HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Heinrich Stillings Jugend
„Heinrich Stillings Jugend“ ist lange her und eigentlich eine längst vergessene Geschichte, hätte sie sich nicht in die Annalen der literarischen Anthropologie festgeschrieben.
Johann Heinrich Jungs autobiographischer Roman von 1777 ist in einer Übergangszeit entstanden, in der herkömmliche Formen der Biographie, die Berufst- und Gelehrtenbiographie sowie die pietistische Selbstbetrachtung durch die psychologische Autobiographie, wie sie in Karl Philipp Moritz „Anton Reiser“ ihren Höhepunkt gefunden, verdrängt wurden. Dieser Übergang spiegelt sich in Jungs Werk in ganz besonderer Weise. Im Fokus stehen die seelischen Zustände des Protagonisten im Verhältnis gesellschaftlicher Geschicke im Dreiklang mit Gott. Wohlgemerkt, Religion wird dabei nicht hinterfragt, wie es beim Vorreiter Adam Bernd und später bei Rousseau und Moritz der Fall ist. Gottesvertreter jedoch kriegt durchaus sein Fett weg.
Heinrich Stilling wird in eine Bauernfamilie hineingeboren, eine Familie, die die zur damaligen Zeit üblichen Hierarchien aufweist. Das Wort des Großvaters ist Gesetz. Dieser ist ein gutherziger Bauer und Kohlebrenner, der das positive Zentrum der Familie bildet und dessen Wort somit gerne befolgt wird.
Er weiß sich nicht nur innerhalb seiner Familie auf gutmütige Art und Weise durchzusetzen, er ist für diese das schützende Bollwerk, ist allgemein ein tugendhafter Mensch und auch über die Dorfgrenzen hinaus ein hoch geachteter Mann.
„‚Ich will doch nicht hoffen, sagte der Pastor, dass ich hier unter dem Schwarm der Bauern speisen soll.’ – Vater Stilling antwortete: ‚Hier speist niemand als ich und meine Frau und Kinder, ist Euch das ein Bauernschwarm?’ – ‚Ei, was anders!’ antwortete jener. – ‚So muss ich Euch erinnern, Herr!’ versetzte Stilling, ‚daß Ihr nichts weniger als ein Diener Christi, sondern ein Pharisäer seid. Er saß bei den Zöllnern und Sündern und aß mit ihnen. Er war überall klein und niedrig und demütig, Herr Pastor! . . . Meine grauen Haare richten sich in die Höhe; setzt Euch oder geht wieder! Hier pocht etwas, ich möchte mich sonst an Eurem Kleide vergreifen, wofür ich doch sonst Respekt habe.’ […] Der Pastor setzte sich, und schwieg still.“ (40)
Seine Gutherzigkeit zeigt sich auch darin, dass er das Glück seiner Kinder nicht gegen Geld aufwiegt. Seinem Sohn Wilhelm erlaubt er, Dorthe, die Tochter eines verarmten Predigers zu heiraten. Dorthe ist eine zartfühlende Frau, die nicht immer recht zur harten Arbeit geeignet, aber in den Herzen der Familie ihren festen Platz einnimmt. Sie stirbt kurz nach der Geburt Heinrichs. Wilhelm führt fortan in Trauer ein streng pietistisches Leben. Sein Sohn Heinrich wächst isoliert in der Stube des Vaters auf. Nur wenige Stunden am Tag darf er sich auf dem Bauernhof frei bewegen, nie die Sichtgrenze seines Vaters verlassen. Wilhelm, der vor der Heirat Dorthes ein Schulmeister war, erzieht ihn tugendhaft, nach Gottes Geboten, bringt ihm früh das Lesen, nach seinem Vermögen die Christen- und andere Lehren bei. So isoliert entwickeln sich allerlei Eigenheiten an Heinrichs Verhaltensweisen, durchaus produktive, wie der Rückzug in Phantasiewelten, oder die Herausbildung einer ihm eigenen oftmals schützenden Urteilskraft. Aber auch schlechte, wie das Lügen, mit dem er sich der Kontrolle und den Strafen des strengen Vaters entziehen will, der seinen der Mutter gleichenden Sohn trotz aller Strenge von Herzen liebt.
Auch in den Gepflogenheiten der Außenwelt weiß Heinrich sich durch die Umstände seiner Erziehung wenig zurechtzufinden. So geht er naiv, aber auch ungezwungen an die Menschen heran, was nicht nur bei Nachbar Stähler zu allerhand Erstaunen führt.
„Stähler sah ihn an und sagte: ‚Heinrich, was machst du da?’
‚Ich lese.’
‚Kannst du denn schon lesen?’
Heinrich sah ihn an, verwunderte sich und sprach: ‚Das ist ja eine Dumme Frage, ich bin ja ein Mensch!’ – Nun las er hart, mit Leichtigkeit, gehörigem Nachdruck und Unterscheidung. Stähler entsetzte sich und sagte: ‚Hol mich der T[eufel]! So was hab’ ich mein Lebtag nicht gesehen.’ Bei diesem Fluch sprang Heinrich auf, zitterte und sah schüchtern um sich; wie er endlich sah, daß der Teufel ausblieb, rief er: ‚Gott, wie gnädig bist du!’ – trat darauf vor Stähler und sagte: ‚Mann! Habt ihr den Satan gesehen?’ – ‚Nein’, antwortete Stähler. ‚So ruft ihn nicht mehr’, versetzte Heinrich und ging in eine andere Kammer.“ (64)
Auch Pastor Stollbein erkennt Heinrichs außerordentliche Begabung, als er zu Besuch ist. Er nimmt sich seiner fördernd an. So findet Wilhelm endlich in ein normales Leben zurück und Heinrich den Weg zur Lateinschule.
Die Lateinschule ist ihm das Tor zur Welt. Doch es zeichnet sich früh ab, dass er sich fortan in einer unablässigen Zwickmühle zwischen Wollen und Dürfen, Sehnsüchten und Schranken befindet. Schranken, in die er immer wieder durch seine seelischen Dispositionen und durch gesellschaftliche Konventionen verwiesen wird.
„‚Ich glaub’, Du hast wohl den Pastor im Kopf?’“ Ruft Stollbein dem Heinrich, den Rohrstock in der Hand aufgebracht zu, als er das Kind als Pastor verkleidet beim Predigen erwischt.
„‚Ich hab’ kein Geld zu studieren.’
‚Du sollst nicht Pastor, sondern Schulmeister werden!’
‚Das will ich gern, Herr Pastor! Aber wenn unser Herrgott nun haben wollte, daß ich Pastor oder ein anderer gelehrter Mann werde, muß ich dann sagen: Nein, lieber Gott! Ich will Schulmeister bleiben, der Herr Pastor will’s nicht haben?’
‚Halt’s Maul, Du Esel! Weißt du nicht, wen du vor dir hast?’“ (104)
Gott und Literatur bieten da stabilisierende Fixpunkte und einen festen Halt. Halt, der ihm zunehmend auch auf familiärer Ebene verwehrt bleibt. Die häusliche Idylle löst sich auf, als die Leitfigur, der Großvater stirbt. Ein Onkel übernimmt den Hof. Nicht Glück, sondern Geld steht ab sofort im Vordergrund. Die Großmutter erblindet. Auch der Vater Heinrichs, der sich neu verheiratet hat, verhärtet aus Geiz und Geldnöten zunehmend gegen den Sohn, der unfähig scheint, sich als Schulmeister fest zu etablieren und darüber hinaus seinen festen Platz in der Gesellschaft zu finden, geschweige denn zu behaupten.
Ähnlich wie Heinrich geht es nun also, wie anfangs angedeutet, dem Werk selbst. Es hat die Kraft den Leser zu verzaubern und kann sich doch so schwer behaupten. Dabei lässt sich die hier vorliegende Symbiose aus Was und Wie, die Literatur zweifelsfrei ausmacht, kaum madig machen. Man wird in eine Lebenswelt hinein gesogen, die sich durch einen adäquaten Sprachstil wie ein Zeitfenster vor Augen entfaltet. Eine Zeit, die mit unserer schnelllebigen, ganz klar, nichts mehr gemein hat. Dieses Stück Prosa ist Entschleunigung, ist Stillstand und Eskapismus im positivsten Sinne. Jung ist 1740 geboren worden, seine Erzählung setzt kurz vorher an und endet etwa 1762 mit dem Auszug Heinrichs in die Welt.
Es schließen zwei weitere Bände an, die keineswegs mehr die Intensität „Heinrich Stillings Jugend“ erreichen sollen und die man sich vermutlich sparen kann.
Der erste Teil jedoch, von dem hier die Rede ist, ist eine eigenartige Mischung aus einer Galanterie Goethes, auf den Jung in Straßburg traf und der ihm bei der Umsetzung dieses Werkes geholfen hat, und einem der Zeit ganz eigentümlichen Duktus. Gemeint sind Eigenheiten im Sprachstil des Erzählers, die sich Goethe niemals erlaubt hätte, die Jung jedoch nicht mit künstlicher Affektiertheit zu verstecken sucht.
Die Charaktere selbst sind mit viel Detailreichtum und Anekdoten ausgeschmückt und liebevoll gezeichnet. Hinzu kommen zahlreiche Märchen, Sagen und Gedichten, die Jung eingeflochten hat, die das Volkstümliche noch hervorheben, aber auch einen interessanten Einblick in die untergegangene Welt oraler Literarizität ermöglichen.
Formal sei noch angemerkt, dass sich Jungs autobiographische Prosa wie bei Moritz in Er-Form präsentiert. Es lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren, warum ein Autor gerade diese Form für die Präsentation seines Lebens wählt. Nahe liegt, dass eine Distanz gewahrt bleibt, die eine getreue Darstellung ermöglicht, ohne sich selbst bloßgestellt fühlen zu müssen, aber auch, ohne sich unbewusst größer machen zu müssen, als es die Umstände erlauben. Zudem können fiktionale Hilfestellungen leichter von der Hand gehen, mit denen sich Lücken schließen lassen, oder auch eine dienliche Ordnung hergestellt werden kann.
„Heinrich Stillings Jugend“ zu lesen bedarf es wenig und doch gibt einem das Büchlein so viel wie Literatur nur zu geben hat. Es macht die Nichtigkeiten des heute durchgetakteten Lebens vergessen, es versetzt in eine ganz eigene Welt und über sie wieder zurück ins eigene Ich.
Aber was ist schon an diesem floskelhaften Rezensionsgeschwafel. Diese Worte sind für die einen zu wenig und für die anderen doch schon wieder zu viel, denn die Glückseeligkeit, „mit anzusehen und alles mit den handelnden Personen zu empfinden“, das werden die ohnehin und ohnehin nur die empfinden, „die ein Stillings-Herz haben.“ (142)
Zitate: Jung, Johann Heinrich: Heinrich Stillings Jugend, Vorländer, Siegen 1982.
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[i]Poka![/i]
RE: Johann Heinrich Jung
in Die schöne Welt der Bücher 09.06.2010 10:39von Patmöser • 1.121 Beiträge
Zitat
„Heinrich Stillings Jugend“ zu lesen bedarf es wenig und doch gibt einem das Büchlein so viel wie Literatur nur zu geben hat.
Danke, LC.X, du hast mich endgültig überzeugt, dieses Buch endlich einmal zu lesen.
Muss ich zwar die doch schon etwas angelockerte Blockade meines, selbstunauferlegten, Bücherkaufsverbotes durchbrechen, aber eigentlich ist das des täglichen Bücherheinis - Gewohnheitsrecht.