denken, vom heimlichen Traum der Meinungsfreiheit, findet sich inmitten von Streitgesprächen wieder, wo Tschechow und die Dekadenten, Dostojewski und Tolstoi unter die Lupe genommen werden. Überhaupt erfährt man viele Namen russischer Schriftsteller, die außerhalb von Russland vielleicht weniger bekannt sind.
Und auch andere echte Figuren treten auf. Man trifft auf Eichmann und weitere SS-Offiziere, auf Gaskammer-Erbauer und Ausführende, auf Opfer und Täter.

Hier werden sowohl die Gräuel Stalins wie Hitlers gezeigt, der Umgang der Menschen unter jeweiligen Bedingungen, die Auswirkungen auf die Menschen durch den jeweiligen Staat, was als letzte Konfrontation immer wieder an das Ufer der Wolga bei Stalingrad zurückschnellt.
Grossman, der selbst im Krieg war (zwar ausgemustert, sich jedoch freiwillig gemeldet hat), spricht von all dem Erlebten, urteilt aber auch. In einer Szene legt er einer Figur ein Lob über Tolstoi in den Mund, dass dieser seinen Roman nur schreiben konnte, weil er den Krieg erlebt hat, bis jemand darauf hinweist, dass Tolstoi eben nicht im Krieg war. Ein Wink? Eine leise Kritik, trotz dass daraus ein Meisterwerk hervorgegangen ist? Oder lediglich das Deuten durch Grossman auf sich selbst? Im Geschehen sein ist natürlich etwas anderes, als das Geschehen durch Geschichte und Quellen zusammenzufassen, doch hier bleibt der Roman dennoch ein Roman, kein absoluter Tatsachenbericht. Sowohl bei Tolstoi als auch bei all denen, die wie Grossman, Jünger u. a. direkt dabei waren. Es ist ihre Ansicht, ihre Zusammenfassung. Dabei sein ist trotzdem immer nur eine Fläche und ein Moment, nicht das Gesamtgeschehen, höchstens ein Teil des Puzzles, das hinterher aus vielen Ansichten und eigenen Interpretationen zusammengefügt werden muss.

Man stellt sich nach all dem natürlich trotzdem die Frage, weil gerade der Russe und der Deutsche in einem totalitären System dargestellt sind, ob es zutrifft, wenn Grossman sagt, dass egal, wohin sich der „Befehl Staat“ entwickelt, beim einzelnen Menschen immer der eigene freie Wille mitwirkt. Kann er denn unter diesen Umständen handeln? Ohne sterben zu müssen? (Oder ist Sterben dann die einzige Alternative, die dem Menschen bleibt? Eine bessere Lösung?) Könnte er etwas bewegen, wenn alles unter Kontrolle und Überwachung ist?
So einfach erscheint es mir, gerade im Vergleich zu den heute versteckten und besser arrangierten Manipulationen, eben nicht, denn hinter dem freien Willen wuchert die eben doch ganz individuelle Angst vor Staat, Unvorhersehbarkeit, Abweichen aus der Masse, Verlust an Gewohnheit, Sicherheit und Bequemlichkeit oder ganz einfach vor dem Tod. Die Angst, für seine Überzeugungen sterben zu müssen oder auch nur für eine abweichende Meinung ist schließlich nicht zu unterschätzen. Und trotzdem sind etliche Menschen dafür gestorben, auch heute sterben sie weiter dafür. Den Kampf aufnehmen, um von vorneherein daran zu scheitern, seine eigene Machtlosigkeit gegen die Maschinerie höchstens bestätigt zu bekommen, das erfordert nicht nur Mut, sondern fast schon übermenschlichen Willen.
Es ist immer so einfach zu sagen, ich hätte anders gehandelt, oder zu fragen, warum keiner etwas gegen diese Gräueltaten unternommen hat, warum die Menschen zum „Befehl“ mutierten oder ganz einfach nicht gesehen haben wollen, denn auch heute zeigt sich, wie sehr der Mensch immernoch in so vielen Situationen Schaf ist, auch heute herrscht eine andere Hetze, die bereitwillig geglaubt oder gar nicht erst gesehen wird. Heute wird immernoch oder schon wieder gelyncht und gemordet, ohne dass die Menschen handeln, werden Kriege geführt, die als „gerecht“ angesehen werden, weil das Ungetüm „Terror“ immer weiter aufgebläht wird, das allen Tod und Mord rechtfertigt, selbst wenn er sich gegen Zivilisten und Kinder richtet.
Henry L. Mencken, ein amerikanischer Schriftsteller und Journalist, der die Illusion "Demokratie" am eigenen Leib erfuhr, sagte dazu:

„Der ganze Zweck praktischer Politik liegt darin, die Volksmasse in Angst zu halten, und sie deswegen nach Sicherheit schreien zu lassen. Das geschieht durch Drohen mit einer endlosen Reihe von Schreckgespenstern, wobei alle frei erfunden sind”

Das trifft auf so viele Bereiche zu, wobei das „alle“ hoffentlich gegen ein „viele“ vertauscht werden kann. Aber: wo sind die Empörungen und Schritte, die der „eigene, freie Wille“ lenkt? Wo sind die Taten? Wo ist der Wille, sehen zu wollen? Das vorgekaute Essen selbst zu analysieren? Der Versuch, hinter Bild und Ansichten zu blicken?

Eigener Wille ist Verzicht, auch auf das „eigene Leben“. Das fällt mir zu diesem lapidar hingeworfenen, in der Literatur so einfach gesagten Satz ein. Der eigene, freie Wille wirkt nicht in allem mit, sondern muss geübt und neu erlernt werden und ist unter den Menschen immernoch so rar, wie er es zu fast allen Zeiten war, solange die immer gleiche Form "Machtapparat" erbaut wird, in die der Mensch zu passen hat.
Klar, würde man selbst nicht töten, vielleicht sich eher selbst töten, bevor man zum Mörder wird, doch Stillschweigen, das übliche Augen-Verschließen herrscht andauernd vor, und es gibt genügend Ausreden, die immer parat und zur Hand sind, Dinge, die sich immer schön (oder wenigstens doch annehmbar) (zer)reden lassen.

Zu sagen, die Vergangenheit kann nicht wiederholt werden, ist grundsätzlich falsch, egal, wieviele Berichte, Bücher und Warnungen dazu verfasst werden, weil gerne übersehen wird, dass keine Vergangenheit mit dem gleichen Gesicht auftritt. Die Mechanismen sind gleich, die Manipulation ist gleich, der Krieg, die Gewalt und die Auswirkungen sind gleich, aber der eigentliche Wahnsinn, die Gründe sind vielfältig, der Mord nur im Blut und zu häufig erst im Nachhinein sichtbar.

Letztendlich stimmt man aber dann doch wieder mit Grossman überein:

Zitat von Grossman S. 648
Kein sündloser, gnädiger himmlischer Richter, kein weiser oberster Richter im Staat, dem das Wohl des Staates und der Gesellschaft am Herzen liegt, kein Heiliger und kein Gerechter, sondern der jämmerliche, vom Faschismus bedrängte, schmutzige, sündige Mensch, der die fürchterliche Macht des totalitären Staates am eigenen Leibe verspürt hat, der selbst gestrauchelt und gefallen ist aus Angst, wird das Urteil sprechen, und es wird lauten: „Es gibt in der schrecklichen Welt Schuldige! Ich bekenne mich schuldig.“



Grossman und einige seiner Figuren glauben nicht an das Gute, jedoch an die Güte, die in jedem Menschen hervortreten kann, in den unmöglichsten Situationen. Alte Frauen, die sich nicht fürchten, den Gefangenen etwas Brot zuzustecken, eine ängstliche Russin, die einen verletzten Deutschen pflegt, während sie auf ihn schimpft, ein Soldat, der sich über einen anderen wirft, ein Rommel, der trotz seiner Befehle, das Leben seiner Soldaten im Niedergang nicht mehr aufs Spiel setzt, wie es so viele taten, auf deutscher und russischer Seite, wo so viele dachten, der Mensch sei Menschenmaterial, das immer aufs Neue nachgeworfen werden kann, nicht erst (wie Waffe und Maschine) erbaut werden muss.

Schließlich wird der Leser mit vielen Menschen in die Gaskammer geführt. Aneinandergedrängt steht er mit den nackten, ängstlichen Gestalten, darunter die zänkischen, gierigen, liebevollen, kindlichen, alten, kurz: verschiedensten Menschen, die ahnen und nicht ahnen, was auf sie zukommt. Grossman beschreibt bis ins letzte Detail, bis... in den Tod, wenn die Augen sich weiten und das Leben aus dem, was einmal Mensch war, entweicht.

Zitat von Grossman S. 665
Wer sich selbst nackt betrachtet, für den gibt es keine andere Erkenntnis als die: „Das also bin ich.“



Im Sterben wird alles gleich, wird die Vielfalt so verschiedener Menschen mit gleichem Schicksal wieder zu einem Volk.

All das ist nicht leicht zu verkraften, nicht leicht zu lesen. Der Roman hat nicht umsonst seinen Platz in der Literatur, und man kann doch froh sein, dass wir die Möglichkeit haben, ihn lesen zu können, obwohl auch er sein eigenes, kleinen Schicksal hat.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 20.04.2010 21:22 | nach oben springen

#2

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 20.04.2010 16:50
von Patmöser • 1.121 Beiträge

DANKE, DANKE, DANKE, liebes Taxinchen.

Dieses Buch steht schon seit ewigen Zeiten auf meiner Wunschliste. Seit ich beim Perlentaucher eine Leseprobe "lesen" durfte. Es war ein Brief einer russischen, oder ukrainischen Jüdin (glaube ich), die über die unsagbaren Greuel und die Kaltherzigkeit der eigenen Landsleute..., war schon sehr aufwühlend.
So, und nun lese ich deinen Beitrag noch einmal, und das in aller Ruhe und "genießend".
Danke noch einmal für diesen Ordner.

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#3

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 20.04.2010 17:19
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Oach... lieber Patmos, gern' geschehen. Freut mich, dass du das Buch auch lesen wirst, bin gespannt auf deinen Eindruck.

Was natürlich (neben dem Schrecken an sich) bewegend ist, ist diese Stimmung (wo der Mensch in jeder Situation Mensch ist). Als ob man inmitten der Leute sitzt und diesen ganz natürlichen, menschlichen Gesprächen lauscht oder die Bomben fallen hört oder im Ghetto um das Überleben kämpft. Die Witze, die gemacht werden, weil der Schrecken letztendlich nur mit Humor ertragen werden kann, die Streitigkeiten, ein interessantes Gespräch zwischen einem deutschen Obersturmbannführer und einem russischen gefangenen Bolschewiken, wobei das stalinistische dem nationalsozialistischen System gegenübergestellt wird und darin das Gleiche erkannt wird.
Das Tragische an den Revolutionen und Überzeugungen ist, dass dabei über Mensch und Leichen gegangen wird. Das Opfern für die Sache, das darin Verharren, ohne die Überzeugungen zu hinterfragen. Die Angst, die stärker als das Nachdenken wird.

Zitat von Grossman S. 256

Die Gewalttätigkeit des totalitären Staates ist so groß, dass sie aufhört, Mittel zu sein, und sich in einen Gegenstand mystischer, religiöser Verehrung und Begeisterung verwandelt.



Genau das war die Macht Stalins.

Da kann man dann so schön Mandelstam zitieren:

Mein Wolfhund-Jahrhundert, mich packt's, mich befällt's,
Doch bin ich nicht wölfischen Bluts.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 20.04.2010 17:33 | nach oben springen

#4

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 20.04.2010 18:04
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Und noch Grossman's Plädoyer über das Gute und die Güte:

Zitat von Grossman S. 493 - 500
Die meisten auf der Welt lebenden Menschen verschwenden keinen Gedanken auf die Bestimmung des "Guten". Worin besteht das Gute? Für wen ist es gut? Von wem kommt es? Gibt es ein übergreifendes Gutes, das für alle Menschen gilt, für alle Generationen, für alle Lebenssituationen? Oder ist, was für mich gut ist, für dich schlecht, was für mein Volk gut ist, für deines schlecht? Ist das Gute ewig, unveränderlich, oder ist, was gestern gut war, heute schlecht, und was gestern schlecht war, heute gut?
(...)
Sind die Menschen im Laufe der Jahrtausende in ihren Vorstellungen vom Guten vorangekommen? Gibt es einen für alle Menschen, ob Griechen oder Juden, gleichermaßen gültigen Begriff des Guten, wie das die Evangelisten annahmen, einen, der für alle Klassen, Nationen und Staaten gilt? Oder ist dieser Begriff vielleicht noch umfassender, gilt er auch für Tiere, Bäume und für das Moos? Ist er so umfassend, wie Buddha und seine Jünger glaubten und glauben, jener Buddha, der, um zu einem Leben voller Güte und Liebe zu gelangen, das Leben schließlich negieren musste?
Ich sehe: Die in den Jahrhunderten entstandenen Vorstellungen der moralphilosophischen Führer der Menschheit engten den Begriff des Guten immer weiter ein.
In den christlichen Vorstellungen, durch fünf Jahrhunderte von den buddhistischen getrennt, wird das Gute allein dem Lebendigen zugeordnet, erfasst aber nicht alles Lebendige, sondern nur den Menschen!
Das, was die ersten Christen als das für die gesamte Menschheit geltende Gute ansahen, wurde im Laufe der Zeit durch etwas ersetzt, was für die Christen, und nur für sie, gut war; daneben gab es dann auch das Gute der Moslems und das der Juden.
Aber die Jahrhunderte vergingen, und das Gute der Christen zerfiel in das Gute der Katholiken, das Gute der Protestanten, das Gute der Orthodoxen und dieses wiederum in das Gute der Altgläubigen und das der Reformierten.
Daneben existierte das Gute der Reichen und das der Armen, das Gute der Gelben, der Schwarzen und der Weißen.
Immer kleiner und kleiner wurden die Stückchen - Sekten, Rassen, Klassen; alles, was außerhalb des geschlossenen Kreises lag, konnte nicht mehr das Gute sein.
Und die Menschen sahen, dass viel Blut für dieses kleine, ungute Gute vergossen wurde; im Namen dieses kleinen Guten wurde alles bekämpft, was in seinem Lichte böse war.
So wurde der Begriff des Guten nicht selten zu einer Geißel des Lebens, zu einem größeren Übel als das bekämpfte Übel selbst.
Das so begriffene Gute ist weiter nichts als eine leere Hülse, aus der das heilige Korn herausgefallen ist.

(...)
Diejenigen, die für ihr privates Gutes kämpfen, bemühen sich, ihm den Anschein der Allgemeingültigkeit zu verleihen.
(...)

Herodes hat ja auch nicht um des Bösen, sondern um seines persönlichen Guten willen Blut vergossen. Eine neue Kraft war in die Welt gekommen, die ihn, seine Familie, seine Günstlinge und Freunde, seine Herrschaft und sein Heer mit dem Untergang bedrohte.
Doch diese Kraft war nicht böse: Es war das Christentum. Noch nie hatte die Menschheit solche Worte vernommen: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet ... Denn mit dem Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden ... und mit dem Maße, mit dem ihr messet, wird euch gemessen werden... Liebet eure Feinde ... tut Gutes denen, die euch hassen ... Segnet, die euch fluchen, und betet für die, welche euch verleumden ... Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so sollt auch ihr ihnen tun. Denn das ist das Gesetz."
Was hat den Menschen aber diese Lehre des Friedens und der Liebe gebracht? - Den byzantinischen Bilderstreit, die Folter der Inquisition, den Kampf gegen die Ketzerei in Frankreich, Italien, Flandern und Deutschland, den Kampf zwischen Protestantismus und Katholizismus, die Kabale der Mönchsorden, den Kampf zwischen Nikon und Awwakum, ein jahrhundertlanges Joch für Wissenschaft und Freiheit, die christliche Ausrottung der heidnischen Bevölkerung Tasmaniens, Gauner und Schurken, die die Negerkrale in Afrika anzündeten ... All das hat mehr Leid über die Betroffenen gebracht als alle Missetaten von Räubern und Verbrechern, die das Böse um des Bösen willen tun.

(...)
Wenn das Gute nicht in der Natur, nicht in den Predigten der Propheten, nicht in den Lehren der großen Soziologen und Volksführer und nicht in der Ethik der Philosophen liegt, wo dann? - Es liegt in den Herzen der einfachen Menschen; sie lieben alles Lebendige und schonen instinktiv das Leben, sie erfreuen sich nach einem harten Arbeitstag an der Wärme des heimischen Herdes und entfachen keine Scheiterhaufen und Brände auf öffentlichen Plätzen.
Neben dem fürchterlichen Großen Guten gibt es also die schlichte menschliche Güte.
(...) Das ist die private Güte des Einzelnen gegenüber einem anderen Einzelnen, die kleine Güte, die keine Zeugen hat und keine Idee; man könnte sie die gedankenlose Güte nennen; Güte des Menschen außerhalb des religiösen und gesellschaftlichen Guten.

(...)
Sie, diese törichte Güte ist das Menschliche im Menschen. Sie zeichnet den Menschen aus, sie ist das Höchste, was der menschliche Geist erreicht hat. Das Leben ist nicht böse, sagt sie.
Diese Güte ist stumm und gedankenlos, instinktiv und blind. Sobald das Christentum sie in die Lehre der Kirchenväter einzubeziehen versuchte, begann sie zu verblassen; das Korn kehrte in seine Hülse zurück. Sie ist stark, diese Güte, solange sie stumm ist, unbewusst und gedankenlos im lebendigen Dunkel des menschlichen Herzens wohnt und nicht zur Waffe und Ware der Prediger wird, solange ihr Gold nicht zur Münze der Heiligkeit geprägt wird. Sie ist so einfach wie das Leben. Selbst Jesus hat ihr durch seine Worte die Kraft genommen - ihre Kraft liegt in der Stummheit des menschlichen Herzens.
(...)
Die Güte ist nur mächtig, solange sie ohnmächtig ist. Kaum versucht der Mensch, ihr Macht zu verleihen, verblasst sie und geht verloren.




Art & Vibration
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#5

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 20.04.2010 18:38
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Danke, Taxinchen, das Buch ist bestellt. Deine wundervollen Exzerpte gaben den letzten Anstoss.
Werde aber erst Anfang Mai mit dem Werk beginnen können.
(Die Schiffe, die Boote, das Meer...)

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#6

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 20.04.2010 20:04
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Ich hab dann einmal nachgeschaut..., es lohnt sich die Lesezeit. Tief bewegend, traurig und nachdenklich machend:

(Wassili Grossman, LEBEN UND SCHICKSAL, Seite 94 ff)

"Vitja, ich bin sicher, dass Dich mein Brief erreichen wird, obwohl ich mich hinter der Frontlinie und hinter dem Stacheldraht des jüdischen Ghettos befinde. Deine Antwort werde ich nie erhalten, ich werde nicht mehr leben. Ich möchte, dass Du über meine letzten Tage Bescheid weißt; dieser Gedanke macht es mir leichter, aus dem Leben zu scheiden.

Es ist schwer, Vitja, die Menschen wirklich zu begreifen … Am siebten Juli sind die Deutschen in die Stadt eingedrungen. Im Stadtpark wurden über Funk die letzten Nachrichten ausgegeben; ich kam gerade aus der Poliklinik, nach der Sprechstunde, und blieb stehen, um zuzuhören; die Sprecherin verlas auf Ukrainisch einen Bericht über die Kampfhandlungen. Ich hörte Schießereien in der Ferne, dann kamen Leute durch den Park gerannt. Ich ging zu einem Haus und wunderte mich sehr, wieso ich den Fliegeralarm nicht gehört hatte. Plötzlich erblickte ich einen Panzer, und irgendwer schrie: 'Die Deutschen sind durchgebrochen!'

Ich sagte: 'Verbreitet doch keine Panik!' Am Tag zuvor war ich beim Sekretär des Stadtsowjets gewesen und hatte um die Ausreisebewilligung gebeten, da hatte er sich geärgert: 'Darüber zu reden ist noch viel zu früh. Wir haben noch nicht einmal die Listen zusammengestellt!' Kurzum, es waren die Deutschen. Die ganze Nacht hindurch gab es ein Hin-und-her-Gerenne bei den Nachbarn, am ruhigsten waren noch die kleinen Kinder und ich. Ich dachte nur, was mit allen geschieht, das wird auch mit mir geschehen. Zuerst war ich erschrocken, als ich begriff, dass ich Dich niemals wiedersehen würde; ich hatte den leidenschaftlichen Wunsch, Dich noch einmal anzuschauen, Deine Stirn und Deine Augen zu küssen, dann aber sagte ich mir: Was für ein Glück ist es doch, dass Du in Sicherheit bist.

Gegen Morgen schlief ich ein, und als ich erwachte, empfand ich furchtbare Traurigkeit. Ich war in meinem Zimmer, in meinem Bett, und doch fühlte ich mich in der Fremde, verloren, allein.

An diesem Morgen erinnerte ich mich an das, was ich in den Jahren der sowjetischen Herrschaft vergessen hatte - dass ich Jüdin bin. Die Deutschen fuhren auf Lastwagen ein und schrien: 'Juden kaputt!'

Und da erinnerten mich auch einige meiner Nachbarn daran. Die Hausmeisterfrau stand unter meinem Fenster und sagte zur Nachbarin: 'Gott sei Dank, mit den Juden ist’s jetzt vorbei.' Woher dies auf einmal? Ihr Sohn ist mit einer Jüdin verheiratet; die Alte hatte ihren Sohn besucht und mir von den Enkelkindern erzählt.

Meine Nachbarin, Witwe - sie hat ein sechsjähriges kleines Mädchen, Aljonuschka, mit wunderschönen blauen Augen, ich schrieb Dir einmal von ihr -, sie kam zu mir und sagte: 'Ich bitte Sie, Anna Semjonowna, bis zum Abend Ihre Sachen auszuräumen; ich werde in Ihr Zimmer umziehen.' - 'Gut, dann ziehe ich in Ihres.' - 'Nein, Sie ziehen in das Kämmerchen hinter der Küche.'

Ich lehnte ab; die Kammer hatte weder Fenster noch einen Ofen.

Ich ging in die Poliklinik, und als ich zurückkam, stellte ich fest: Die Tür zu meinem Zimmer war aufgebrochen, und meine Sachen waren in die Kammer geworfen worden. Die Nachbarin sagte zu mir: 'Ich habe das Sofa bei mir stehenlassen, es passt sowieso nicht in Ihr neues Zimmerchen hinein.'

Es ist schon erstaunlich, sie hat das Technikum abgeschlossen, und ihr verstorbener Mann, ein feiner und stiller Mensch, war Buchhalter. 'Sie stehen außerhalb des Gesetzes', sagte sie in einem Ton, der darauf schließen ließ, dass ihr das sehr gelegen kam. Ihre Aljonuschka aber saß den ganzen Abend bei mir, und ich erzählte ihr Märchen. Das war meine Einzugsfeier. Sie wollte nicht schlafen gehen; die Mutter musste sie auf den Armen forttragen. Danach, Vitjenka, wurde unsere Poliklinik wieder geöffnet, und ich und noch ein jüdischer Arzt wurden entlassen. Ich bat um das Geld für den letzten Arbeitsmonat, doch der neue Klinikleiter sagte zu mir: 'Soll Sie doch Stalin dafür bezahlen, was Sie unter sowjetischer Herrschaft gearbeitet haben; schreiben Sie ihm nach Moskau.' Die Krankenpflegerin Marussja umarmte mich und klagte leise: 'Herr, du mein Gott, was wird nur aus Ihnen, was wird nur aus euch allen?' Und Doktor Tkatschew drückte mir die Hand. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Schadenfreude oder die mitleidigen Blicke, die man einer krepierenden, räudigen Katze schenkt. Ich hatte nicht gedacht, dass ich das alles einmal selbst erleben muss.

Viele Leute haben mir einen Schlag versetzt, und nicht nur ungebildete Menschen mit schwarzer, verhärteter Seele. Da ist unser alter Lehrer, Rentner, 75 Jahre alt, er hat sich immer nach Dir erkundigt, Grüße ausrichten lassen und über Dich gesagt: 'Er ist unser ganzer Stolz.' Aber in diesen verfluchten Tagen grüßte er mich nicht einmal, wenn er mir begegnete, sondern wandte sich ab. Später hat man mir dann erzählt, dass er auf einer Versammlung und in der Kommandantur gesagt habe: 'Die Luft ist rein, es riecht nicht mehr nach Knoblauch.' Warum tut er das - mit diesen Worten besudelt er sich doch nur selbst. Auf der gleichen Versammlung hat es derartig viele Verleumdungen von Juden gegeben … Aber natürlich, Vitjenka, sind nicht alle zu dieser Versammlung gegangen. Viele haben sich geweigert. Weißt Du, in meinem Bewusstsein verbindet sich der Antisemitismus schon seit der Zeit des Zarenreichs mit dem Hurrapatriotismus der Leute vom Erzengel-Michael-Bund1. Und jetzt habe ich festgestellt, dass die Menschen, die nach der Befreiung Russlands von den Juden schreien, auch diejenigen sind, die sich auf lakaienhaft erbärmliche Weise vor den Deutschen erniedrigen, bereit, Russland für dreißig deutsche Silberlinge zu verraten. Und lichtscheues Gesindel aus der Vorstadt plündert, reißt Wohnungen, Bettzeug und Kleider an sich: Solche Leute ermordeten wahrscheinlich zur Zeit der Choleraaufstände die Ärzte. Es gibt seelisch labile Menschen, die sich jedem Schwachsinn unterwerfen, nur um ja nicht in den Verdacht zu geraten, gegen die Staatsmacht zu sein.

Pausenlos kommen Bekannte mit Neuigkeiten zu mir gelaufen, alle haben irre Augen, die Menschen sind wie im Wahn. Ein merkwürdiger Ausdruck ist aufgekommen: 'Sachen umverstecken'. Man glaubt wohl, sie seien beim Nachbarn sicherer. Das Umverstecken der Sachen kommt mir wie ein Spiel vor.

Bald darauf wurde die Umsiedlung der Juden verkündet. Es wurde gestattet, fünfzehn Kilo persönliche Habe mitzunehmen. An den Hauswänden hingen gelbliche Anschläge: 'Alle Juden werden aufgefordert, bis spätestens 15. Juli 1941, 18.00 Uhr, in den Altstadtbezirk umzuziehen.' Diejenigen, die nicht umgezogen sind, werden erschossen.

So habe ich mich denn auch aufgemacht, Vitjenka. Ich nahm ein Kopfkissen, etwas Wäsche, die kleine Tasse, die Du mir einmal geschenkt hast, einen Löffel, ein Messer und zwei Teller mit. Braucht der Mensch denn viel? Ich packte noch einige medizinische Instrumente ein, Deine Briefe, die Fotografien von meiner verstorbenen Mutter und Onkel David und die, wo Du mit Papa zusammen schläfst, ein Bändchen Puschkin, die 'Lettres de mon moulin', ein Bändchen Maupassant, das die Erzählung 'Une vie' enthält, ein kleines Wörterbuch und den Tschechow-Band, in dem 'Eine langweilige Geschichte' und 'Der Bischof' stehen - und damit war mein Korb voll. Wie viele Briefe habe ich Dir schon unter diesem Dach geschrieben, wie viele Stunden nachts durchweint, jetzt will ich Dir noch von meiner Einsamkeit berichten.

Ich nahm Abschied vom Haus, von dem Gärtchen, saß ein paar Minuten unter dem Baum, nahm Abschied von den Nachbarn. Manche Menschen sind merkwürdig beschaffen. Zwei Nachbarinnen fingen in meinem Beisein an, darüber zu streiten, wer sich die Stühle und wer den kleinen Schreibtisch nehmen würde, aber als ich mich von ihnen verabschiedete, weinten beide. Ich habe meine Nachbarn, die Bassankos, gebeten, dass sie Dir, solltest Du nach dem Krieg einmal herkommen und etwas über mich erfahren wollen, die Einzelheiten meines Schicksals erzählen. Sie haben es mir versprochen. Das Hündchen, der Straßenköter Tobik, rührte mich - am letzten Abend strich er irgendwie besonders liebevoll um mich herum.

Wenn Du kommst, gib ihm zu fressen, weil er zu der alten Jüdin nett gewesen ist.

Als ich mich auf den Weg machte und mich fragte, wie ich den Korb bis zur Altstadt schleppen sollte, kam plötzlich mein Patient Schtschukin, ein mürrischer und, wie mir schien, hartherziger Mann. Er erbot sich, mir meine Sachen zu tragen, gab mir dreihundert Rubel und sagte, dass er mir einmal in der Woche Brot an den Zaun bringen würde. Er arbeitet in einer Druckerei, an die Front wurde er wegen seines Augenleidens nicht eingezogen. Vor dem Krieg hatte er sich von mir behandeln lassen; wenn ich aufgefordert worden wäre, Menschen mit teilnahmsvollem, reinem Herzen aufzuzählen - ich hätte Dutzende von Namen genannt, nur nicht seinen. Weißt Du, Vitjenka, nachdem er gekommen war, fühlte ich mich wieder als Mensch, denn das bedeutete, dass mich nicht nur ein Straßenköter menschlich behandeln konnte.

Er erzählte mir, in der städtischen Druckerei werde der Befehl gedruckt, dass es den Juden verboten sei, auf dem Gehsteig zu gehen, dass sie auf der Brust einen gelben Flicken in Form eines sechszackigen Sterns tragen müssten, dass sie nicht das Recht hätten, öffentliche Verkehrsmittel und Bäder zu benutzen, Ambulatorien aufzusuchen, ins Kino zu gehen, dass es ihnen verboten sei, Butter, Eier, Milch, Beerenobst, Weißbrot, Fleisch und alle Gemüsearten, außer Kartoffeln, zu kaufen; Einkäufe auf dem Markt dürften erst nach sechs Uhr abends gemacht werden (wenn die Bauern den Markt verlassen). Die Altstadt werde mit Stacheldraht umzäunt, und das Verlassen des umzäunten Gebiets sei verboten; es sei nur unter Bewachung für die Zwangsarbeit möglich. Wenn ein Jude in einem russischen Haus entdeckt werde, werde der Hauswirt erschossen, als hätte er einen Partisanen versteckt.

Der Schwiegervater von Schtschukin, ein alter Bauer, der aus dem benachbarten Marktflecken Tschudnow gekommen war, hatte mit eigenen Augen gesehen, dass alle Juden des Ortes mit Bündeln und Koffern in den Wald getrieben wurden. Von dort hatte man den ganzen Tag das Knattern von Schüssen und Schreie gehört, nicht ein Mensch war zurückgekehrt. Die Deutschen aber, die beim Schwiegervater Quartier gemacht hatten, waren spätabends heimgekommen - betrunken - und hatten bis zum Morgen gesoffen, gesungen und im Beisein des Alten Broschen, Ringe und Armbänder unter sich verteilt. Ich weiß nicht, ob dies ein zufälliger Akt der Willkür war oder ein Vorzeichen des Schicksals, das auch uns erwartet.

Wie traurig, lieber Sohn, war mein Weg in dieses mittelalterliche Ghetto. Ich ging durch die Stadt, in der ich zwanzig Jahre gearbeitet habe. Zuerst gingen wir durch die menschenleere Swetschnajastraße. Doch als wir auf die Nikolskajastraße gelangten, sah ich Hunderte von Menschen, die in dieses verfluchte Ghetto gingen. Die Straße war weiß von Bündeln und Kopfkissen. Die Kranken führte man am Arm. Den gelähmten Vater von Dr. Margulis trugen sie auf einer Decke. Ein junger Mann trug in seinen Armen eine Greisin, hinter ihm gingen Frau und Kinder, mit Bündeln beladen. Der Leiter des Kolonialwarengeschäfts, Gordon, ein Dicker, der an Atemnot leidet, hatte einen Mantel mit Pelzkragen übergezogen, und sein Gesicht triefte von Schweiß. Ein junger Mann verblüffte mich: Er ging ohne Gepäck mit hocherhobenem Kopf und hielt ein aufgeschlagenes Buch vor sein hochmütiges, ruhiges Gesicht. Doch wie viele um mich herum waren wie von Sinnen, voll des Entsetzens!

Wir gingen auf der gepflasterten Straße, auf dem Gehsteig aber standen die Leute und schauten uns zu.

Eine Weile ging ich mit den Margulis zusammen und hörte die mitleidigen Seufzer der Frauen. Über Gordon aber in seinem Wintermantel machten sie sich lustig, obwohl er, glaub mir, schrecklich aussah, nicht komisch. Ich sah viele bekannte Gesichter. Manche nickten mir zum Abschied zu, andere wandten sich ab. Ich glaube, dass es in dieser Menge keine gleichgültigen Augen gegeben hat; da waren neugierige und da waren mitleidslose, und ein paarmal sah ich auch verweinte Augen.

Ich sah zweierlei Menschenmassen - auf der Straße die Juden in Mantel und Mütze, die Frauen in Winterkleidern, und auf dem Gehsteig die sommerlich gekleidete Menge, helle Blusen, die Männer ohne Jackett, einige in bestickten ukrainischen Hemden. Ich hatte das Gefühl, dass für die die Straße entlanggehenden Juden die Sonne bereits aufgehört hatte zu scheinen, dass sie durch nächtlichen Dezemberfrost schritten.

Am Eingang des Ghettos verabschiedete ich mich von meinem Begleiter; er zeigte mir die Stelle an der Drahtsperre, wo wir uns treffen würden.

Weißt Du, Vitjenka, was für eine Erfahrung ich machte, als ich hinter dem Stacheldraht war? Ich hatte gedacht, dass ich Grauen empfinden würde. Doch stell Dir vor, in diesem Pferch wurde mir leichter ums Herz. Denk nicht etwa, ich hätte eine Sklavenseele! Nein. Nein. Um mich herum waren Menschen mit dem gleichen Schicksal, im Ghetto musste ich nicht wie ein Pferd auf der Straße gehen, da gab es keine gehässigen Blicke, und meine Bekannten schauten mir in die Augen und wichen einer Begegnung mit mir nicht aus. In diesem Pferch tragen alle das Mal, das uns von den Faschisten aufgebrannt worden ist, und deshalb brennt dieses Mal nicht so stark in meiner Seele. Hier fühlte ich mich nicht wie ein rechtloses Vieh, sondern wie ein unglücklicher Mensch. Davon wurde mir leichter.

Ich zog zusammen mit meinem Kollegen, Doktor Sperling, in ein Lehmhäuschen, das aus zwei kleinen Zimmerchen besteht. Sperlings haben zwei erwachsene Töchter und einen Sohn von ungefähr zwölf Jahren. Ich betrachte immer lange sein mageres Gesichtchen und seine großen, traurigen Augen; er heißt Jura. Zweimal nannte ich ihn Vitja, da hat er mich verbessert: 'Ich bin Jura, nicht Vitja.'

Wie verschieden sind doch die Menschen! Sperling ist mit seinen achtundfünfzig Jahren noch voller Energie. Er hat Matratzen, Petroleum und eine Fuhre Brennholz aufgetrieben. In der Nacht brachten sie einen Sack Mehl und einen halben Sack Bohnen ins Häuschen. Er freut sich wie ein Junge über jeden Erfolg. Gestern hat er Wandteppiche aufgehängt. 'Macht nichts, macht nichts, wir überstehen alles', pflegt er zu sagen, 'Hauptsache, wir decken uns mit Lebensmitteln und Brennholz ein.'

Er sagte mir, dass im Ghetto eine Schule eingerichtet werden müsste. Er hat mir sogar vorgeschlagen, dass ich Jura Französischunterricht geben solle und er mir die Stunden mit einem Teller Suppe bezahle. Ich habe eingewilligt.

Sperlings Frau, die dicke Fanni Borissowna, seufzt: 'Alles ist hin, und wir sind auch hin', doch dabei passt sie auf, dass ihre ältere Tochter Ljuba, ein gutherziges, liebes Geschöpf, nur ja niemandem eine Handvoll Bohnen oder einen Kanten Brot gibt. Die jüngere aber, Mutters Liebling Alja, ist eine wahre Teufelsbrut: herrisch, misstrauisch und geizig; mit Vater und Schwester schreit sie ununterbrochen herum. Vor dem Krieg war sie aus Moskau zu Besuch gekommen und ist dann hier hängengeblieben.

Mein Gott, was für ein Elend ringsum! Wenn die, die immer vom Reichtum der Juden reden, die behaupten, dass sie immer etwas für den Notfall aufgespart haben, nur einen Blick auf unsere Altstadt werfen würden! Jetzt ist er da, der Notfall, schlimmer kann er nicht sein. In der Altstadt wohnen ja nicht nur die Umsiedler mit ihren 15 Kilogramm Gepäck pro Kopf, hier haben schon immer Handwerker, alte Leute, Arbeiter und Krankenschwestern gelebt. In was für einer fürchterlichen Enge lebten und leben sie. Und wie sie sich ernähren! Könntest Du nur einmal diese halb verfallenen, in die Erde eingesunkenen Elendshütten sehen!

Vitjenka, ich sehe hier auch viele schlechte Menschen - gierige, verschlagene, sogar welche, die bereit sind zum Verrat. Es gibt hier einen furchtbaren Menschen, Epstein, den es aus irgendeinem polnischen Städtchen zu uns verschlagen hat. Er trägt eine Armbinde, filzt mit den Deutschen zusammen die Häuser, nimmt an Verhören teil, besäuft sich mit den ukrainischen Polizisten, und die schicken ihn in die Häuser, um Wodka, Geld und Lebensmittel zu erpressen. Ich habe ihn wohl zweimal gesehen - er ist ein schöner, hochgewachsener Mann, trägt einen stutzerhaften, cremefarbenen Anzug, und selbst der gelbe Stern, der auf seinen Rock aufgenäht ist, sieht wie eine gelbe Chrysantheme aus.

Doch ich möchte Dir noch etwas anderes sagen. Ich habe mich nie als Jüdin gefühlt; von Kindheit an bin ich im Kreise russischer Freundinnen aufgewachsen. Von den Dichtern liebte ich Puschkin und Nekrassow am meisten, und das Stück, bei dem ich gemeinsam mit dem ganzen Publikum, dem Kongress russischer Landärzte, geweint habe, war 'Onkel Wanja' mit Stanislawski. Früher einmal, Vitjenka, als ich ein Mädchen von vierzehn Jahren war, wollte meine Familie nach Südamerika emigrieren. Damals sagte ich zu Papa: 'Aus Russland gehe ich nirgendwohin fort, dann schon lieber ins Wasser.' Und bin nicht fortgegangen.

Und jetzt, in diesen schrecklichen Tagen, hat sich mein Herz mit mütterlicher Zärtlichkeit für das jüdische Volk gefüllt. Früher wusste ich nichts von dieser Liebe. Sie erinnert mich an meine Liebe zu Dir, mein teurer Sohn.

Ich mache Hausbesuche bei den Kranken. In winzigen Zimmerchen leben die Menschen zu Dutzenden zusammengepfercht: halb erblindete Greise, Säuglinge, Schwangere. Ich war gewohnt, in Menschenaugen Krankheitssymptome - eines Glaukoms oder Katarakts - zu suchen. Jetzt kann ich den Menschen nicht mehr in dieser Weise in die Augen sehen - in ihren Augen sehe ich nur noch das Spiegelbild der Seele. Einer guten Seele, Vitjenka! Einer todtraurigen und gütigen, spöttischen und verlorenen Seele, die von der Gewalt besiegt wurde und zugleich über die Gewalt triumphiert. Ich sehe das Spiegelbild einer starken Seele, Vitja!

Wenn Du sehen könntest, mit welchem Interesse mich die alten Männer und Frauen über Dich ausfragen. Wie herzlich mich Menschen trösten, obwohl ich über nichts klage, Menschen, deren Lage schlimmer ist als meine.

Mir kommt es manchmal so vor, als besuche nicht ich die Kranken, sondern im Gegenteil, als heile der gütige Arzt Volk meine Seele. Und wie rührend sie mir für die Behandlung ein Stück Brot überreichen, ein Zwiebelchen, eine Handvoll Bohnen!

Glaub mir, Vitjenka, das ist nicht die Bezahlung für den Arztbesuch. Wenn mir ein alter Arbeiter die Hand drückt, zwei, drei Kartöffelchen in die Handtasche steckt und sagt: 'Schon gut, Frau Doktor, ich bitte Sie', dann kommen mir die Tränen. Es liegt darin etwas so Reines, Väterliches und Gütiges, dass ich es Dir mit Worten gar nicht wiedergeben kann.

Ich möchte Dich nicht damit trösten, dass ich diese Zeit leicht überstanden habe. Du solltest Dich darüber wundern, dass mein Herz nicht vor Schmerz zersprungen ist. Doch quäl Dich nicht mit dem Gedanken, dass ich gehungert haben könnte, ich war diese ganze Zeit über nicht einmal hungrig. Und außerdem - ich habe mich nicht einsam gefühlt.

Was soll ich Dir über die Menschen hier erzählen, Vitja? Die Menschen verblüffen mich im positiven und im negativen Sinn. Sie sind unglaublich verschieden, obwohl sie das gleiche Schicksal erfahren. Du kannst Dir vorstellen, wenn sich bei einem Gewitter die meisten Leute vor dem Regenguss in Sicherheit bringen wollen, dann heißt das ja auch noch lange nicht, dass diese Leute alle gleich sind. Und außerdem schützt sich jeder auf seine Weise vor dem Regen …

Doktor Sperling ist überzeugt, dass die Judenverfolgungen eine vorübergehende Erscheinung sind und nach dem Krieg aufhören werden. Leute wie ihn gibt es eine ganze Menge, und mir ist aufgefallen, dass die Menschen umso kleinlicher und egoistischer sind, je mehr Optimismus sie noch haben. Wenn irgendjemand während des Mittagessens kommt, verstecken Alja und Fanni Borissowna gleich das Essen.

Sperlings sind gut zu mir, vor allem deshalb, weil ich wenig esse und mehr Lebensmittel heimbringe, als ich verbrauche. Doch ich habe beschlossen, von ihnen wegzuziehen, sie sind mir unangenehm. Ich werde mir einen Winkel suchen. Je größer der Kummer im Menschen ist, desto weniger Hoffnung setzt er auf das Überleben, desto großherziger, gütiger und besser wird er.

Die Armen - Klempner, Schneider, Näherinnen -, die zum Untergang verdammt sind, sind bei weitem dankbarer, großzügiger und verständnisvoller als die, die sich listenreich mit Lebensmitteln eingedeckt haben. Die jungen Lehrerinnen, der verschrobene alte Lehrer und Schachspieler Spielberg, die stillen Bibliothekarinnen, der Ingenieur Reiwitsch, der hilfloser als ein Kind ist und davon träumt, das Ghetto mit selbstgebastelten Granaten auszurüsten - was sind das alles für wunderbare, unpraktische, liebe, traurige, gütige Menschen.

Hier erkenne ich, dass die Hoffnung fast nie etwas mit Vernunft zu tun hat, sie wird wohl aus dem Instinkt geboren.

Die Menschen, Vitja, leben so, als hätten sie noch lange Jahre vor sich. Man darf das weder als Dummheit noch als Klugheit auffassen, es ist einfach so. Und auch ich unterwerfe mich diesem Gesetz. Zwei Frauen aus dem Marktflecken sind hierhergekommen und erzählen das Gleiche, was mir mein Freund erzählt hat. Die Deutschen vernichten im Umkreis alle Juden, ohne Kinder und Greise zu schonen. Die Deutschen und die Polizei kommen in Autos angefahren und holen ein paar Dutzend Männer zur Feldarbeit; die graben tiefe Gräben, und zwei bis drei Tage danach treiben die Deutschen die jüdische Bevölkerung zu diesen Gräben und erschießen alle ohne Ausnahme. Überall in den Marktflecken um unsere Stadt herum wachsen diese jüdischen Hügelgräber aus dem Boden.

Im Nachbarhaus wohnt ein Mädchen aus Polen. Sie erzählt, dass Massaker dort an der Tagesordnung seien; die Juden würden alle bis zum letzten Mann abgeschlachtet, nur in ein paar Ghettos - in Warschau, Łodz und Radom - hätten sich noch Juden erhalten. Als ich das alles überdachte, wurde mir sonnenklar, dass man uns hier nicht versammelt hat, um uns zu erhalten, wie die Wisente im Bjelowescher Naturschutzgebiet, sondern um uns zu schlachten. Planmäßig werden wir in ein, zwei Wochen an die Reihe kommen. Doch stell Dir vor, obwohl ich das begriffen habe, behandle ich die Kranken weiter und sage: 'Wenn Sie die Augen regelmäßig mit der Medizin baden, werden Sie in zwei bis drei Wochen gesund sein.' Ich beobachte einen alten Mann, dem man in einem halben bis einem Jahr vielleicht den Star operativ entfernen muss.

Ich gebe Jura Französischunterricht und ärgere mich über seine falsche Aussprache.

Und gleichzeitig brechen die Deutschen ins Ghetto ein und plündern, die Wachposten schießen zum Vergnügen durch den Drahtverhau auf Kinder, und immer neue Leute bestätigen, dass sich unser Schicksal jeden Tag entscheiden kann.

So geht es eben - die Menschen leben weiter. Neulich hatten wir sogar eine Hochzeit. Gerüchte kommen haufenweise auf. Einmal teilt der Nachbar, vor Freude keuchend, mit, dass unsere Truppen zum Angriff übergegangen seien und die Deutschen in die Flucht gejagt hätten. Dann entsteht plötzlich das Gerücht, die sowjetische Regierung und Churchill hätten den Deutschen ein Ultimatum gestellt und Hitler hätte befohlen, die Juden nicht umzubringen. Dann wieder heißt es, die Juden würden gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht.

Es zeigt sich, dass es nirgendwo so viel Hoffnung gibt wie im Ghetto. Die Welt ist voller Ereignisse, und alle Ereignisse, ihr Sinn und ihre Ursache, laufen immer auf ein und dasselbe hinaus - auf die Rettung der Juden. Was für ein Reichtum an Hoffnungen!

Die Quelle dieser Hoffnungen ist allein der Selbsterhaltungstrieb, der sich, bar jeder Logik, gegen die grauenhafte Unbedingtheit unseres spurlosen Untergangs auflehnt. Ich sehe mich um und kann es nicht glauben - sind wir wirklich alle zum Tode Verurteilte, die auf ihre Hinrichtung warten? Die Friseure, Schuster, Schneider, Ärzte und Ofensetzer, alle arbeiten sie. Es ist sogar ein kleines Entbindungsheim aufgemacht worden, vielmehr der schwache Abklatsch eines Entbindungsheims. Wäsche trocknet, Wäsche wird gewaschen, das Mittagessen wird gekocht, die Kinder gehen seit dem ersten September in die Schule, und die Mütter erkundigen sich bei den Lehrern nach den Noten ihrer Kinder.

Der alte Spielberg hat ein paar Bücher neu binden lassen. Alja Sperling macht morgens Gymnastik und dreht sich vor dem Schlafengehen die Haare auf Lockenwickler auf, streitet sich mit dem Vater herum, weil sie irgendwelche Stoffe für zwei Sommerfähnchen haben will.

Auch ich bin von morgens bis abends beschäftigt, mache Krankenbesuche, gebe Stunden, stopfe, wasche, bereite mich auf den Winter vor und unterlege meinen Herbstmantel mit Watte. Ich höre mir Berichte an über Strafmaßnahmen, die gegen Juden verhängt wurden: Eine Bekannte, die Frau eines Rechtsberaters, wurde bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt, weil sie ein Entenei für ihr Kind gekauft hatte; einem Buben, dem Sohn des Provisors Sirota, haben sie die Schulter durchschossen, weil er versucht hatte, unter dem Stacheldraht durchzukriechen, um seinen weggerollten Ball zu holen. Und immer wieder Gerüchte, Gerüchte, Gerüchte.

Was jetzt kommt, ist kein Gerücht. Heute haben die Deutschen achtzig junge Männer zur Arbeit getrieben, angeblich zum Kartoffelgraben; einige haben sich gefreut, sie könnten vielleicht ein paar Kartoffeln für die Angehörigen mit heimbringen. Doch ich habe begriffen, von welchen Kartoffeln die Rede ist.

Die Nacht im Ghetto ist eine besondere Zeit, Vitja. Weißt Du, mein Freund, ich habe Dich immer dazu angehalten, mir die Wahrheit zu sagen; der Sohn muss seiner Mutter immer die Wahrheit sagen. Doch auch die Mutter muss ihrem Sohn die Wahrheit sagen. Denk nicht, Vitjenka, dass Deine Mama ein starker Mensch sei. Ich bin schwach. Ich habe Angst vor Schmerzen und bin feige, wenn ich im Zahnarztstuhl sitze. Als Kind hatte ich Angst vor dem Donner und fürchtete mich vor der Dunkelheit. Als alte Frau fürchtete ich Krankheit und Einsamkeit, hatte Angst davor, krank zu werden, weil ich dann nicht mehr arbeiten könnte und Dir zur Last fallen würde und Du mich das vielleicht spüren ließest. Ich hatte Angst vor dem Krieg. In den Nächten jetzt, Vitja, packt mich solches Grauen, dass mir das Herz zu Eis erstarrt. Auf mich wartet der Tod. Ich möchte Dich zu Hilfe rufen.

Als Kind bist Du einmal Schutz suchend zu mir gerannt. Und nun möchte ich in schwachen Minuten meinen Kopf in Deinem Schoß verbergen, damit Du, der Kluge und Starke, mich verteidigst, mich schützt. Meine Seele ist nicht immer stark, Vitja, sie ist auch schwach. Oft denke ich an Selbstmord, ich weiß nicht, was mich davon abhält - Schwäche, Stärke oder einfach sinnlose Hoffnung.

Genug davon. Ich schlafe ein und sehe Traumbilder. Oft sehe ich meine verstorbene Mutter und spreche mit ihr. Heute Nacht sah ich im Traum Alexandra Schaposchnikowa, als wir zusammen in Paris lebten. Doch Dich habe ich noch kein einziges Mal im Traum gesehen, obwohl ich ständig an Dich denke, sogar in den schlimmsten Augenblicken der Angst. Ich wache auf und sehe plötzlich diese Zimmerdecke, dann fällt mir ein, dass auf unserem Boden die Deutschen sind, dass ich eine Aussätzige bin, und mir scheint, dass ich nicht aufgewacht, sondern im Gegenteil eingeschlafen bin und träume.

Doch nach ein paar Minuten höre ich, wie sich Alja und Ljuba darüber streiten, wer an der Reihe sei, zum Brunnen zu gehen, höre die Leute darüber sprechen, dass die Deutschen nachts in der Nachbarstraße einem alten Mann den Schädel eingeschlagen haben.

Eine Bekannte, Studentin an der Lehrerbildungsanstalt, kam zu mir und holte mich zu einem Kranken. Es stellte sich heraus, dass sie einen Leutnant versteckt hält, der an der Schulter verwundet ist und dessen Auge verbrannt ist. Ein sympathischer und abgequälter junger Mann mit dem Akzent eines Wolgarussen. Er hatte sich in der Nacht durch den Drahtverhau gearbeitet und im Ghetto Zuflucht gefunden. Sein Auge war nicht allzu stark beschädigt; es gelang mir, den Eiterungsprozess zu stoppen. Er erzählte viel über die Kämpfe, über die Flucht unserer Truppen und hat mich damit traurig gemacht. Er will sich erholen und dann durch die Frontlinie gehen. Es werden noch ein paar junge Burschen mit ihm ziehen, einer davon war mein Schüler. Ach, Vitjenka, wenn ich nur mit ihnen gehen könnte! Ich habe mich so gefreut, als ich diesem jungen Mann helfen konnte; ich hatte dabei das Gefühl, dass auch ich am Krieg gegen den Faschismus teilnehme.

Sie brachten ihm Kartoffeln, Brot und Bohnen, und ein altes Mütterchen hat ihm Wollsocken gestrickt.

Heute geht es den ganzen Tag dramatisch zu. Am Tag zuvor hat Alja durch eine russische Bekannte den Pass eines im Krankenhaus gestorbenen russischen jungen Mädchens erhalten. In der Nacht wird Alja fortgehen. Und heute haben wir von einem uns bekannten Bauern, der am Ghettozaun vorbeifuhr, erfahren, dass die Juden, die zum Kartoffelgraben getrieben worden waren, vier Werst außerhalb der Stadt, neben dem Flugplatz an der Straße nach Romanowka, tiefe Gräben ausheben. Präg Dir diesen Namen gut ein, Vitja, dort wirst Du das Massengrab finden, in dem Deine Mutter liegen wird.

Sogar Sperling hat alles begriffen; den ganzen Tag über ist er bleich, seine Lippen zittern, und er fragt mich verstört: 'Gibt es eine Hoffnung, dass sie Spezialisten am Leben lassen?' Man erzählt sich, dass tatsächlich in einigen Flecken die besten Schneider, Schuster und Ärzte nicht hingerichtet wurden.

Und dennoch hat Sperling abends den alten Ofensetzer kommen lassen, und der hat in die Wand ein Versteck für Mehl und Salz gemacht. Und ich habe abends mit Jura die 'Lettres de mon moulin' gelesen. Erinnerst Du Dich, als wir beide laut meine Lieblingserzählung 'Les vieux' lasen, einander ansahen, lachten und uns beiden die Tränen in den Augen standen? Darauf habe ich Jura Hausaufgaben für übermorgen aufgegeben. Es muss so sein. Doch wie war mir zumute, als ich das traurige Gesicht meines Schülers betrachtete, seine Finger, die in das Heftchen die Nummern der ihm aufgegebenen Grammatikparagrafen eintrugen.

Wie viele dieser Kinder gibt es: wunderschöne Augen, dunkle Locken; es sind wahrscheinlich künftige Gelehrte, Physiker, Medizinprofessoren, Musiker, vielleicht auch Dichter unter ihnen.

Ich sehe zu, wie sie morgens in die Schule rennen, unkindlich ernsthaft und mit weit aufgerissenen, tragischen Augen. Manchmal fangen sie an, zu toben und zu raufen und lauthals zu lachen, doch das macht einen nicht froher, man wird nur von Grauen gepackt.

Es heißt, Kinder seien unsere Zukunft. Doch was sagst Du zu diesen Kindern? Es wird ihnen nicht vergönnt sein, Musiker, Schuster oder Zuschneider zu werden. Heute Nacht habe ich mir ganz deutlich vorgestellt, wie diese ganze lärmende Welt voller bärtiger, sorgenvoller Familienväter und griesgrämiger alter Mütterchen, die Honigkuchen und weiches Konfekt zaubern, diese Welt der Hochzeitsbräuche, Sprichwörter und Sabbatfeiertage für immer unter der Erde verschwinden wird. Nach dem Krieg wird das Leben neu erstehen, doch uns wird es nicht mehr geben, wir sterben aus wie die Azteken.

Der Bauer, der uns die Nachricht vom Ausheben der Gräber gebracht hat, berichtet, dass seine Frau nachts geweint und laut gejammert habe: 'Sie nähen und sind Schuster und verarbeiten Leder und reparieren Uhren und verkaufen in der Apotheke Arznei … was wird nur sein, wenn man sie alle umgebracht hat?'

Und ebenso deutlich sehe ich, wie jemand, an den Trümmern vorübergehend, einmal sagen wird: 'Erinnerst du dich, hier wohnten mal Juden, der Ofensetzer Boruch. Am Samstagabend saß seine Alte auf der Bank, und neben ihr spielten Kinder.' Und der Zweite wird sagen: 'Und dort, unter dem alten Birnbaum, saß immer die Ärztin, ich habe ihren Namen vergessen, ich hab mir mal von ihr die Augen behandeln lassen, nach der Arbeit trug sie immer einen Korbstuhl hinaus und saß mit einem Buch im Freien.' So wird es sein, Vitja.

Als habe ein Pesthauch die Gesichter gestreift, so spüren es jetzt alle, dass es zu Ende geht.

Vitjenka, ich möchte Dir sagen … nein, das nicht, das nicht.

Vitjenka, ich beschließe diesen Brief, bringe ihn an den Ghettozaun und übergebe ihn meinem Freund. Es fällt mir nicht leicht, diesen Brief abzubrechen, er ist mein letztes Gespräch mit Dir. Wenn ich den Brief übergebe, gehe ich endgültig von Dir, Du wirst niemals mehr etwas über meine letzten Stunden erfahren. Dies ist unser allerletzter Abschied. Was soll ich Dir zum Abschied vor der ewigen Trennung sagen? In diesen Tagen, wie auch in meinem ganzen Leben, warst Du meine Freude. In den Nächten rief ich mir Dich in Erinnerung, Deine Kinderkleider, Deine ersten Bücher, erinnerte mich an Deinen ersten Brief, Deinen ersten Schultag; an alles, alles erinnerte ich mich, von Deinen ersten Lebenstagen an bis zu dem letzten Lebenszeichen von Dir, dem Telegramm, das ich am 30. Juni bekommen habe. Ich schloss die Augen, und mir war, als nähmst Du mich vor dem heranrückenden Grauen in Schutz, mein Freund. Und wenn ich mich wieder auf das besann, was um mich herum geschah, dann freute ich mich, dass Du nicht an meiner Seite bist - möge das furchtbare Schicksal an Dir vorübergehen!

Vitja, ich war immer einsam. In schlaflosen Nächten weinte ich vor Kummer. Das hat wohl niemand gewusst. Ich fand Trost in dem Gedanken, dass ich Dir einmal von meinem Leben erzählen würde. Ich wollte Dir erzählen, warum ich mich von Deinem Vater scheiden ließ, warum ich lange Jahre allein gelebt habe. Oft dachte ich: Wie wird sich Vitja wundern, wenn er erfährt, dass seine Mutter Fehler gemacht, sich dumm angestellt hat und eifersüchtig war, dass man auf sie eifersüchtig war, dass sie so war, wie alle jungen Frauen sind. Doch es ist mein Schicksal, mein Leben einsam zu beschließen, ohne mich Dir anvertraut zu haben. Manchmal glaubte ich, dass ich nicht so fern von Dir leben dürfe. Allzu sehr liebte ich Dich und dachte, dass mir die Liebe das Recht gäbe, im Alter bei Dir zu sein. Manchmal glaubte ich wieder, dass ich nicht mit Dir zusammenleben dürfe, allzu sehr liebte ich Dich.

Na, enfin … Sei immer glücklich mit denen, die Du liebst, die um Dich sind, die Dir näher als die Mutter geworden sind. Vergib mir!

Von der Straße ist das Weinen einer Frau und das Fluchen von Polizisten zu hören; ich betrachte diese Seiten und habe das Gefühl, dass ich vor der grauenvollen, leiderfüllten Welt geschützt bin.

Wie soll ich diesen Brief beenden? Woher soll ich die Kraft nehmen, mein lieber Sohn? Hat der Mensch denn Worte, die meine Liebe zu Dir ausdrücken könnten? Ich küsse Dich, Deine Augen, Deine Stirn, Dein Haar.

Denk daran, dass immer, in Tagen des Glücks und in Tagen des Kummers, die Liebe Deiner Mutter bei Dir ist; diese Liebe vermag niemand zu ermorden.

Vitjenka … dies ist die letzte Zeile des letzten Briefes Deiner Mutter an Dich. Lebe, lebe, lebe ewig … Mama."

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#7

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 20.04.2010 20:13
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ja, das ist der Brief der Jüdin Anna Semjonowna Strum an ihren Sohn Viktor Pawlowitsch Strum (durch die Heirat mit Ljudmila ein Teil der Familie Schaposchnikow.) Gerade hier würde man so gerne in den ersten Teil hineinlesen, weil angedeutet wird, dass sich die Mutter von Viktor und Ljudmila zerstritten haben. Letztere ist sehr oberflächlich und will ihren "Haushalt" zusammenhalten, bis ihr Sohn aus erster Ehe stirbt und sich ihre Ansichten auf einmal umkehren. Da sitzt sie unter den Soldaten - auf dem Weg zu ihrem sterbenden Sohn - und sieht, wie unsinnig ihr vorheriges Denken war. (Sie verliert dann auch fast den Verstand. - Obwohl ich glaube, dass man ihn in gewisser Weise in solchen Situationen grundsätzlich verliert.)
(Strum ist übrigens Physiker und muss, trotz seiner bahnbrechenden Arbeit (Atomenergie), mit Anfeindungen und Antisemitismus kämpfen. Auch er muss das stalinistische System hinterfragen und doch in ihm arbeiten, ist angewiesen auf die stalinistische Gunst, um seine Wissenschaft fortzuführen. Ein weiterer, tragischer Konflikt.)

Vielen Dank für das Zitieren, lieber Patmos.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 21.04.2010 22:23 | nach oben springen

#8

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 17.03.2012 16:59
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Gedanken zu Grossmans Werk "Alles fließt"


„Es gibt nur ein Urteil für den Henker – er betrachtet sein Opfer nicht als Mensch und hört selbst auf, Mensch zu sein, in sich selbst richtet er den Menschen hin, und er ist sich selbst der Henker; der Getötete aber bleibt ewig ein Mensch, wie immer man ihn auch töten mag.“



So gemächlich trieb ich noch zuvor in Bykaus Roman „Zeichen des Unheils“ dahin, inmitten der beiden wunderbaren Alten, die einem so sehr ans Herz wachsen, mit denen man mitleidet und voller Anteilnahme deren Trautheit, Streitereien, Kümmernisse und schmerzhaften Momente, ihren Kampf irgendwo abseits von Leben und Welt, auf einem Bauernhof ohne Aufgabe verfolgt, während sie durch der Entstehung des Kolchos, der Entkulakisierung, schließlich von deutschen Besatzern und den eigenen Leuten ausgebeutet und drangsaliert werden und dennoch weitermachen, bis sie schließlich an den dahinschleichenden Ereignissen zu Grunde gehen. Traurig habe ich das Buch geschlossen, war erfüllt von dieser Menschlichkeit und dem liebevollen Blick Bykaus auf das russische Bauernleben und seiner tragischen Umstände.

Das gleiche Thema behandelt auch Wassili Grossman in „Alles fließt“, aber wieviel intensiver. Eine Frage nach der nächsten wird aufgeworfen, ein Leid um das nächste verschlimmert, der Mensch betrachtet, der nie etwas Böses will und so viel Böses tut. Eine Art Rundumblick, wenn auch nicht so ausführlich wie in "Leben und Schicksal", erfolgt, vertieft das Leben in Russland zu jenen schlimmen Zeiten, pendelt sich dabei nicht nur auf dem Land ein, sondern schwingt auch in die Städte und Gemeinschaftswohnungen, in das gesamte Leben der russischen Bevölkerung.

Beginnt man dieses Werk zu lesen, glaubt man, nach den traurigen Ereignissen in „Zeichen des Unheils“, zunächst noch eine Art Erleichterung zu verspüren, folgt in Ruhe dem Treiben auf Moskauer und Leningrader Straßen in Grossmans Zeilen, lauscht auf die Geräusche und Gespräche in den Zügen, auf den Bahnhöfen. Grossman erzählt von Nikolai Andrejewitsch und seinem Verwandten Iwan, der nach etlichen Jahren aus dem Lager zurückkehrt. Beide sehen ihr Leben alleine aus dem eigenen Blickwinkel, Nikolai fühlt sich schuldig, weil er etliche Briefe und Denunziationen unterschrieben, den Judenhass nicht in Frage gestellt, überhaupt wenig getan hat, rechtfertigt all das allerdings durch die Schwierigkeiten der Zeit, dass auch für sie in der Stadt das Leben schwer war, wie für Iwan im Lager, wenn auch auf andere Art und Weise. Iwan dagegen findet alles um sich herum nur stark verändert, irrt zwischen zu großen Gebäuden in Moskau, dann Leningrad umher, hat sich selbst verändert. So vieles war geschehen, das Leben ging irgendwie weiter. Seine geliebte Frau, so stellt er fest, ist nicht tot, wie er durch den fehlenden Briefverkehr vermutete, sondern nur neu verheiratet. Seine Verwandten sind ihm unangenehm. Er kommt in einer Gemeinschaftswohnung unter und findet Arbeit.

Wer ist schuld? – fragt Grossman und führt vier Judas-Beispiele an, um die Denunziationen nachzuvollziehen. Schlummert dieses Verhalten tatsächlich fest verwurzelt im Menschen selbst? Wird er für seine Existenz alles tun, sogar Verrat üben, Menschen in den Tod schicken? Auch Iwan begegnet demjenigen, durch den er verhaftet wurde, allerdings ohne davon Kenntnis zu haben. Der andere wiederum kämpft mit seinem Unbehagen, verliert dieses aber wieder, als er überlegt, was er sich im Restaurant zu essen bestellen soll. Iwan wiederum vergleicht die Menschen vor und hinter dem Stacheldraht und stellt keinen Unterschied fest. Keiner ist frei. Sie alle unterwerfen sich den Bedingungen.

Von Grossman ist man Intensität gewohnt, sein Stil ist sprachgewaltig, die Bilder sind wahnsinnig gelungen und lebendig. Und genau das ist es auch, was dieses Buch so grausam, so intensiv, so erschütternd macht. Unvergesslich ist die Geschichte von Mascha, deren Lagerleben mit allen Schikanen und Leidmomenten ins Bild gerückt wird, erfüllt von Hoffnungen, die sich an den Umständen und Ereignissen gewaltig auftürmen und schließlich in der Erkenntnis ganz und gar zusammensacken und dabei alles mit sich reißen. Ihre Erlebnisse werden so exakt, so gefühlvoll, so ergreifend geschildert, dass der Leser mit den Tränen kämpft.
Was Grossman aufzeigen will, ist eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, die im Gegensatz zum Westen, nicht auf natürliche Entwicklung, sondern in der Bestrafung und im Lagerleben entstand. Frauen waren den gleichen Bedingungen ausgesetzt, Grossman zeigt sogar auf, dass sie noch etwas schlimmer dran waren. Im Lager herrschte Verrohung, Verzweiflung und Vergewaltigung, sowohl durch Männer als auch durch Frauen. Viele von ihnen wurden verbannt, weil sie ihre eigenen Ehemänner nicht verraten hatten oder folgten in die Verbannung, wenn diese verhaftet wurden.
Das alles wird so tragisch geschildert, dass es kaum zu beschreiben ist. Und weiter richtet Grossman dann sein Augenmerk auch auf die Kolchose. Das ganze Leid der Bauern entsteht durch Grossmans Feder wieder auf, die Entkulakisierung, Vertreibung der Alten und Schwachen, der gegenseitige Verrat, die danach überwältigend brutale Zeit des Hungers, in der die Kinder in der Nacht nach Essen kreischen und betteln und die Mütter nicht wissen, woher sie es nehmen sollen, in der die Kinder kein Menschengesicht mehr haben, in der Katzen und Hunde, die längst „wilde Augen bekommen haben“ und den Menschen scheuen, eingekocht und deren Köpfe zu Sülze verarbeitet werden, wo aus dem schneebedeckten Boden Eicheln gegraben und zu Mehl verarbeitet werden, wo alles gefressen wird, was irgendwie in eine Art Nahrung verwandelt werden kann. Das abzuliefernde Korn wird vom Staat lieber auf den Wegen in die Stadt seinem Verfall überlassen, als dass dem Bauern und Kulaken auch nur ein Gramm gegönnt wird, obwohl das Korn doch aus seiner Hände Arbeit geerntet und gewonnen wird. Der Plan muss erfüllt werden, steht weit über Menschenleben, die Felder und Äcker sind kaum nutzbar, der Sold ist unmöglich zu bewältigen. Auch das zieht weitere Verhaftungen und Verbannungen nach sich.
Gerade Grossmans sehr lebendige Sprache beißt dem Leser in die Brust, reißt ihm die Sinne auf. „Die Menschen haben Gesichter wie Erde, die Augen trübe, trunken.“ Sie können nur noch liegen, dann bevölkern nur noch Leichen auf den Betten die kleinen Holzhütten. Die Frage „Warum?“ bleibt ungehört.
Erschütternd ist das Bild der Schlange, die nach einer halben Ewigkeit entsteht, als endlich einmal wieder etwas Brot an die Menschen ausgegeben wird:

Zitat von Grossman
… die Menschen umfassen einander an der Taille und stehen einer an den anderen gepresst. Wenn einer stolpert, schwankt die ganze Schlange, als ob eine Welle hindurchläuft. Und es geht los, wie ein Tanz – hierhin, dorthin. Und stärker. Sie haben Angst, dass die Kraft nicht langt, sich an den Vordermann zu klammern, und dass die Hände aufgehen könnten – und vor Angst fangen die Frauen an zu schreien, und so heult die ganze Schlange, und es scheint, dass sie alle verrückt geworden sind und singen und tanzen.



Das „Kommerzbrot“ aber ist für Hungerleidende dazu auch noch gefährlich. Die meisten Toten finden sich bei der Ausgabe von Brot. „… der Aufgedunsene isst ein Stückchen und – fertig.“ Andernorts steigt auch in vielen Menschen „das Tier hoch“. Mütter fressen ihre Kinder, während sich ihr Geist dabei verdunkelt.

Zitat von Grossman
„Und sie haben doch keine Schuld, Schuld haben die, die eine Mutter so weit gebracht haben, dass sie ihre Kinder frisst. Wirst du denn einen Schuldigen finden – wen du auch fragst: Um des Guten willen, um der Menschheit willen hat man die Mütter soweit gebracht.“



Tolstoi hat einmal gesagt, es gibt keine Schuldigen in der Welt. Grossman kehrt diese Aussage um und sagt: es gibt keinen Unschuldigen (mehr) in der Welt. Wer wegsieht, wer schweigt, wer verrät, wer das Opfer trägt, wer verhaftet oder erschossen wird, wer regiert oder verändern will, keiner ist ganz ohne Schuld. Und doch sind sie alle nur Menschen. Gerade im Leid der Bauern bewahrheitete sich die Kraft der Liebe, wenn sie auch nicht gegen den Tod half. Aber „... wo Hass war, starben die Menschen früher.“

Besonders beeindruckt haben mich Grossmans Betrachtungen am Ende des Buches, über Russland, die russische Geschichte, Lenin und die Macht „Stalin“. Das Ende ist also eher eine Art gewaltiges und schlüssiges Essay. Darin beweist Grossman, dass Russland nie frei sein kann, da es eine Sklavenseele besitzt, die die großen Propheten wie Belinksij, Dostojewski, Gogol und andere missverstanden haben, die davon sprachen, dass Russland irgendwann frei sein wird. Die Menschen waren immer Sklaverei gewohnt, wuchsen in dieser auf, und aus einem solchen Leben kann sich kein freier Mensch erheben, wenn er auch den Gedanken an die Freiheit niemals loslässt. Und selbst wenn sich so eine Seele erheben würde, so bliebe sie doch immer noch Sklavenseele und was kann diese schon der Welt geben und schenken?
Auch Lenin als Privatmensch – freundlich und hilfsbereit -, und als Politiker – grausam, menschenverachtend und rücksichtlos, vielmehr machtbesessen und bereit, für die Macht alles zu tun -, birgt hinter seinem Wesen noch ganz andere Abgründe, die der Mensch durch Vermischung beider Persönlichkeiten nicht gänzlich sichtbar machen kann. Lenin als Mensch dem Politiker gegenübergestellt, lässt einen primitiven, groben, mitleidlosen, aggressiven und kreischenden Charakter entstehen. Das alleine aber reicht nicht aus, um den Menschen zu erkennen. Es war vielmehr der Leninismus, der sich wie die Pest ausbreitete. Der Mensch baute unter Stalin, was er nicht brauchte. Nutzlose Gebäude, Bergwerke, Kanäle. Sie waren dabei auch nicht nur für die Menschen, sondern auch für den Staat völlig nutzlos. Der Grund dafür ist einfach:

Zitat von Grossman
„Dem Staat, den Lenin gegründet und Stalin aufgebaut hatte, lag die Politik und nicht die Ökonomie zugrunde.“



Der Terror verschlang am Ende nicht nur die Menschen, sondern auch den gesamten Staat. Einem abstrakten Prinzip wurde gehuldigt, das menschliche Leben verachtet, Menschen wurden zu Symbolen und gefräßigen Richtlinien.

Zitat von Grossman
„Solche Charaktere hatte es auch in der vorhergehenden Jahrhunderten gegeben, aber das zwanzigste Jahrhundert holte sie hinter den Kulissen hervor und stellte sie auf die Bühne des Lebens.
Dieser Charakter benimmt sich in der Menschheit wie ein Chirurg in den Stationen seiner Klinik – sein Interesse an den Kranken, ihren Vätern, Frauen, Müttern, seine Scherze, seine Diskussionen, sein Kampf gegen die Kinderverwahrlosung und seine Sorge für Arbeiter, die das Rentenalter erreicht haben – das alles ist Nebensache, Kram, Hülle. Seine Seele steckt in seinem Messer.
Das Eigentliche an solchen Menschen liegt im fanatischen Glauben an die Allmacht des Skalpells.“



Ja, in der Allmacht des Skalpells kannte Stalin sich gut aus, und "wo gehobelt wird, fallen Späne". Dazu starb er dann auch noch außerplanmäßig und erschütterte ganz Russland mit seinem Tod ohne Anweisungen. „In dieser Freiheit, dieser Eigenwilligkeit des Todes lag etwas, ein Dynamit, das dem innersten, dem verborgenen Eigentlichen des Staates widersprach. Verwirrung erfasste die Herzen und Gedanken.“ So ist es kein Wunder, dass auch danach keine Befreiung erfolgen konnte, sondern die Gewohnheit sich einfach unter neuen „Gesichtern“ fortsetzte und bis heute andauert.

Ach, aus diesem Buch kann man wohl ewig zitieren. Es ist so tragisch, rührend, so erschütternd und traurig, dass es fast alles schlägt, was ich bisher gelesen habe und für mich eines der wichtigsten Bücher zu diesem Thema ist. Grossman hat mir damit ein Stück weit mehr die Augen geöffnet und ich danke diesem Schriftsteller, dass er den Versuch unternommen hat, all das ins Wort zu fassen, für die Zeiten und für nächste Generationen zu bewahren, dass es ihm auch dazu noch gelingt, die Ereignisse so intensiv und bedrückend zu schildern. Wie seinen anderen Werken beschieden, wurde auch dieses Manuskript in seiner Urform beschlagnahmt. Grossman setzte sich an eine neue Fassung, die dem KGB bei einer Hausdurchsuchung zum Glück entging. „Alles fließt“ wurde im Samisdat vertrieben und gelangte auf diesem Weg auch in den Westen, erschien in mehreren Sprachen.




(Alle Zitate sind der Ausgabe: Wassilij Grossman "Alles fließt", Albrecht Knaus Verlag entnommen.)




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 17.03.2012 18:13 | nach oben springen

#9

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 08.04.2012 11:17
von LX.C • 2.821 Beiträge

Das fließt Danke für den Tipp!


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#10

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 28.05.2012 23:46
von LX.C • 2.821 Beiträge

…oder auch nicht. Ein wirklich eigenartiges Werk, eines, das sich nicht zwischen Roman und gesellschaftsphilosophischer Abhandlung entscheiden kann. Als würde der Autor das Vorhaben, eine Romanhandlung entfalten zu wollen abbrechen und in eine reine Geschichts- und Gesellschaftsanalyse verfallen. Vielleicht wollte er mit dem heimkehrenden Gulag-Gefangenen, der niemanden Schuld zuweist, sein Vorhaben tarnen, ähnlich wie die Widerstandsliteratur im Dritten Reich, die als Scheinromane getarnt die Verbote unterlaufen sollte. Aber das ist wohl eher abwegig.
Aus der Betrachtung exemplarischer Figuren heraus wollte der Autor vermutlich sein Geschichts- und Gesellschaftsbild Russlands entwickeln. Da die Figuren im Kontext des Romananansatzes Fiktion sind und bei aller Realitätsnähe auch bleiben, können sie der sachlichen Abhandlung keinen wirklichen Vorschub leisten. Als exemplarische Figuren versagen sie ihren Dienst, weil der Autor sich nicht entscheiden kann, was er will. Roman oder Sachbuch. Sie bleiben schwach entwickelt, ihre Stränge brechen ab, neue Personen werden später doch noch mal zusammenhangslos eingeführt, eine wirkliche Romanhandlung gibt es aber nicht und ihre Einzelschicksale werden durch die Abhandlung erdrückt, während der man sich wiederum nach einer Weiterentwicklung des Romans sehnt. Mich hat das von dem Buch eher weg geführt, da man sich anfangs schon in die Figuren einarbeitet, die nicht ausgestaltet werden und einen dann plötzlich, scheinbar planlos Mitte des Romans verlassen und gar nicht mehr auftauchen.
Letztlich geht es nicht mehr um die Frage, wer ist Schuld? Sondern um eine Psychologie der Gesellschaft. Das Fazit des Autors: Es gibt keine spezifische Russische Seele. Sie ist ein Mythos im Angesicht der Unterdrückungsgeschichte. Das Volk hat sich aus den Unweiten des rauen Landes, aus den gegebenen natürlichen Unständen so entwickelt, das Volk selbst wäre austauschbar, jedes andere hätte sich unter den natürlichen Umständen Russlands ebenso entwickelt, als Sklavenvolk, so Grossman, dessen Unterdrückung der Lenin- und Stalinismus auf die Spitze getrieben hätten.
Für dieses Buch bedurfte es einen mutigen, couragierten Autor, keine Frage. Und es bietet interessante Einblicke in die Entwicklung Russlands. Ein Roman wie "Zeichen des Unheils" ist mir persönlich dennoch lieber, der weiß was es will und nicht alles wollen muss.


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zuletzt bearbeitet 29.05.2012 00:28 | nach oben springen

#11

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 29.05.2012 21:53
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Zitat von LX.C
Da die Figuren im Kontext des Romananansatzes Fiktion sind und bei aller Realitätsnähe auch bleiben, können sie der sachlichen Abhandlung keinen wirklichen Vorschub leisten. Als exemplarische Figuren versagen sie ihren Dienst, weil der Autor sich nicht entscheiden kann, was er will. Roman oder Sachbuch. Sie bleiben schwach entwickelt, ihre Stränge brechen ab, neue Personen werden später doch noch mal zusammenhangslos eingeführt, eine wirkliche Romanhandlung gibt es aber nicht und ihre Einzelschicksale werden durch die Abhandlung erdrückt, während der man sich wiederum nach einer Weiterentwicklung des Romans sehnt. Mich hat das von dem Buch eher weg geführt, da man sich anfangs schon in die Figuren einarbeitet, die nicht ausgestaltet werden und einen dann plötzlich, scheinbar planlos Mitte des Romans verlassen und gar nicht mehr auftauchen.
Letztlich geht es nicht mehr um die Frage, wer ist Schuld? Sondern um eine Psychologie der Gesellschaft.



Etwas zum Hintergrund:
Das Durcheinander und das Unausgebaute seiner Figuren (oder vielmehr ... der fehlende Zusammenhang der Handlungsstränge) liegt ganz einfach daran, dass sein Originalmanuskript beschlagnahmt wurde und er alles noch einmal aus dem Gedächtnis rekonstruieren musste. Diesen erneuten, böswilligen Eingriff durch das KGB hat Grossman nicht verkraftet. Neben "Alles fließt" wurde auch "Für die gerechte Sache" beschlagnahmt. Grossman starb kurze Zeit darauf. Er hatte noch versucht, den Roman wieder teilweise in Form zu bringen, aber es gelang ihm nur ganz am Rande. Man spürt eben doch die Unvollkommenheit, will man darin alleine den "Roman" sehen. Am Originalmanuskript hatte Grossman mehrere Jahre geschrieben.
Für mich war dieses Werk dennoch oder gerade in seinen Moment-Szenen gewaltig, eindringlich und bewegend, die Hungerszenen, die Lagererfahrungen der Mascha Ljubimowa... Das hat irgendwo alles ausgeglichen. Auch fand ich gut, dass er nicht, wie z. B. Tolstoi, seine philosophisch gesellschaftskritische Abhandlung in den Text gepresst hat, sondern sie einfach ans Ende setzte, so dass der Leser nicht ganz und gar hin und hergerissen wurde.
Um Schuld und die Schuldfrage geht es in diesem Roman in erster Linie. Sie ist eine der zentralen Fragen im Werk.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 29.05.2012 22:52 | nach oben springen

#12

RE: Wassili Grossman

in Die schöne Welt der Bücher 29.05.2012 23:47
von LX.C • 2.821 Beiträge

Wie wichtig es doch sein kann, über die Hintergründe eines Autors bescheid zu wissen ;) - Danke für die Nachlieferung der Fakten. - In den Einzelschicksalen sehe ich auch die Stärke des Werkes. Die sind sehr bewegend und hätten ansich und weiter ausgebaut einen wirklich eingängigen Roman bilden können, der vielleicht mehr Kraft entwickelt hätte, als es der gebetsmühlenartige "Anhang" vermag (auch wenn wir auf den letzten 10 Seiten noch mal kurz Abschied nehmen dürfen von Iwan Grigorjewitsch).
Was die Schuldfrage betrifft, so löst Grossman diese eher in Wohlgefallen auf. Angesichts der natürlichen Gegebenheiten und der historischen Entwicklung Russlands sind alle Schuld und niemand.
Für uns heute, die wir auf diese Zeiten zurückschauen, auf die Ereignisse des 20. Jahrhunderts, ist vielleicht diese Erkenntnis Grossmans wirklich bedeutend,
"daß alles mit Gewalt Geschaffene sinnlos und vergebens ist, ohne Zukunft lebt, spurlos bleibt."
Wenn sein Werk dazu beiträgt, dies zu verinnerlichen, dann war seine Mühe nicht vergeblich.


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zuletzt bearbeitet 29.05.2012 23:57 | nach oben springen


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